Schweitzer Fachinformationen
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Lieber Patrick,
Du wirst überrascht sein, nach so langem Schweigen von mir zu hören - fast so überrascht, wie ich es wäre, von Dir zu hören. Zumindest in einem Punkt scheinen wir stillschweigend übereinzustimmen: dass es keinen Grund gibt, Briefe nur um des Plauderns willen zu wechseln. Ich weiß, dass Du ein vielbeschäftigter Mann bist, und würde nicht im Traum daran denken, Dich zu belästigen, hätte sich nicht eine Situation ergeben, die peinlich zu werden droht.
Gestern erhielt ich einen Brief von Mutter, in dem sie mir mitteilt, dass Du Dich in geschäftlichen Angelegenheiten in den Vereinigten Staaten aufhältst und von dort möglicherweise in eine (nicht näher bezeichnete) Region Südasiens weiterreisen wirst. Zum Schluss schreibt sie, es wäre doch schön, wenn Du nach Indien kommen und mich besuchen könntest.
Gewiss, es mag Mutters übliches unverbindliches Gerede sein. Sie äußert sich wie immer vage, schreibt, dass Du in Los Angeles bist, nennt aber Deine dortige Adresse nicht, weshalb ich diesen Brief an Deine Heimatadresse in London aufgebe, damit er Dir nachgeschickt wird. Sie scheint nicht einmal zu wissen, welcher Natur Deine geschäftlichen Angelegenheiten sind. Normalerweise würde ich denken, dass sie mit Deinem Verlag zu tun haben, aber verlegt Ihr auch in Los Angeles Bücher? Hast Du nicht einmal gesagt, das sei ausschließlich an der Ostküste möglich? Und Südasien klingt noch sonderbarer. Aber vermutlich ist mir die neueste Entwicklung auf diesem Gebiet (wie auf so vielen anderen) einfach entgangen, und natürlich will ich mich nicht in Deine Angelegenheiten einmischen.
Ich schreibe nur wegen eines dummen Missverständnisses, das umgehend aufgeklärt werden muss. Ich räume ein, dass in erster Linie ich dafür verantwortlich bin, aber ich muss sagen, ich begreife nicht, weswegen ich - oder sonst jemand - vor Leuten, die es eigentlich nichts angeht, Rechenschaft über mein Handeln ablegen soll. Die Sache ist die: Mutter hat noch immer den Eindruck, und ich nehme an, Du und Penelope auch, dass ich mich hier in Kalkutta aufhalte, um für das Rote Kreuz zu arbeiten, wie bis vor einem Jahr in Deutschland. Aber dem ist nicht so. Ich befinde mich in einem hinduistischen Kloster ein paar Meilen außerhalb der Stadt, am Ufer des Ganges. Will sagen, ich bin hier als Mönch.
Mit dem Warum und Weshalb möchte ich Dich nicht langweilen. Ich bezweifle, dass es Dich interessieren würde. Ich bin mir sehr wohl bewusst, dass meine Gründe für das, was ich getan habe, jeden, der sie von außen betrachtet, rein subjektiv anmuten müssen. Sobald eine Entscheidung gefallen ist, die sich nicht rückgängig machen lässt, sind Gründe ohnehin nicht länger von Bedeutung. In wenig mehr als zwei Monaten werde ich meine letzten Gelübde ablegen.
Ich möchte Dich lediglich um einen Gefallen bitten. Es ist ein großer Gefallen, ich weiß. Könntest Du es Mutter mitteilen? Ich habe die Dinge so lange schleifen lassen, dass es mir fast unmöglich geworden ist, es ihr selbst zu sagen. Von mir würde sie langatmige Erklärungen erwarten, ich wäre gezwungen, zu simplifizieren und rational zu argumentieren, nur um es ihr begreiflich zu machen oder ihr das Gefühl zu geben, dass sie es begreift. Dir hingegen sollte es relativ leichtfallen, da Du über meine Situation fast nichts weißt. Ich verlange nicht, dass Du ihr Lügen auftischst, aber es wäre schön, wenn Du ihr das Gefühl vermitteln könntest, dass ich aus Deiner Sicht nichts Befremdliches oder Außergewöhnliches getan habe und dass Du weißt, dass es mir gut geht. Versichere ihr, dass ich bei bester Gesundheit bin, was ja auch stimmt, und dass ich genug zu essen bekomme. Das Essen hier ist völlig in Ordnung, wenn auch vielleicht nicht nach ihren Maßstäben. Das sind die beiden einzigen Dinge, die ihr wirklich am Herzen liegen. Wenn es Dir gelingt, sie irgendwie zu beruhigen, wird sie bald das Interesse an der ganzen Angelegenheit verlieren. Früher warst Du immer sehr geschickt darin, sie zu beruhigen und sie dazu zu bringen, vollendete Tatsachen zu akzeptieren.
Entschuldige, dass ich Dich damit behellige.
Du brauchst mir nicht zu antworten.
Oliver
Mein lieber Oliver,
das ist natürlich eine riesige Überraschung, auf die zu reagieren gar nicht so einfach ist - es sei denn mit der Versicherung, und ich hoffe, Du glaubst mir, dass ich Dir für Deine neue große Kursänderung von Herzen alles Gute wünsche. Es wäre anmaßend von mir, zu behaupten, ich würde auch nur annähernd verstehen, was Dich dazu bewogen hat. Wie könnte ich? Ich muss einfach Deinem Urteilsvermögen vertrauen und glaube, dass Du getan hast, was Du tun musstest, und Deiner Vision der Wahrheit bis zu ihrem logischen Ende gefolgt bist.
