Schweitzer Fachinformationen
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VORWORT
Ich begann Der Maler der fließenden Welt im September 1981 in einer Kellerwohnung im Londoner Shepherd's Bush. Ich war sechsundzwanzig Jahre alt. Mein erster Roman Damals in Nagasaki wurde zwar gerade zur Veröffentlichung vorbereitet, aber zu dem Zeitpunkt gab es für mich keinerlei vernünftigen Grund, davon auszugehen, ich hätte ein Leben als Vollzeitschriftsteller vor mir.
Lorna und ich waren in jenem Sommer nach London zurückgekehrt (wir hatten zuvor in Cardiff gelebt), wir hatten neue Jobs in der Hauptstadt, aber noch keine Wohnung gefunden. Wenige Jahre zuvor waren wir beide Teil eines losen Netzwerks von jungen, links gerichteten, alternativen Leuten gewesen, die in der Gegend von Ladbroke Grove und Hammersmith in Wohnungen mit kurzen Mietverträgen lebten und für gemeinnützige Projekte oder Aktionsgruppen arbeiteten. Heute erscheint es seltsam, wie sorglos wir waren, als wir in jenem Sommer in der Stadt auftauchten und darauf vertrauten, wir könnten, bis wir eine passende Wohnung aufgetan hätten, in der einen oder anderen Hausgemeinschaft unterkommen. Wie sich herausstellte, passierte nichts, was unsere Gelassenheit herausgefordert hätte, und schon bald fanden wir eine kleine Untergeschosswohnung direkt an der belebten Goldhawk Road.
Die Wohnung lag neben den Tonstudios der damals angesagten Virgin Records, und oft sahen wir große langhaarige Männer Equipments in das fensterlose, bunt bemalte Gebäude hinein- und von dort hinausschleppen. Doch die Schalldämmung war beispielhaft, und wenn ich an unserem Esstisch saß, den winzigen Garten im Rücken, befand ich mich in einer Umgebung, die sich zum Schreiben bestens eignete.
Lorna hatte bei Weitem den längeren Weg zur Arbeit, zu ihrer neuen Stelle als Sozialarbeiterin bei der Gemeinde Lewisham am anderen Ende der Stadt. Meine Arbeit lag nur einen Steinwurf entfernt - ich war »Helfer für Wiedereingliederung« bei den West-Londoner Cyrenians geworden, einer hoch angesehenen Organisation, die mit Obdachlosen arbeitet. Wir trafen eine Vereinbarung, um die Sache gerechter zu gestalten: Wir würden jeden Morgen gemeinsam aufstehen, und wenn Lorna zur Tür hinausginge, würde ich mich an den Tisch setzen und meine frühmorgendlichen neunzig Minuten schreiben, ehe ich zu meiner eigenen Arbeit aufbräche.
Viele großartige Werke sind von Schriftstellern geschaffen worden, die einem herausfordernden Beruf nachgingen. Doch ich war immer erbärmlich, nahezu krankhaft unfähig, meine Aufmerksamkeit aufzuspalten, und jene Wochen, in denen ich mich bemühte, am Esstisch zu schreiben, während die Sonne langsam höher stieg und unser Untergeschoss mit Licht erfüllte, sind bis heute mein einziger Versuch geblieben, »Teilzeitautor« zu sein. Das war nicht unbedingt ein Erfolg. Ich ertappte mich dabei, dass ich auf die weißen Blätter starrte und gegen das dringende Bedürfnis ankämpfte, mich wieder ins Bett zu legen. (Mein Tagesjob forderte mich rasch intensiv und zwang mich oft, bis spät in die Nacht zu arbeiten.) Daran änderte auch Lornas Beharrlichkeit nichts, dass ich jeden Tag mit einem absonderlichen Frühstück beginnen sollte, das aus gruselig grobkörnigen Ballaststoffen bestand, über die Hefe und Weizenkeime gestreut wurden - eine Mischung, die bewirkte, dass ich mich manchmal auf meinem Stuhl zusammenkrümmte. Und dennoch geschah es während dieser Stunden, dass mir der Kern - die Story und die zentrale Prämisse - von Der Maler mehr oder weniger vollständig ausgeformt in den Sinn kam. Es gelang mir, die Geschichte auf fünfzehn Seiten (später in Granta unter dem Titel »The Summer after the War« veröffentlicht) niederzuschreiben, aber da wusste ich bereits, dass ich eine viel umfangreichere, komplexere Architektur bräuchte, um die Idee in den Roman einzubauen, der sich in meiner Fantasie bereits reizvoll abzeichnete. Doch dann bereiteten die Anforderungen meines Jobs meinen morgendlichen Schreibstunden ein Ende.
Ernsthaft kehrte ich zu Der Maler erst im Winter 1982 zurück. Unterdessen war Damals in Nagasaki mit - für einen Erstlingsroman - ordentlichem Wirbel erschienen. Das Buch hatte Verleger in den USA und in mehreren anderen Sprachräumen gefunden und mich auf die neu lancierte Granta-Liste der zwanzig besten, jungen britischen Romanciers gebracht, die im folgenden Frühjahr vorgestellt werden sollten. Meine Schriftstellerkarriere schien noch immer heikel, aber nun hatte ich Anlass zur Zuversicht und kündigte meine Stelle bei den Cyrenians, um Vollzeitschriftsteller zu werden.
