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Redefreiheit: Ein Vorrecht, das allen Bürgern im Frieden und anderen ruhigen Zeiten, wenn nichts besonderes zu sagen ist, gewährt wird.1
Ernst Friedrich
Freiheit. Der Gedanke, über Wasserstraßen zum Meer und ins Unbegrenzte fliehen zu können, hat die Menschheit vermutlich begleitet, seit es Unterdrückung gibt. Die Seefahrt, der Aufbruch in die ewigen Weiten des Ozeans, wurde zur Metapher für diese Freiheit. Eine Existenz in einem Zustand fortgesetzter Liminalität: herausgelöst aus den erdrückenden Regeln einer Gesellschaft ohne Wagnisse, ohne Eigenverantwortung. Ohne Träume.
Vielleicht ist es kein Zufall, dass Ernst Friedrich, der Schiffe so sehr liebte, ausgerechnet in Breslau geboren wurde. Die niederschlesische Stadt an der Oder trägt stolz die Bezeichnung »Venedig des Nordens« - auf zwölf Inseln erbaut, ist sie vom Wasser geprägt. Rund 120 Brücken überspannen die Arme des Flusses, der sich wie ein breites, verästeltes Band durch die Stadt zieht: vorbei an gemauerten Kais, Promenaden und grasbewachsenen Ufern, wo hölzerne Terrassen zum Verweilen einladen. Studenten bevölkern die Universitätsstadt, trinken sich Mut für ihre Prüfungen an oder feiern ihre Erfolge. In barocker Pracht strahlen die Gärten auf der Dominsel, und abends zünden Nachtwächter die Gaslaternen an.
Friedrich wird in die Zeit des Fin de Siècle geboren. Die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ist eine Zeit des Umbruchs. Die Zukunft erscheint vielen beängstigend. Innergesellschaftlich wie zwischen den Nationen brodelt es. Die Arbeiter fordern mit neuem Selbstbewusstsein ihre Rechte ein. Immer wieder werden die sozialistischen Parteien verboten, versucht man, mit Zensur und Hausdurchsuchungen die Arbeiter einzuschüchtern. Doch der Geist ist aus der Flasche. Auch die Frauen stehen auf, eine weitere Widerstandsbewegung: Überall in Europa schießen die Frauenvereine aus dem Boden, fordern Wahlrecht, Universitätszugang, Straffreiheit für Abtreibung und manche gar - besonders schockierend - das Ende der Prostitution. Der Imperialismus hat sich zu Tode gelaufen. Auch die ausgepressten Kolonien beginnen, für ihre Unabhängigkeit zu kämpfen. Im Bemühen, die überall aufstrebenden Freiheitsbewegungen zu unterdrücken, wird Deutschland zur militaristischen Karikatur seiner selbst: Das Bild des die Hacken zusammenschlagenden Deutschen wird geboren. In Russland drohen die sozialen Spannungen zwischen der völlig verarmten Landbevölkerung und den urbanen Eliten das Land zu zerreißen. Das Gespenst der Anarchie geht um in Europa. Anarchismus hat ein schlechtes Image, gilt als eine Art Terrorismus - nicht zuletzt wegen Morden wie dem an der österreichischen Kaiserin Elisabeth im Jahr 1898. In Wahrheit liegen die Wurzeln des Anarchismus ganz woanders - nämlich in der Philosophie der Freiheit.
Freiheit auch vom Mief überkommener Moral. Die Lebensreform erreicht über Künstlerkreise hinaus ein größeres Publikum. Während die Jünglingsgestalten der künstlerisch-neureligiösen Bewegung des Klarismus in ihrer Nacktheit geradezu ins Heilige verklärt erscheinen, (homo-)erotisch und unschuldig zugleich, porträtieren andere wie Franz von Stuck die »Sünde« höchstpersönlich. Und im schweizerischen Ascona, am Fuße des Monte Verità, will man zur Natur und zum wahren Menschsein zurückfinden - weit weg von der kranken, künstlichen Welt der Städte.
Dies ist die Welt, in die am 25. Februar 1894 Ernst Paul Friedrich als jüngstes einer kinderreichen Familie geboren wird. Der Vater, Ernst Friedrich senior, ist gelernter Sattler, der später als Kassenbote und »Faktotum eines Bankdirektors« arbeitet. Ein strenger Mann mit Schnauzer und Brille, solide, mit kleinbürgerlichen Idealen. Entsprechend ist die Aussage Friedrichs, er sei das dreizehnte Kind einer Wäscherin gewesen, zumindest zugespitzt: Sie erweckt den Eindruck einer Proletarierfamilie, was vermutlich bewusst so inszeniert wurde. Später, in seiner Zeitschrift Die Schwarze Fahne, vergleicht Friedrich die Erfahrung eines Gefängnisaufenthalts mit seinen Kindheitserinnerungen, die das Bild einer alleinerziehenden Arbeitermutter evozieren: Die Mutter habe ihn zu Hause eingesperrt, wenn sie zur Arbeit ging, und versprochen, am Abend wieder zurück zu sein.
Ich aber blieb allein in der großen Stube mit meinem bangen, zitternden Kinderherzen.