Ich möchte Dich nicht in Verlegenheit bringen, aber ich habe das Gefühl, dies ist genau der richtige Moment, um Dir zu sagen, dass ich Dich immer bewundert habe, weit mehr, als Dir bewusst sein mag. (Ja, ich möchte wetten, dass es Dir überhaupt nicht bewusst ist!) Als wir Kinder waren, muss ich Dir wie der typische gefühlskalte und hochnäsige ältere Bruder vorgekommen sein, Teil einer Welt, gegen die Du naturgemäß aufbegehrt hast. Vermutlich war ich spießiger, als ich es in meinem Leben je wieder sein werde, und in gewisser Weise älter. Wenn ich heute auf jenes Privatschulen-Ich zurückblicke, fühle ich mich im Vergleich dazu wahrhaft jugendlich! Und leider weiß ich nur allzu gut, dass ich jenes Ich, wenn ich nach Hause kam, immer mit mir herumgeschleppt habe. Die ganzen Ferien hindurch blieb ich der »Aufsichtsschüler«, in vollem Bewusstsein, dass Du nicht nur jünger warst, sondern einer von »den Kleinen«. Wären wir auf derselben Schule gewesen - Gott sei Dank waren wir es nicht! -, hätte ich die Macht gehabt, Dich herumzukommandieren und Dir sogar mit dem Rohrstock den Hintern zu versohlen. Zweifellos wollte ich mir umso mehr Geltung verschaffen, als Du um einiges größer warst als ich, selbst damals schon. Das habe ich Dir bestimmt sehr übelgenommen, auch wenn ich es niemals zugegeben hätte!
Ich denke, Du wirst mir zustimmen, dass sich, nachdem wir herangewachsen waren, meine Einstellung verändert hat. Ich weiß, dass ich jedenfalls mein Möglichstes getan habe, um Dir dieses Gefühl zu vermitteln. Wenn es mir nicht so recht gelungen ist, dann deshalb, weil ich insgeheim großen Respekt vor Dir hatte - was mich schüchtern und manchmal taktlos gemacht hat. Du kamst mir immer so stark und eigenständig vor. Nie bist Du Kompromisse eingegangen. Du schienst nicht einmal zu wissen, dass es Kompromisse gibt, die man eingehen kann! Wenn Du Dich dazu berufen fühltest, etwas zu tun, wenn Du ein »Anliegen« hattest, wie Deine Freunde, nein: wie »die Freunde« es nannten, dann bist Du losgezogen und hast es getan. Wenn ich Dich so sah, konnte ich nicht anders, als mich furchtbar schlecht zu fühlen, weil ich so anders bin.
Aber sich für die Vergangenheit zu entschuldigen ist bloße Zeitverschwendung. Blicken wir nach vorn! Es gibt einen großen Vorteil, den wir, Du und ich, jetzt genießen - es ist eine Ewigkeit her, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben, mehr als sechs Jahre! Wenn wir uns also wiederbegegnen - falls wir es denn tun!? -, sollten wir ganz sachlich miteinander reden können. All die Unstimmigkeiten, die zwischen uns geherrscht haben mögen, werden nicht mehr von Belang sein. Natürlich kann ich nur für mich sprechen, aber ich weiß, ich werde so empfinden.
Selbstverständlich werde ich Deiner Bitte nachkommen und mein Bestes tun, um Mutter zu beruhigen. Aber ich muss schon sagen, Oliver, viele Anhaltspunkte gibst Du mir nicht gerade! Dein neues Leben weist Aspekte auf, die ich wohl kaum je begreifen werde, und zu Recht bemühst Du Dich gar nicht erst, sie mir auseinanderzusetzen. Aber ich verwahre mich gegen Deine Unterstellung, ich sei an dem, was Du das Warum und Weshalb nennst, nicht interessiert. Ich bin sogar sehr daran interessiert, Deinetwegen ebenso wie meinetwegen.
Was Mutter angeht, wäre es mir eine große Hilfe, wenn Du wenigstens die folgenden vier Fragen beantworten würdest (sehr schlichte Fragen, fürchte ich, hab Nachsicht!): Wie bist Du zu Deinen neuen Glaubensüberzeugungen gelangt? Wie lange ist das her? (Nicht sehr lange, vermute ich, denn ich weiß ja, dass Du Dich seit höchstens einem Jahr in Indien aufhältst). Du sprichst davon, dass Du Deine »letzten Gelübde« ablegen wirst. Bedeutet das, dass Du danach von der Außenwelt abgeschnitten sein wirst? Besteht die Hoffnung, dass wir Dich jemals in England wiedersehen?
Wenn Du die Antworten auf einer Postkarte notieren könntest, und seien sie noch so knapp, wüsste ich besser, wie ich die Nachricht überbringen soll. Wenn Dir nicht danach ist, werde ich Dein Schweigen selbstverständlich respektieren. Falls ich nichts von Dir höre, werde ich es nehmen, wie es ist, und mich ganz auf meine (nicht unbeträchtliche) Erfindungsgabe verlassen!
Und, lieber Oliver, ich kann Dir gar nicht sagen, wie froh ich bin, wenigstens diese Zeilen von Dir erhalten zu haben. Wie Du ganz richtig sagst, sind wir beide nicht sehr mitteilsam. Aber zu meiner Rechtfertigung darf ich vielleicht anfügen, dass Penelope und ich aufgehört haben, Dir zu schreiben, weil wir das Gefühl hatten, dass Du nicht behelligt werden wolltest. Ich darf Dich daran erinnern, dass Du in den Jahren Deiner Münchener Tätigkeit zwei oder drei Mal zu Besuch in England warst. Zweifellos bist Du im Auftrag des Roten Kreuzes gereist und standst unter...
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