Schweitzer Fachinformationen
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Scott Daggart saß auf einer Terrasse, trank einen Corona und genoss die vom Meer kommende feuchte Brise. Obwohl die Sonne schon vor Stunden untergegangen war, glitzerten kleine Schweißperlen auf seinen muskulösen Unterarmen. Zwölf Stunden lang hatte er in den alten Ruinen Efeuranken entfernt und Erdschichten abgetragen, bis er endlich zu dem im Verfall begriffenen Kalksteingemäuer und ihren längst vergessenen Geheimnissen vorgedrungen war.
Und nun genoss er den Feierabend im Captain Bob's, einem zweistöckigen Restaurant mit großen Deckenventilatoren, Rattanmöbeln und einem mächtigen schilfgedeckten Dach. Auf den Holzdielen waren noch die eingetrockneten Piña-Colada-Lachen vom vergangenen Abend zu erkennen, und der Geruch von Zigaretten und Bier hing in der Luft. In der Ecke stand die angestaubte Holzplastik eines Schiffskapitäns mit dichtem weißem Vollbart, der eine gelbe Öljacke trug und einen Fisch in der Hand hielt.
Captain Bob's war eines der gutbesuchten Restaurants in Playa del Carmen, was vermutlich auch dem Umstand geschuldet war, dass es auf der von Touristen bevölkerten Avenida Cinco lag, die Fußgängern vorbehalten war. Da das Restaurant sich gleich neben der Constitution Street befand, wo die Touristenbusse hielten, war das Captain Bob's immer voll von Gästen, die von der lauten Musik, dem Geruch von gegrillten Knoblauch-Shrimps und vor allem den äußerst knapp bekleideten mexikanischen Bedienungen angelockt wurden. Das Etablissement war der Inbegriff dessen, was sich ein amerikanischer Tourist unter einem mexikanischen Restaurant vorstellte.
Scott Daggart, für dessen Geschmack hier zu viel nacktes Fleisch ausgestellt wurde, war von dem Laden nicht ganz so begeistert. Nicht er hatte vorgeschlagen, sich hier zu treffen, sondern Lyman Tingley. Genau genommen hatte Professor Tingley sogar darauf bestanden.
«Überrascht dich wahrscheinlich, meine Stimme zu hören», hatte Tingley vor einer Stunde am Telefon gesagt.
«So könnte man es formulieren.»
«Ich brauche Hilfe.»
«Aha», erwiderte Daggart, der gerade eben erst in seine cabaña zurückgekehrt war und das Abendessen zubereitete, mit sarkastischem Unterton. Der Anruf seines ehemaligen Mentors, mit dem er sich überworfen hatte, kam tatsächlich ziemlich unerwartet.
«Ich meine es ernst. Wir müssen uns unbedingt treffen.»
«Können wir das nicht auf später verschieben? Ich bin gerade mit etwas Wichtigem beschäftigt.» Er trank einen Schluck Corona und schnitt grüne Paprika in dünne Streifen.
«Nein, Scott, das geht unmöglich.»
Irgendetwas in Tingleys Stimme veranlasste Daggart, das Messer wegzulegen. Dass der Mann, der sich selbst zum «bedeutendsten Archäologen des 21. Jahrhunderts» ernannt hatte, nicht weiterwusste und Hilfe brauchte, war ein Novum.
«Was ist denn los, Lyman?»
«Wir müssen uns treffen.»
«Das sagtest du schon.»
«Was hältst du vom Captain Bob's?» Das klang weniger wie eine Frage, sondern eher wie ein Befehl. «Neun Uhr. Schaffst du das?»
«Ich hatte eigentlich nicht vor, heute Abend an die Playa .»
«Captain Bob's. Neun Uhr», schnitt Tingley ihm das Wort ab.
«Worum geht es eigentlich, Lyman?»
Aber Tingley hatte schon aufgelegt.
Daggart musterte die sonnenverbrannten, muskulösen Touristinnen Anfang zwanzig, die ins Restaurant strömten. Nicht gerade mein Typ, dachte er, was vielleicht auch daran liegen könnte, dass ich doppelt so alt bin wie sie. Seine Freunde hatten ihn zwar gedrängt, sich wieder eine Frau zu suchen, doch so weit war er noch nicht.
Dazu war es einfach noch zu früh.
Da Susan die Erste gewesen wäre, die ihn zu solch einem Schritt ermuntert hätte, entbehrte seine Einstellung nicht einer gewissen Ironie. Achtzehn Monate waren seit ihrem Tod vergangen, und er konnte einfach nicht loslassen. Ihm fiel es schon schwer genug, überhaupt weiterzumachen, weil die Bilder ihn immer noch verfolgten.
Blutlachen. Blonde Haare. Holzdielen.
Er nahm einen großen Schluck aus der Bierflasche und versuchte, die Bilder zurückzudrängen.
Ungeduldig warf er einen Blick auf seine Uhr. Viertel nach neun. Dass Lyman Tingley sich verspätete, überraschte ihn. In all den Jahren ihrer Zusammenarbeit hatte Tingley sich immer wieder über Daggarts Unpünktlichkeit beklagt.
Zu jener Zeit hatten sie noch miteinander gesprochen.
Damals waren sie noch Freunde gewesen.
In dem Moment kam Lyman Tingley keuchend die Treppe hoch, holte tief Luft und hielt nach Daggart Ausschau.
«Tut mir leid», entschuldigte er sich schnaufend und schaute sich schnell im Restaurant um, ehe er seine dreihundert Pfund auf einen Stuhl hievte.