Wir siedelten nach Süd-Ost-London um und bezogen die oberste Etage eines hohen viktorianischen Hauses in einer ruhigen Gegend von Upper Sydenham. In unserer Küche fehlte eine Spüle, sodass wir das schmutzige Geschirr auf einen alten Teewagen packen und ins Badezimmer karren mussten. Aber wir wohnten nun näher an Lornas Arbeitsstelle, und der Wecker schellte sehr viel später. Die gruseligen Frühstücke hatten ein Ende. Das Haus gehörte Michael und Lenore Marshall, einem wunderbaren Ehepaar Anfang sechzig, das unten wohnte, und rasch wurde es zur Gewohnheit, dass wir uns am Ende eines jeden Arbeitstags in ihrer Küche trafen (die eine Spüle hatte), um miteinander Tee zu trinken, Mr-Kipling-Kuchen zu essen und oft ausschweifende, vergnügte Gespräche über Bücher, Politik, Cricket, die Werbebranche, die Exzentrik der Engländer zu führen. (Nach Lenores überraschendem Tod, wenige Jahre später, widmete ich ihr zum Gedenken Was vom Tage übrig blieb.) Etwa um dieselbe Zeit wurde mir ein Job bei Channel 4 angeboten, der in Kürze sein Programm aufnehmen sollte, und diese Erfahrung als TV-Drehbuchautor (letztendlich wurden auf diesem Kanal nur ganze zwei Filme von mir gesendet) hatte bedeutsame, wenn auch gegenteilige Auswirkungen auf mein Schreiben von Der Maler.
Ziemlich besessen verglich ich meine Drehbücher - insbesondere die Dialoge und dazugehörigen Regieanweisungen - seitenweise mit meinem veröffentlichten Roman und fragte mich: »Unterscheidet sich meine Fiktion ausreichend von einem Drehbuch?« Große Teile von Damals in Nagasaki erschienen mir einem Drehbuch entsetzlich ähnlich - Dialog, gefolgt von einer »Anweisung«, wiederum gefolgt von Dialog. Ich war ernüchtert. Warum sich die Mühe machen, einen Roman zu schreiben, wenn er doch mehr oder weniger die gleiche Erfahrung bot, die man beim Einschalten des Fernsehers machen konnte? Wie sollte der Roman, als Form, gegen die Macht des Kinos und des Fernsehens aufs Überleben hoffen, wenn er nicht etwas Einzigartiges zu bieten hat, etwas, das die anderen Formen so nicht können? (In den frühen Achtzigerjahren, das sollte ich betonen, schien es dem zeitgenössischen Roman deutlich schlechter zu gehen als heute.) Ich hatte seit jenen morgendlichen Anstrengungen in Shepherd's Bush eine klare Vorstellung von der Geschichte, die ich schreiben wollte. Aber in Sydenham trat ich nun in eine lange Phase des Experimentierens, auf welche Weise ich sie erzählen würde. Ich hatte mir fest vorgenommen, dass mein neuer Roman kein »Drehbuch in Prosa« werden sollte. Aber was könnte er dann sein?
Zu der Zeit schnappte ich einen Virus auf und lag ein paar Tage im Bett. Als ich das Schlimmste überstanden hatte und nicht mehr stundenlang schlief, entdeckte ich, dass es sich bei dem Buch, das ich mit ins Bett genommen hatte, bei dem Gegenstand, der in meinen Bettbezug geraten war, um den ersten Band der kürzlich erschienenen Proust-Übersetzung Remembrance of Things Past von Kilmartin-Moncrieff handelte. Möglicherweise hat der Umstand meines Krankseins diesem Werk einen besonderen Rahmen gegeben (ich war damals kein bedingungsloser Proust-Anhänger und bin es auch heute nicht: Ich finde weite Strecken seines Schreibens schrecklich langweilig), aber die »Overture« und »Combray« fesselten mich. Immer wieder las ich sie. Ganz abgesehen von der sublimen Schönheit dieser Passagen begeisterte mich das, was ich damals in Gedanken (und später in meinen Aufzeichnungen) die Proust'schen »Methoden der Bewegung« nannte - die Mittel, mit denen er die Übergänge von einer Episode zur nächsten gestaltete. Die Anordnung der Ereignisse und Szenen folgte nicht den Anforderungen der Chronologie und ebenso wenig denen einer sich linear entfaltenden Handlung. Stattdessen schienen sprunghafte Gedankenassoziationen oder die Launen der Erinnerung den Roman von einem Teil zum nächsten voranzutreiben. Manches Mal führte allein schon die Tatsache, dass die gegenwärtige Episode durch die vorherige ausgelöst wurde, zu der Frage: »Warum?« Aus welchem Grund standen diese scheinbar unverbundenen Momente im Kopf des Erzählers nebeneinander? Ich entdeckte nun eine aufregende, freiere Möglichkeit, meinen Roman zu komponieren; eine, mit der ich Fülle auf jede Seite bringen und innere Bewegungen zeigen könnte, die auf einem Bildschirm oder einer Leinwand unmöglich darzustellen wären. Würde ich also mit Gedankenassoziationen und schweifenden Erinnerungen des Erzählers von einer Passage zur anderen übergehen, so könnte ich nahezu auf die Weise komponieren, wie ein abstrakter Maler Formen und Farben auf einer Leinwand anordnet. Ich könnte eine Szene von zwei Tagen zuvor direkt neben eine von vor zwanzig Jahren stellen und den Leser auffordern, über die Beziehung zwischen beiden nachzusinnen. Oft würde nicht einmal der Erzähler die tieferen Gründe für eine bestimmte Reihung wissen müssen. Ich sah eine Art des Schreibens vor mir, welche die vielen Schichten der Selbsttäuschung...
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