11Kapitel 1
Homer Simpson vs. Homo oeconomicus
Wie Sie dank der Verhaltensökonomie irrationale Kaufentscheidungen verstehen
12Erinnern Sie sich an Spock aus der TV-Serie "Star Trek"? Der Typ mit den langen, spitzen Ohren, der nie lacht?
Der wissenschaftliche Offizier an Bord des Raumschiffs Enterprise ist halb Mensch, halb Vulkanier. Das heisst: Er stammt väterlicherseits von einem Volk in den Weiten des Universums ab, das alle Gefühle unterdrückt und nur an die reine Logik glaubt.
Als der Verhaltensökonom Richard Thaler und der Rechtsprofessor Cass Sunstein 2008 den Bestseller "Nudge" veröffentlichten (eines der ersten Bücher, das die Erkenntnisse der Verhaltensökonomie einem breiten Publikum vorstellte), verglichen sie die Figur des hochrationalen Spock mit der aus einer anderen TV-Serie - Homer Simpson.
Homer ist irrational, emotional und unvernünftig. Und entspricht so der wahren Natur von uns Menschen viel mehr als der stets logisch deduzierende Spock. Tatsächlich gibt es den Homo oeconomicus der klassischen Wirtschaftslehre - diesen immerzu kühl kalkulierenden Nutzenmaximierer - genauso wenig wie das Volk der Vulkanier.
Das wissen auch die klassischen Ökonomen. Und doch beginnen Bücher über Verhaltensökonomie meist damit, dass sich die Autorin oder der Autor über die Vorstellung eines hochrationalen Homo oeconomicus lustig macht. Was für weltfremde Theoretiker diese klassischen Ökonomen doch seien. Und wie schlau die Verhaltensökonomen, die 13als erste entdeckt hätten, dass es den Homo oeconomicus überhaupt nicht gibt.
Homo oeconomicus: rational
Homer Simpson: emotional
Unvernünftige Entscheidungen
Die Wahrheit ist: Der Homo oeconomicus der klassischen Wirtschaftslehre ist eine theoretische Annahme, um das wirtschaftliche Verhalten von Menschen vorherzusagen. Und oft ist diese Annahme auch sehr praxistauglich. Aber oft eben auch nicht. Ich gebe Ihnen drei Beispiele:
- Wir verdienen lieber 80'000 Euro im Jahr und gehören damit zu den Top Dogs in der Firma, statt dass wir 100'000 Euro verdienen, aber weniger bekommen als die meisten unserer Kollegen.3
- Wir kaufen ein Produkt eher, wenn es 39,99 Euro kostet, als wenn wir es für 35 Euro haben könnten.4
- Wir fahren bei strömendem Regen ans andere Ende der Stadt, weil es dort das T-Shirt unseres Lieblingsvereins für 24 Euro gibt statt für 38. Aber dieselben 14 Euro Ersparnis sind uns egal, wenn in einem Laden ein Mantel für 686 Euro hängt, den es laut einem Freund am anderen Ende der Stadt für 672 Euro gibt.5
Erwartungsnutzentheorie
All diese ökonomischen Entscheidungen würden zwei Herren ziemlich nervös machen, wenn sie denn noch lebten: Oskar Morgenstern (1902-1977) und John von Neumann (1903-1957).
Die beiden Professoren sind die Väter der grundlegenden Entscheidungstheorie in den Wirtschaftswissenschaften - der Expected Utility Theory (Erwartungsnutzentheorie). Diese geht davon aus, dass wir immer den subjektiven Nutzen aller verfügbaren Entscheidungsoptionen berechnen und dann gezielt jene Option wählen, die den grössten erwarteten Vorteil verspricht.
Von Emotionen oder von der Art, wie Entscheidungsalternativen präsentiert werden, lassen wir uns dabei laut Morgenstern/von Neumann genauso wenig beeinflussen wie ein Computer. Tatsächlich gehen die 14beiden Begründer der Erwartungsnutzentheorie davon aus, dass unsere Berechnung des subjektiven Nutzens von Entscheidungsoptionen mit mathematischer Präzision erfolgt.6
Anspruch und Wirklichkeit
Da unser ökonomisches Handeln der Erwartungsnutzentheorie regelmässig widerspricht (siehe die Beispiele oben), entstand seit den 1970er-Jahren die Verhaltensökonomie, die die Irrationalität unserer wirtschaftlichen Entscheidungen untersucht. Oder anders formuliert: Die Verhaltensökonomie beschreibt, wie Menschen in ökonomischen Situationen wirklich entscheiden und handeln (deskriptiv). Statt nur zu empfehlen, wie sie entscheiden und handeln sollten (normativ).
Jetzt fragen Sie sich vielleicht: "Kann dieses Wissen über irrationale wirtschaftliche Entscheidungen nicht missbraucht werden?" Und ich muss ganz ehrlich antworten: Doch, das kann es. Ein verhaltensökonomisch geschulter Restaurantbesitzer könnte z. B. dafür sorgen, dass seine Gäste eine teurere Flasche Wein bestellen. Und zwar dadurch, dass er am Anfang der Weinkarte Flaschen für 200 Euro und mehr aufführt. Im Vergleich dazu wird ein Tropfen für 97 Euro wie ein Schnäppchen wirken. (Mehr über das, was Verhaltensökonomen Anchoring nennen, erfahren Sie im nächsten Kapitel.)
