Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
1
Niki, der Name, den wir meiner jüngeren Tochter schließlich gaben, ist keine Abkürzung. Es war ein Kompromiss, den ich mit ihrem Vater schloss. Denn seltsamerweise war er es, der ihr einen japanischen Namen geben wollte, während ich - vielleicht aus dem eigennützigen Wunsch, nicht an die Vergangenheit erinnert zu werden - auf einem englischen bestand. Er war schließlich einverstanden mit Niki, weil er fand, dieser Name habe irgendwie einen östlichen Klang.
Sie besuchte mich Anfang des Jahres, im April, als die Tage noch kalt und feucht waren. Vielleicht hatte sie länger bleiben wollen, ich weiß es nicht. Aber mein Landhaus und die Stille hier machten sie nervös, und ich merkte bald, dass sie sich nach ihrem Londoner Leben zurücksehnte. Ungeduldig hörte sie sich meine klassischen Schallplatten an und blätterte Zeitschriften durch. Sie wurde oft angerufen. Dann schritt sie, die schmächtige Gestalt in enge Kleider gezwängt, über den Teppich und schloss sorgsam die Tür hinter sich, damit ich das Gespräch nicht mithören konnte. Nach fünf Tagen reiste sie ab.
Sie erwähnte Keiko erst am zweiten Tag. Es war ein grauer, windiger Morgen, und wir hatten die Sessel näher ans Fenster gerückt, um zuzusehen, wie draußen im Garten der Regen fiel.
»Hattest du erwartet, dass ich dort sein würde?«, fragte sie. »Bei der Beerdigung, meine ich.«
»Nein, ich glaube nicht. Ich habe nicht gedacht, du würdest kommen.«
»Ich war ganz durcheinander, als ich es hörte. Ich wäre fast gekommen.«
»Ich habe nie erwartet, dass du kommen würdest.«
»Die Leute wussten gar nicht, was mit mir los war«, sagte sie. »Ich habe es keinem erzählt. Ich glaube, es war mir peinlich. Sie hätten es nicht verstanden, sie hätten nicht begriffen, wie mir dabei zumute war. Schwestern, meint man immer, stehen sich nahe, nicht wahr. Auch wenn man sich nicht besonders mag, steht man sich nahe. Aber so war es ja nicht bei uns. Ich kann mich nicht mal erinnern, wie sie jetzt aussah.«
»Ja, es ist lange her, seit du sie gesehen hast.«
»Ich kann mich nur erinnern, dass ich mich in ihrer Gegenwart immer unglücklich fühlte. An mehr kann ich mich nicht erinnern. Aber ich war trotzdem traurig, als ich es hörte.«
Vielleicht war es nicht nur die Stille, die meine Tochter nach London zurückzog. Denn wenn wir auch nie lange bei Keikos Tod verweilten, so war er uns doch stets gegenwärtig, wann immer wir miteinander sprachen.
Anders als Niki hatte Keiko nur japanisches Blut in den Adern, und mehr als eine Zeitung griff diese Tatsache prompt auf. Die Engländer sind vernarrt in die Vorstellung, wir Japaner hätten eine Neigung zum Selbstmord, als machte das jede weitere Erklärung überflüssig. Denn das war alles, was sie berichteten: Dass sie Japanerin gewesen sei und sich in ihrem Zimmer erhängt habe.
Am selben Abend stand ich am Fenster und sah ins Dunkel hinaus, als ich Niki hinter mir sagen hörte: »Woran denkst du gerade, Mutter?« Sie saß drüben auf der Couch, mit einem Taschenbuch auf den Knien.
»Ich dachte an jemanden, den ich einst kannte. Eine Frau, die ich einst kannte.«
»An jemanden, den du kanntest, als du - bevor du nach England kamst?«
»Ich kannte sie, als ich in Nagasaki lebte, falls du das meinst.« Sie sah mich unverwandt an, deshalb fügte ich hinzu: »Vor langer Zeit. Lange bevor ich deinen Vater kennenlernte.«
Sie schien zufrieden und wandte sich mit einer vagen Bemerkung wieder ihrem Buch zu. Niki ist ein anhängliches Kind, was sie auf mancherlei Art beweist. Sie war nicht nur gekommen, um zu sehen, wie ich mit der Nachricht von Keikos Tod fertiggeworden war. Es gab noch einen anderen Grund für sie. In den letzten Jahren hatte sie gewisse Seiten meiner Vergangenheit schätzen gelernt, und sie wollte mir sagen, dass sich nichts verändert habe, dass ich die Wahl, die ich damals getroffen hätte, nicht bereuen solle. Kurz, sie wollte mir versichern, dass ich keine Schuld an Keikos Tod trüge.
Ich habe keine große Lust, jetzt lange bei Keiko zu verweilen. Es bringt mir wenig Trost. Ich erwähne sie hier nur, weil dies die Begleitumstände von Nikis Besuch im April waren und weil ich mich während dieses Besuchs nach all den Jahren wieder an Sachiko erinnerte. Ich habe Sachiko nie gut gekannt. Unsere Freundschaft dauerte eigentlich nicht mehr als ein paar Wochen, in einem Sommer vor vielen Jahren.
Die schlimmste Zeit war schon vorbei damals. Die amerikanischen Soldaten waren so zahlreich wie immer - denn es war Krieg in Korea -, aber in Nagasaki waren dies, nach dem, was vorangegangen war, Tage der Ruhe und der Erleichterung. Die Welt war in einem Zustand der Veränderung.