«Kein Problem, ich hatte ja Gesellschaft», meinte Daggart und deutete auf das vor ihm stehende Bier.
Lyman Tingley ging nicht auf die Bemerkung ein. Daggarts ehemaliger Mentor war ein vierschrötiger Mann mit grobschlächtigen Gesichtszügen. Nach außen hin gab er sich bärbeißig und selbstsicher, während er in Wahrheit unter einem ganzen Bündel von Komplexen litt. Der Schweiß drang ihm aus jeder Pore. Seine Arme waren bis zum Ärmelansatz gerötet. Während Tingley die anderen Gäste musterte, sah Daggart, dass die Sonne auch seinen Nacken verbrannt hatte - durchaus typisch für Archäologen. Tingley drehte sich wieder zu ihm um und begann, mit dem Besteck zu spielen. Daggart fand Tingleys Verhalten geradezu lächerlich.
«Was gibt es?», fragte er gereizt.
Tingley dachte über die Frage nach und wollte gerade antworten, als sich eine halbbekleidete Kellnerin über ihren Tisch beugte.
«Buenas tardes», sagte sie mit rauer Stimme und hielt ihnen ihr Dekolleté unter die Nase. «Was möchten Sie trinken?»
Wortlos zeigte Tingley auf Daggarts Bier. Die Bedienung notierte die Bestellung und tänzelte davon.
Daggart kam einfach nicht über Tingleys Benehmen hinweg. Normalerweise hätte der Professor sofort die Gelegenheit genutzt, die Kellnerin angebaggert und mit ihr geflirtet, in der Hoffnung, die attraktive junge Frau abschleppen zu können, doch heute war Tingley nur ein Schatten seiner selbst. Ein Zombie.
«Lass uns von hier verschwinden», platzte Tingley heraus.
«Wie bitte?»
«Dieser Tisch gefällt mir nicht.»
«Was hast du an ihm auszusetzen?»
«Zu viele Menschen.» Tingley streckte die Hand über das Terrassengeländer und deutete auf die Heerscharen von Touristen, die sich unten auf der Straße tummelten. Wie ein gehetztes Tier sprang er auf, steuerte auf einen Tisch im hinteren Bereich des Restaurants zu und setzte sich mit dem Rücken zur Wand auf den Stuhl. Kopfschüttelnd schnappte Daggart sich sein Bier und folgte ihm.
«Kann ich dir vertrauen?», fragte Tingley, kaum dass Daggart Platz genommen hatte.
Tingleys unsteter Blick verriet, wie nervös und verunsichert er war. Er wirkte geradezu verängstigt. Daggart kannte diesen Blick von Männern, die in die Schlacht zogen, hatte ihn aber schon seit Jahren nicht mehr gesehen und schon gar nicht fernab von Kriegsschauplätzen.
«Was beschäftigt dich, Lyman?»
«Was weißt du über das Sprechende Kreuz?», fragte Lyman.
Dieser schroffe, fordernde Tonfall erinnerte Daggart an früher. Vor vielen Jahren hatte Lyman Tingley ihn unter seine Fittiche genommen und ihm alles beigebracht, was man zur Planung und Durchführung einer Ausgrabung brauchte.
«Wahrscheinlich nicht mehr als du», antwortete Daggart.
«Jetzt rück schon raus mit der Sprache.»
«Bei dem Sprechenden Kreuz handelt es sich um eine Sekte, die Mitte des 19. Jahrhunderts während des Kastenkrieges gegründet wurde, als die Maya gegen die mexikanische Regierung aufbegehrten. Heute existiert sie nicht mehr - aber da erzähle ich dir sicher nichts Neues.»
«Und warum haben die Maya rebelliert?»
Daggart überlegte kurz. «Man hat ihnen ihr Land weggenommen, und sie fühlten sich von der Regierung, in der die Marionetten der Spanier saßen, schlecht behandelt.»
Tingley wollte gerade etwas sagen, als die Kellnerin erschien und sein Bier brachte. «Hat Ihnen der andere Tisch nicht gefallen?», fragte sie leicht entnervt.
«Lo siento», murmelte Daggart.
Die junge Frau wartete vergeblich auf eine Entschuldigung von Tingley und trollte sich schließlich.
«Welches Ziel verfolgten sie?», flüsterte Tingley.
«Ist schon ziemlich spät für Geschichtsunterricht, oder?», meinte Daggart und musterte Tingley, der immer noch besorgt wirkte. Er nahm einen Schluck aus der Flasche und sagte: «Es ging ihnen um Einschüchterung.»
«Was meinst du damit?»
«Das Kreuz war eine Art Visitenkarte, die sie auf den Leichnamen ihrer Opfer hinterließen, um dem Feind Angst einzujagen. Und wenn die Maya das Kreuz hörten .»
«Das Kreuz hat gesprochen?»
«Zumindest glaubten die Maya das. Wenn das Kreuz zu ihnen sprach, bedeutete dies, dass die Götter ihr Tun guthießen und sie unbezwingbar waren.»
«Das glaubten sie tatsächlich?», fragte Tingley.
«Dir wäre es damals nicht anders ergangen. Manche behaupteten sogar, das Kreuz würde in einem geheimnisvollen Licht erstrahlen, wenn es sich zu Wort meldete. Im 19. Jahrhundert war so etwas starker Tobak.»
Tingley ließ sich Daggarts Worte durch den Kopf gehen und legte die großen Pranken um die beschlagene Bierflasche.
«Wieso hast du mich angerufen, Lyman?», fragte Daggart schließlich. «Ich bin nicht der Einzige, der dir darüber...
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