Vielleicht kennt der Restaurantbesitzer auch die im Vorwort erwähnte Pain of Paying und lässt darum auf der Weinkarte bei den Preisen das Währungszeichen weg (es steht also z. B. nur 83 statt EUR 83), denn so fällt es den Gästen leichter, Geld auszugeben. Tatsächlich zeigte ein Experiment, dass sich der durchschnittliche Bestellwert durch das Weglassen des Währungszeichens signifikant erhöht.7
Auch der Ober könnte sich die Erkenntnisse der Verhaltensökonomie zunutze machen und jeweils zwei Bonbons auf die Rechnung legen, denn in einem Experiment erhöhte sich so das Trinkgeld um durchschnittlich 14 Prozent.8 Vielleicht legt der Ober aber auch nur ein einzelnes Bonbon auf die Rechnung, läuft weg, dreht sich dann noch einmal um und sagt: "Weil ihr so nette Gäste wart, gibt es noch ein Extra-Bonbon!" In einem Experiment erhöhte sich so das Trinkgeld noch mehr - um durchschnittlich 23 Prozent.9
15Unmoralische Beeinflussung?
Ist das, was in diesem Restaurant vor sich geht, manipulativ? In einem gewissen Sinne ja. Aber sollten wir darum die Erkenntnisse der Verhaltensökonomie in den Giftschrank der unmoralischen Beeinflussungstechniken sperren? Davon abgesehen: Warum sich überhaupt über die Moral oder Unmoral der kommerziellen Nutzung verhaltensökonomischer Erkenntnisse den Kopf zerbrechen? Marketing hat die Aufgabe, ein Angebot möglichst oft und möglichst teuer zu verkaufen und so den Erfolg eines Unternehmens zu sichern. Mit welchen Mitteln dieses Ziel erreicht wird, ist sekundär - oder etwa nicht?
Betrachten wir das Thema aus einer anderen Perspektive. Nehmen wir an, Sie warten schon seit Jahren auf eine Spender-Niere. Aber es gibt in Deutschland einfach nicht genug Menschen, die bereit sind, ihre Organe zu spenden. Wenn Sie jetzt mit dem Wissen der Verhaltensökonomie dafür sorgen könnten, dass über Nacht fast alle Deutschen Organspender sind: Wäre das für Sie ebenfalls manipulativ? Oder würden Sie in diesem Fall einen psychologischen Effekt nutzen, den die Verhaltensökonomen Default Bias (Neigung zur Standard-Option) nennen?
Konkret: Da das Thema Organspende komplex ist, entscheiden sich die meisten Deutschen, sich nicht zu entscheiden. Was dazu führt, dass nur wenige Deutsche ihre Organe spenden, denn in Deutschland muss man einer Organentnahme explizit zustimmen (die Standard-Option ist die, dass man grundsätzlich kein Organspender ist). Ganz anders in Österreich, wo man eine Organentnahme explizit verweigern muss, was dazu führt, dass fast alle Österreicher ihre Organe spenden (die Standard-Option ist die, dass man grundsätzlich Organspender ist).10
Wissen ist Macht
Was ich damit sagen will: Ja, das Wissen der Verhaltensökonomie über das menschliche Entscheidungsverhalten wird täglich tiefer und umfassender. Und ja, dieses Wissen - wie jedes Wissen - verleiht Macht. Macht, die Unternehmen missbrauchen können, indem sie noch wirkungsvoller das betreiben, was die klassischen Ökonomen - also nicht erst die Verhaltensökonomen - "Verhaltenslenkung" nennen.
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Mehrwert durch Verhaltensökonomie: das Crowdfunding für die WinterCARD der Saastal Bergbahnen AG
Und doch bin ich überzeugt: Auf jedes Unternehmen, das mit den Erkenntnissen der Verhaltensökonomie zu Unrecht den einen oder anderen Euro mehr verdient, kommen mindestens genauso viele, die ihr Wissen über das menschliche Entscheidungsverhalten im Sinne ihrer Kunden nutzen. Indem sie nämlich Produkte und Dienstleistungen mit echtem Mehrwert schaffen.
Ein Hammerdeal
Ein Beispiel dafür ist die WinterCARD, die mein Geschäftspartner Marcus Gretener und ich für die Saastal Bergbahnen AG in der Schweizer Feriendestination Saas-Fee entwickeln durften.
Dabei handelte es sich um einen Saison-Skipass für 222 Franken (statt normalerweise über 1000), der durch ein Crowdfunding möglich wurde. Die verhaltensökonomischen Erkenntnisse, die wir uns zunutze machten (Marcus und ich nennen das Behavioral Business Design), waren unter anderem folgende:
- Bandwagon Effect (Nachahmungseffekt): Kunden kaufen, was andere Kunden auch kaufen. Zu Beginn der Aktion speisten wir darum die WinterCARD-Bestellungen von Wiederverkäufern ein (z. B. Hotels), um dem Crowdfunding Momentum zu verleihen.11
- 17Intensity Bias (Intensitätsverzerrung): Die Aussicht darauf, für nur 222...