Mein Mann und ich wohnten im Osten der Stadt, eine kurze Straßenbahnfahrt vom Stadtzentrum entfernt. In unserer Nähe floss ein Fluss, und ich hatte einmal gehört, dass vor dem Krieg am Flussufer ein kleines Dorf gestanden hatte. Aber dann war die Bombe gefallen, und danach blieben nur noch verkohlte Ruinen übrig. Der Wiederaufbau hatte begonnen, und mit der Zeit waren vier Betongebäude errichtet worden, jedes mit ungefähr vierzig Wohnungen. Unser Block war als Letzter gebaut worden und markierte den Punkt, an dem das Wiederaufbauprogramm zum Stillstand gekommen war. Zwischen uns und dem Fluss lag unbebautes Gelände, etliche Morgen trockenen Lehms und Abzugsgräben. Viele Leute klagten, das sei gesundheitsschädlich, und die Entwässerungsanlage war in der Tat widerwärtig. Das ganze Jahr hindurch waren dort kraterförmige Löcher mit abgestandenem Wasser gefüllt, und in den Sommermonaten wurden die Moskitos unerträglich. Von Zeit zu Zeit sah man Beamte Messungen vornehmen oder sich Notizen machen, aber die Monate vergingen, und nichts geschah.
Die Bewohner der Häuserblocks waren meist junge Ehepaare wie wir, die Männer hatten gute Stellungen bei expandierenden Firmen. Viele der Wohnungen gehörten den Firmen, die sie zu einem annehmbaren Preis an ihre Angestellten vermieteten. Alle Wohnungen waren gleich: Die Fußböden waren mit Tatamis ausgelegt, die Badezimmer und Küchen nach westlichem Muster eingerichtet. Die Räume waren klein und in den warmen Monaten schwer kühl zu halten, doch im Großen und Ganzen machten die Bewohner einen zufriedenen Eindruck. Und doch erinnere ich mich an eine unverkennbare Atmosphäre der Flüchtigkeit, als warteten wir alle auf den Tag, an dem wir in eine bessere Bleibe umziehen könnten.
Eine einzige Holzhütte hatte sowohl die Verheerungen des Krieges als auch die Planierraupen der Regierung überlebt. Ich konnte sie von unserem Fenster aus sehen, sie stand einsam am Rand des unbebauten Geländes, fast am Flussufer. Es war eine Hütte, wie man sie häufig auf dem Land findet, mit einem fast bis zur Erde reichenden Ziegeldach. Wenn ich nichts zu tun hatte, stand ich oft am Fenster und blickte hinüber.
Nach der Aufmerksamkeit zu urteilen, die Sachikos Ankunft erregte, war ich nicht die Einzige, die zu der Hütte hinüberblickte. Man rätselte viel darüber, ob die zwei Männer, die man dort eines Tages arbeiten sah, von der Regierung waren oder nicht. Später erzählte man sich, dass eine Frau mit ihrer kleinen Tochter dort wohne, und ich sah sie selbst mehrmals, wenn sie sich ihren Weg über das von Gräben durchzogene Gelände bahnten.
Es war Anfang des Sommers - ich war damals im dritten oder vierten Monat schwanger -, als ich zum ersten Mal den großen amerikanischen Wagen sah, der, weiß und zerbeult, über das unbebaute Gelände auf den Fluss zurumpelte. Es war schon Abend, und die Sonne, die hinter der Hütte versank, leuchtete einen Augenblick auf dem Metall auf.
Eines Nachmittags dann hörte ich an der Straßenbahnhaltestelle zwei Frauen über die Frau reden, die in das baufällige Häuschen am Fluss gezogen war. Die eine erzählte ihrer Bekannten, wie sie die Frau am Morgen angesprochen und eine eindeutige Abfuhr erhalten habe. Ihre Begleiterin stimmte ihr darin zu, dass die Neue einen unfreundlichen Eindruck mache - wahrscheinlich sei sie eingebildet. Sie müsse bestenfalls dreißig sein, meinten sie, denn das Kind sei mindestens zehn. Die erste Frau sagte, die Fremde habe mit Tokioter Dialekt gesprochen und sei gewiss nicht aus Nagasaki. Sie unterhielten sich eine Weile über »ihren amerikanischen Freund«, dann sprach die eine Frau wieder davon, wie unfreundlich die Fremde am Morgen zu ihr gewesen sei.
Heute zweifle ich nicht daran, dass unter den Frauen, mit denen ich damals zusammenlebte, etliche waren, die viel gelitten und traurige, schreckliche Erinnerungen hatten. Aber als ich täglich beobachtete, wie eifrig sie mit ihren Ehemännern und Kindern beschäftigt waren, fiel es mir schwer zu glauben, dass sie die Tragödien und Albträume des Krieges erlebt hatten. Es war nie meine Absicht, unfreundlich zu erscheinen, aber es stimmt vermutlich, dass ich mir keine besondere Mühe gab, anders zu wirken. Denn zu jener Zeit wünschte ich noch, in Ruhe gelassen zu werden.
Interessiert hörte ich den Frauen zu, die von Sachiko sprachen. Ich erinnere mich sehr lebhaft an diesen Nachmittag an der Straßenbahnhaltestelle. Es war einer der ersten strahlenden Sonnentage nach der Regenzeit im Juni, und die Ziegel- und Betonflächen um uns herum trockneten langsam. Wir standen auf einer Eisenbahnbrücke, und auf der einen Seite der Schienen, am Fuß des Hügels, sah man einen Haufen Dächer, als wären die Häuser den Abhang hinuntergepurzelt. Hinter den Häusern, ein Stückchen weiter weg, standen unsere Wohnblocks wie vier Betonsäulen. Ich hatte damals Mitleid mit Sachiko und meinte, die...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.