9Meine erste eigene Firma - ein Großhandel mit Drogerieartikeln
Anfang der 50er Jahre hatte mein Vater in Hannover die Großhandelsfirma Kiepert & Kiepert für Drogerieartikel erworben. Bei den Besuchen dort lernte ich zum ersten Mal ein kleines Unternehmen von innen kennen. Es gab vielleicht 20 Mitarbeiter vom Geschäftsführer bis zum Lehrling. Dieser war mit 14 Jahren so alt wie ich und half mir, langweilige Tage zu überstehen. Wir mussten einfache Arbeiten verrichten, vor allem bei der sehr ernst genommenen jährlichen Inventur Badehauben, Schwämme und Ähnliches zählen.
Schön war der jährliche Betriebsausflug, an dem dann auch der Außendienst mit vier reisenden Gebietsvertretern teilnahm. Sie brachten Stimmung, Schwung und Abwechslung in die ganze Truppe. Ein Ausflug führte in das nahegelegene Springe. Dort gab es einen Wisentpark zu besuchen und anschließend in einem Ausflugslokal Abendessen und Tanz. Mein Vater als Inhaber hielt die Tischrede. Nach meiner Erinnerung war sie ein bisschen zu ernst und pathetisch, doch sie wurde mit Respekt und Beifall aufgenommen. Unter den Außendienstlern aber war ein ehemaliger Schauspieler. Der trug ein lustiges selbst gemachtes Gedicht vor, in dem jeder, auch meine Eltern, vorkamen und liebevoll auf die Schippe genommen wurden. So war es dann doch recht lustig. Ich bedauere sehr, dass solche harmlosen Betriebsausflüge heute ganz aus der Mode gekommen sind.
Zu Hause in den Gesprächen meiner Eltern musste ich über Jahre mit anhören, was für Schwierigkeiten es aber doch bei dem ganzen, eigentlich zu kleinen Engagement gab. Der Geschäftsführer war nicht ganz untüchtig, aber doch nicht dynamisch genug, um das Unternehmen in den Boomjahren des Wirtschaftswunders entsprechend wachsen zu lassen. Es hieß auch, er habe ein dickes Verhältnis mit der Finanzprokuristin, was ja für sich allein schon unmöglich ist in einer Firma mit abwesendem Inhaber.
Für meinen Vater war es ja nur ein Unternehmen "zur linken Hand". Sein Hauptinteresse galt dem aufblühenden Zeitungsgeschäft. So fand er nicht die Kraft, rechtzeitig einen Wechsel in der Geschäftsführung vorzunehmen, oder das hoffnungsvoll begonnene Unternehmen zu verkaufen, das ihm langsam lästig wurde. Schließlich betraute er meine Mutter mit der Oberaufsicht. Sie fuhr auch viel nach Hannover und machte es nicht schlecht, aber wirklich durchgreifen mochte sie ebenfalls nicht. Das führte dann wieder zu eigentlich sinnlosen Diskussionen zwischen meinen Eltern. Bald war das kleine Unternehmen, an dem mein Vater auch noch andere Familienmitglieder und Freunde beteiligt hatte, in der ganzen Verwandtschaft als unerfreulicher Zankapfel bekannt. Da aber niemand wagte, drastische Änderungen zu fordern und auch die übrigen Gesellschafter nur hinter vorgehaltener Hand Kritik übten, lief alles schlecht und recht über viele Jahre, mit sehr bescheidenem Erfolg und ohne Zukunftsvision.
Für mich war das eine doppelte Lehre. Kleine Unternehmen machen genauso viel Arbeit wie große. Vor allem aber ist es ein Irrtum, zu glauben, dass irgendetwas von selbst läuft, ohne dass man sich intensiv darum kümmert. Unternehmen brauchen Gestaltungskraft. Das lässt sich nicht mit der linken Hand machen.
Später, nach dem Tod meines Vaters Anfang 1968, konnte ich mit dieser Firma meine ersten eigenen unternehmerischen Schritte tun. Und das kam so:
Der Vater hatte in seinem Testament Kiepert & Kiepert seiner Tochter aus erster Ehe, meiner Halbschwester Frauke, zugedacht. Sie und ihr Mann waren entsetzt, als sie das erfuhren. Sie wollten dieses Unternehmen, das keine Gewinne abwarf und zu dem sie kein Zutrauen hatten, auf keinen Fall haben. Da schlug ich vor, das Unternehmen unter den Erben zu "versteigern". Auch mein Halbbruder Heiko, der von unserem Vater das sehr schöne Büroausstatter-Unternehmen Arlac in Hamburg geerbt hatte, wollte mit der "Klitsche" in Hannover nichts zu tun haben. So überließen mir meine Geschwister die Firma für 20 000 DM. Das war nicht viel für ein zwar ertragloses, aber doch schuldenfreies Unternehmen. Der Buchwert betrug schon über 300 000 DM.
Ich besuchte sofort die verbliebenen familienfremden Kommanditisten und bot ihnen an, ihre Anteile für einen bescheidenen Betrag zu übernehmen. Das gelang ohne Schwierigkeiten. Auch diese Minderheitsgesellschafter hatten das Ganze innerlich bereits abgeschrieben.
