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Endlich bin ich so weit, über Mr. Lancaster zu schreiben. Das wollte ich schon seit Jahren, aber nur halbherzig. Ich hatte nie das Gefühl, ihm gerecht werden zu können. Jetzt erkenne ich meinen Irrtum; ich habe ihn immer als Einzelperson gesehen. Isoliert betrachtet kommt er zu kurz. Um ihn korrekt ins Bild zu setzen, muss ich zeigen, dass meine Zeit mit ihm der Anfang eines, nein, mehrerer neuer Kapitel in meinem Leben war. Und ich muss einige Figuren in diesen Kapiteln schildern. Mr. Lancaster ist ihnen, mit einer Ausnahme, nie begegnet. (Wenn er geahnt hätte, was einmal aus Waldemar werden würde, hätte er ihn entsetzt hinausgeworfen.) Hätte er Ambrose, Geoffrey, Maria oder Paul kennengelernt - nein, das übersteigt meine Phantasie! Dennoch sind all diese Menschen durch mich miteinander verbunden, so verhasst ihnen dieser Gedanke möglicherweise gewesen wäre. Und so müssen alle die Kränkung hinnehmen, gemeinsam in diesem Buch aufzutreten.
Im Frühling 1928, ich war dreiundzwanzig, kam Mr. Lancaster auf Geschäftsreise nach London und schrieb meiner Mutter, dass er uns gerne besuchen würde. Keiner von uns war ihm je begegnet. Ich wusste nur, dass er die norddeutsche Niederlassung einer britischen Reederei leitete. Und dass er der Stiefsohn des Schwagers meiner Großmutter mütterlicherseits war; vielleicht lässt sich das auch einfacher ausdrücken. Sogar meine Mutter mit ihrem Faible für Verwandtschaftsverhältnisse musste zugeben, dass er, streng genommen, nicht zur Familie gehörte. Aber sie entschied, es wäre eine nette Geste, ihn »Cousin Alexander« zu nennen, damit er sich bei uns ein bisschen mehr zu Hause fühlte.
Ich fügte mich, obwohl es mir völlig schnuppe war, wie wir ihn nannten und wie er sich fühlte. Für mich gehörten alle über vierzig, mit ein paar wenigen rühmlichen Ausnahmen, einem fremden Stamm an, naturgemäß feindselig, in Wirklichkeit aber eher lächerlich als furchteinflößend. Sie waren durch und durch groteske Gestalten, salbungsvoll und vertrottelt, denen man mit Gleichgültigkeit begegnen musste. Nur Leute meiner Generation erschienen mir wirklich lebendig. Oft verkündete ich, dass wir, wenn uns das Alter ereilte - ein Zustand, den ich theoretisch voraussehen konnte und dennoch unvorstellbar fand -, hoffentlich schnell und schmerzfrei sterben würden.
Mr. Lancaster erwies sich als genauso grotesk, wie ich erwartet hatte. Doch trotz aller Bemühungen gelang es mir nicht, ihm gegenüber gleichgültig zu sein, denn er brachte mich vom Moment seiner Ankunft an in Harnisch und demütigte mich. (Heute erkenne ich, dass er das nicht absichtlich tat; er war wohl einfach furchtbar gehemmt.) Er behandelte mich wie einen Schuljungen, mit heiterer, gönnerhafter Miene. Sein schlimmstes Vergehen war, dass er mich »Christophilos« nannte - eine Anrede, die in seiner manierierten klassischen Aussprache umso spöttischer und beleidigender klang.
»Ich möchte wetten, mein teuerster Christophilos, dass du noch nie einen Trampdampfer von innen gesehen hast. Nein? Dann rate ich dir, zur Rettung deiner unsterblichen Seele, den Rockzipfel deiner gnädigen Frau Mutter ausnahmsweise loszulassen und uns auf einem unserer Schiffe zu besuchen. Zeig uns, dass du ohne Komfort auskommst. Wir wollen sehen, wie du mitten in einem Nordweststurm Speck vertilgst und unter dem Gelächter der alten Seebären zur Reling stürzt. Vielleicht macht das einen Mann aus dir.«
»Mit dem größten Vergnügen«, sagte ich so ungerührt, wie ich es vermochte.
Ich sagte es, weil ich Mr. Lancaster in diesem Augenblick hasste und mich der Herausforderung daher kaum verweigern konnte. Ich sagte es, weil ich damals überall mit jedem hingefahren wäre; in mir brannte die Sehnsucht nach der großen unbekannten Welt. Ich sagte es auch, weil ich vermutete, dass Mr. Lancaster nur bluffte.
Ich irrte mich. Etwa drei Wochen später bekam ich einen Brief vom Londoner Hauptsitz seiner Firma. Darin wurde ich vor die vollendete Tatsache gestellt, dass ich an dem und dem Tag fahren würde, an Bord des reedereieigenen Frachters Coriolanus. Ein Angestellter werde mich zum Schiff bringen, ich solle mich um zwölf am Hafentor in der West India Dock Road einfinden.
Im ersten Moment war ich beunruhigt. Doch dann schaltete sich meine Phantasie ein. Ich übernahm die Hauptrolle in einem epischen Drama, frei nach Conrad, Kipling und Brownings Gedicht »Waring«. Als ein Mädchen anrief und mich für Mittwoch in einer Woche zu einer Cocktailparty einlud, sagte ich kurz und in leicht grimmigem Ton: »Bedaure. Da bin ich schon weg.«
»Ach! Wo bist du denn?«
»Weiß ich nicht genau. Irgendwo mitten auf der Nordsee. Auf einem Trampdampfer.«
Es verschlug ihr den Atem.