Und wenn dann langsam der Abend hereinbrach, und seine schwarzen Schatten durch die großen Fenstergardinen geschlichen kamen und ins Zimmer huschten, dann wurde mir ganz schauerlich.2
Tatsächlich dürfte Friedrichs Hintergrund eher dem Kleinbürgertum zuzurechnen sein - eine Tatsache, die er aufgrund der tendenziell nationalistischen Prägung des Kleinbürgertums vermutlich gern verschwieg. Möglicherweise ist die Geschichte von der Mutter als Wäscherin sogar gänzlich erfunden: Ernst Friedrichs Nichte Charlotte Scheidler kann sich nicht erinnern, dass ihre Großmutter je Wäscherin gewesen sei. Vielmehr habe Ernst Friedrich als Kind sogar immer teures Spielzeug gehabt, weil der Vater von seinem Chef, dem Bankdirektor, ausgediente Spielsachen von dessen Kindern geschenkt bekam. Der Vater sei recht angesehen gewesen.3 Als Kassendiener eines Bankgeschäfts pflegte Friedrich senior einen durchaus seriösen, bürgerlichen Beruf. Ulrich Linse hebt hervor, das Kassenbotenmilieu sei bekannt dafür gewesen, auf Ordnung, Fleiß und Sparsamkeit Wert zu legen. Friedrich senior war ein überzeugter Vaterlandskämpfer, dessen Orden bei seiner Beerdigung auf einem Samtkissen getragen worden seien.4
Die Erziehung des jüngsten Sohnes dürfte der Zeit entsprechend streng gewesen sein. Eine frühe Fotografie zeigt den Vierjährigen in Matrosenuniform, gemeinsam mit drei älteren Brüdern: Fritz, Walter und Adolf. Verschlossene Kindergesichter über Uniformkragen, wie es in dieser Zeit in Deutschland üblich ist. Links unten sitzt Ernst Friedrich. Schon damals fallen die Augen auf, die später stechend und tiefdunkel aus dem regelmäßig geschnittenen Gesicht blicken werden. Namentlich bekannt sind die Schwestern Gertrud und Martha sowie die Brüder Bruno, Adolf, Emil, Fritz, Max und Walter, also insgesamt acht Geschwister Friedrichs. Er selbst sagt aus, das dreizehnte Kind gewesen zu sein. Es ist denkbar, dass weitere Geschwister nicht namentlich bekannt sind, vielleicht schon im Kindesalter starben. Seine Frau Charlotte spricht von insgesamt zehn Kindern.5 Ob die Zahlen nun stimmen oder nicht, kinderreich war die Familie in jedem Fall.
Ernst Friedrich als Vierjähriger (ganz links unten) mit seinen Brüdern Fritz, Walter und Adolf (von links)
Friedrich besucht nur die Volksschule, wie in kleinbürgerlichen Kreisen üblich. Bereits in der Grundschule zeigt der kleine Ernst Interesse an Theater und Literatur. Ursprünglich will er Zeichner oder Bildhauer werden. Doch eine solche Ausbildung kostet Geld - Geld, das seine Familie nicht hat. Die Volksschule und danach eine bezahlte Lehre sind alles, was die Eltern ihm ermöglichen können.6
Ernst Friedrich lehnt die Schule zutiefst ab. Als er später darauf angesprochen wird, dass er als gelernter Schauspieler nicht einmal Goethes Werther kenne, liefert er ein bissiges Porträt damaliger Schulbildung: In der Volksschule habe niemand über Werther gesprochen, der einzige Klassiker sei Schillers Wilhelm Tell gewesen. Aber auch den habe man nicht wirklich gelesen - nur ein paar Stellen auswendig gelernt und auf Kommando heruntergeplappert. Ansonsten habe der Lehrplan aus Kriegshetze bestanden, die den fünfzig Schülern in der Klasse per Rohrstock eingebläut worden sei.
In den Fabriken und Büros fragt man nicht nach Goethe und Schiller, sondern nach billigen Ausbeutungsobjekten, die man nach vier Lehrjahren wieder auf die Straße werfen kann.7
Schläge im Unterricht sind damals keine Seltenheit. Das wilhelminische Deutschland gilt bis heute als Inbegriff von Militarisierung, Utilitarismus und strenger Disziplin. Die Reichsschulkonferenzen von 1890 und 1900 hatten diese Schwerpunkte auch im Bildungswesen verankert: Im wilhelminischen Imperialismus hat die Schule eine konkrete Funktion im Staat. Es geht nicht um Selbstverwirklichung oder gar das Renaissance-Ideal eines umfassend gebildeten Individuums. Zweck der wilhelminischen Schule ist eine aufs Praktische gerichtete Ausbildung: die Produktion tauglicher Untertanen, die den Zielen des Kaiserreichs dienen und im ökonomischen Überlebenskampf möglichst erfolgreich bestehen können. Ausbilden statt Bilden. Verbetrieblichung, wie der Reformpädagoge Gustav Wyneken es nennt.8 Kurz: kein Raum für individuelle Begabungen, sondern eine Zuchtanstalt für fleißige Bienen. Untertanenproduktion von der Stange.
Entsprechend kommt es bei vielen während der Schulzeit und in den Jahren danach zu Selbstmorden. Ernst Friedrichs spätere Anklage gegen das Schulsystem ist also durchaus berechtigt: Auch die Brutalisierungsthese von George Mosse geht davon aus, dass Kinder in dieser Zeit bewusst nicht nur zu Untertanen erzogen wurden, sondern auch zu einer Akzeptanz von Gewalt, die durch Bilder und Kriegspropaganda bereits in Kinderbüchern vermittelt wurde. Durch die affektive wie kognitive Prägung über Bilddarstellungen sei die Akzeptanz von Gewalt schon früh in ihren Köpfen verankert worden.9...
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