Dann gab ich im Drogistenblatt eine Anzeige auf, mit der ich einen jungen Drogisten als geschäftsführenden Partner suchte. Es meldete sich Herr Zaiser, der in Berlin eine Drogerie hatte, aber wegen der bedrohten Lage der geteilten Stadt wie viele damals in den Westen übersiedeln wollte. Wir trafen uns in Hannover am Wochenende und auf langen Spaziergängen wurden wir handelseinig. Meine Frau, die gerade eine Freundin in Berlin besuchte, hatte mir noch geholfen, meinen Kandidaten unverstellt kennenzulernen. Als Testkäuferin war sie unerkannt in seine Drogerie gegangen und von dem jungen Zaiser hervorragend bedient und beraten worden. So konnte sie mir eine gute Beurteilung abgeben.
Der alte Geschäftsführer beschwerte sich bei meiner Mutter. Er müsse nun zwei Youngsters weichen, die noch grün hinter den Ohren und nicht einmal 30 Jahre alt seien. Aber wir schieden doch in Frieden mit ihm. Er wusste wohl selber, dass es so nicht weitergehen konnte. Die besagte Prokuristin schied mit ihm aus.
Zaiser krempelte den ganzen Betrieb überaus erfolgreich um. Das alteingeführte Großhandelsunternehmen nahm einen neuen Aufschwung. Ich arbeitete damals schon in der Zeitung in Hamm und verfolgte diese Entwicklung aus der Ferne mit Genugtuung. Eines Tages aber, es könnte 1972 gewesen sein, bat mich Herr Zaiser, nach Hannover zu kommen. Er führte mich in den ersten Selbstbedienungs-Drogeriemarkt von Dirk Roßmann in der Jakobistraße am Lister Platz. Mir ?elen die Augen aus dem Kopf. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Uns war schnell klar: Dieser eine neue Markt würde als Einzelhändler mehr Umsatz machen als wir mit unserem ganzen Großhandel. Die vielen kleinen und größeren Drogerien, unsere Kunden, würden nach und nach durch solche Drogeriemärkte verdrängt werden. Der Drogeriegroßhandel konnte in diesem Umfeld keine Zukunft mehr haben.
Nach eingehender Diskussion beschlossen wir noch am selben Tag, unsere Großhandelsfirma Kiepert & Kiepert zu verkaufen, solange es ging. Wir fanden als Käufer einen anderen Großhändler. Dessen Betrieb war zehn Mal so groß wie unser Unternehmen. Er glaubte, der von ihm nicht so ernst genommenen Entwicklung der Drogeriemärkte durch internes wie externes Wachstum mit Zukäufen erfolgreich begegnen zu können. Er zahlte uns einen sehr guten Preis. Und auch wenn davon natürlich ein Teil an Herrn Zaiser als Mitgesellschafter ging, konnte ich finanziell sehr zufrieden sein. Ich hatte den Wert der von den Geschwistern und von den fremden Gesellschaftern übernommenen "Klitsche" vervielfacht. Meine erste eigene unternehmerische Aufgabe war erfolgreich gelöst.
Aber hatte ich sie auch optimal gelöst? Oder hatte ich nur die Risiken und weniger die Chancen erkannt, die im Wandel der Drogeriebranche lagen?
Unsere Analyse war goldrichtig gewesen. Mit dem Wegfall der Preisbindung und dem Aufkommen der Drogeriemärkte hatte der Großhandel in dieser Branche keine Chance mehr, um zu bestehen.
Aber in dieser Anfangszeit der Umwälzung der Drogeriebranche hätten wir die Chance ergreifen sollen, auf diesen Zug aufzuspringen und wie Roßmann, Schlecker und andere Drogeriemärkte aufzubauen. Diese Möglichkeit haben wir nicht gesehen, uns so etwas auch nicht zugetraut. Dabei waren wir jung, Zaiser war ein erfahrener, sehr tüchtiger Drogist und zumindest ich hätte sogar etwas Kapital aus meinem Erbe gehabt, um den Aufbau zu finanzieren.
Bei aller Klarsicht verharrten wir zu sehr im konventionellen Denken. Mit dem Aufbau von Einzelhandelsmärkten hätten wir ja unseren bestehenden Kunden, den Drogisten, Konkurrenz gemacht. Die Kunden hätten uns das kaum verziehen. Wir hätten unser Unternehmen gefährdet, für das wir allerdings ohnehin kaum eine Zukunft sehen konnten. Trotzdem haben wir es nicht geschafft, über unseren Schatten zu springen.
Wer Unternehmer ist, als Inhaber oder in leitender Position in einem anvertrauten Unternehmen, der steht immer wieder vor solchen Herausforderungen. Den ständigen Wandel in der Wirtschaft gilt es nicht nur zu erkennen. Es kommt darauf an, für neue Verhältnisse neue kreative Lösungen zu finden und daraus Wachstumsmöglichkeiten zu entwickeln. Dazu gehört der Mut zur kreativen Zerstörung dessen, was ist. Diesen Mut aber hat fast niemand.
Das ist der Grund, dass Innovationen fast nie in etablierten Unternehmen entstehen, sondern in Garagen-Betrieben, die neu anfangen. Ja, es ist sogar so, dass diejenigen, die in einem etablierten, alten Geschäftsmodell besonders erfolgreich waren, die Letzten sind, die in eine neue Richtung gehen, wenn ein grundlegender Wandel erfolgt. Nur ganz wenige schaffen es, sich aus diesem Dilemma zu befreien.
Heute, am Ende meines langen Berufsweges im Zeitungsgeschäft, erlebe ich in dieser Branche durch die Internet-Revolution genau das im Großen, was ich als junger Mann im...