Mr. Lancaster und seine Reederei passten nicht in mein Epos. Es war mir peinlich zuzugeben, dass ich nur bis zur deutschen Nordseeküste fuhr. Wenn ich mit flüchtigen Bekannten sprach, deutete ich geschickt an, dass dies nur der erste Zwischenstopp auf einer ungeheuer langen, geheimnisvollen Reise sei.
Bevor ich zu der Konvention zurückkehre, den jungen Mann, der im Taxi zu seinem Abenteuer aufbricht, »ich« zu nennen, will ich ihn wie ein separates Wesen, ja fast wie einen Fremden betrachten. Denn natürlich ist er für mich fast ein Fremder. Ich habe seine Möglichkeiten überdacht, ihm einen neuen Akzent und neue Eigenarten gegeben, seine Vorurteile und Gewohnheiten abgelegt oder verfestigt. Das Skelett ist noch dasselbe, aber die äußere Hülle hat sich so stark verändert, dass er mich auf der Straße sehr wahrscheinlich nicht erkennen würde. Wir tragen dasselbe Namensschild und teilen ein fortlaufendes Bewusstsein; es bestätigt mir jeden Tag, ohne Ausnahme, dass ich ich bin. Was ich bin, hat sich jedoch im Laufe der Tage und Jahre so verändert, dass, abgesehen von der Gewissheit um meine Existenz, fast nichts mehr so ist wie damals. Und diese Gewissheit ist nichts Besonderes; jeder hat sie.
Der Christopher, der im Taxi zum Hafen fuhr, ist, praktisch gesprochen, tot; es gibt ihn nur noch in den verblassenden Erinnerungen derer, die ihn kannten. Er lässt sich nicht wiederbeleben. Ich kann ihn nur aus den Worten und Handlungen in meinem Gedächtnis und aus den Büchern rekonstruieren, die er uns hinterlassen hat. Oft ist er mir peinlich, und ich bin versucht, über ihn zu spotten; ich will mich jedoch bemühen, es nicht zu tun. Ich will mich auch nicht für ihn entschuldigen. Immerhin schulde ich ihm eine gewisse Anerkennung. Auf die eine Art ist er mein Vater, auf die andere mein Sohn.
Wie allein er wirkt! Nicht einsam, denn er hat viele Freunde, bei denen er sich lebhaft zeigt und die er zum Lachen bringt. Er ist für sie sogar so etwas wie ein Wortführer. Sie bauen darauf, dass er ihnen sagt, was sie als Nächstes denken, was sie bewundern und was verabscheuen sollen. Sie halten ihn für streitbar und originell. Und dennoch ist er in ihrer Gesellschaft isoliert durch sein Selbstmisstrauen, seine Unruhe und seine Angst vor der Zukunft. Sein Leben hat sich bisher in engen Grenzen abgespielt, und er ist, was die meisten Erfahrungen angeht, ziemlich unbedarft; er fürchtet sie, und doch giert er danach. Um sich zu beruhigen, verwandelt er jede in Windeseile in ein Heldenepos. Er spielt unentwegt Theater.
Mehr noch als die Zukunft fürchtet er die Vergangenheit - ihren Status, ihre Traditionen mitsamt ihren unausgesprochenen Ansprüchen und Vorhaltungen. Vielleicht ist sein stärkster Antrieb der Hass auf seine Vorfahren. Er hat sich geschworen, sie zu enttäuschen, zu verleugnen, Schande über sie zu bringen. Mein Spott würde den Eindruck erwecken, dass dieser Entschluss aus der Angst entstanden ist, an ihren Erwartungen zu scheitern; aber das wäre nicht einmal halb wahr. Seine Wut ist aufrichtig. Er ist ein echter Rebell. Er spürt, dass er sich nur durch Auflehnung weiterentwickeln kann.
Er nimmt ein Geheimnis mit auf diese Reise, es ähnelt einem Talisman; verleiht ihm Macht, solange er es hütet. Gestern ist sein erster Roman erschienen - und nicht einer der vielen Menschen, denen er in nächster Zeit begegnen wird, weiß es! Der Kapitän und die Mannschaft der Coriolanus wissen es bestimmt nicht; wahrscheinlich weiß es in ganz Deutschland niemand. Mr. Lancaster hat bereits gezeigt, dass er es nicht wert ist, eingeweiht zu werden; er weiß es nicht und wird es nie erfahren. Außer natürlich, der Roman wird so erfolgreich, dass er irgendwann in der Zeitung davon liest . Aber dieser Gedanke wird in abergläubischer Eile zensiert. Nein - nein - das Buch wird scheitern. Alle Literaturkritiker sind korrupt und arbeiten für den Feind . Und überhaupt, wozu sein Vertrauen in so trügerische Hoffnungen setzen, wenn die Welt des Heldenepos doch zuverlässig Trost und Sicherheit bereithält?
In jenem Frühling fand, von den dummen, aufgeblasenen Literaten der damaligen Zeit gänzlich ignoriert, ein Ereignis statt, das, darin sind wir uns jetzt, zehn Jahre später, wohl alle einig, die Geburtsstunde des modernen Romans markierte, wie wir ihn heute kennen: Lauter gute Absichten erschien. Am nächsten Tag stellte sich heraus, dass Isherwood nicht mehr in London weilte. Er war ohne ein Wort spurlos verschwunden. Seine engsten Freunde waren verwundert und bestürzt. Manche fürchteten sogar Selbstmord. Doch dann - Monate später - raunte man sich in den Salons seltsame Gerüchte zu - dass an ebenjenem Morgen eine verhüllte Gestalt gesichtet...
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