Schweitzer Fachinformationen
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Eins · Ole
Sie steht vor der Mensa, einen Packen Flyer in der Hand. Blondes Strubbelhaar, spitze Nase, ärmelloses Top. Um sie herum flutet Sonnenlicht. So kurz vor den Ferien stehen dauernd Leute vor der Mensa und verteilen Flyer. Aber niemals Leute wie sie.
»Hey.« Leo rammt mir seinen Ellbogen in die Rippen. »Schau dir das an!«
Ich blinzele. Zwischen uns und ihr liegen fünfzig Meter Luftlinie, circa. Zu viel, um Einzelheiten zu erkennen. Trotzdem sehe ich alles ganz deutlich. Das goldene Leuchten, mittendrin sie, ihre Flyer, sogar ihre Augen. Besonders aber ihr Lächeln. Ein Lächeln wie eine Flutwelle. Ich könnte schwören, dass dieses Lächeln mir gilt. Auch wenn das komplett ausgeschlossen ist. Da sind so viele Menschen, und alle wollen sie zur Mensa. Ein paar aus meiner Vorlesung, Rucksackträger, Fahrradfahrer, kichernde Blondinen, ein Rastatyp auf seinem Hoverboard, Professoren. Und natürlich Leo. Das Lächeln rollt an, brandet über alles und jeden hinweg, wird groß und größer - und schlägt über mir zusammen. Raubt mir den Atem. Ich, Ole Jacobsen, bin derjenige, dem die Blonde ihren nächsten Flyer in die Hand drücken wird.
»Du, die meint mich«, raune ich Leo zu.
»Handy-Werbung. Wetten?«
Ich schüttele den Kopf, schüttele ihr Lächeln aus meinem Haar.
»Oder ein neuer Döner-Laden.«
»Nie!«
»Krankenversicherung für Studenten. RCDS. Historikerfete.«
Leo hat einen Blick für Leute, aber hier liegt er völlig daneben. Als wir endlich an der Mensa und damit am Ausgangspunkt des Lächelns ankommen, gibt es eine Duftwolke obendrauf, die perfekt dazu passt.
Und eine Frage: »Spielst du Geige?«
»Ich?«, sage ich.
Sie hat Sommersprossen, überall im Gesicht. Auch auf den Schultern.
»Das Uniorchester fährt kommende Woche nach Norwegen. Wir brauchen Geigen, und zwar dringend.«
Sie hält mir einen ihrer Zettel unter die Nase. Irgendetwas mit Musik steht darauf, mit Fjorden, Konzerten und Edvard Grieg. Es ist nicht viel Text, aber zu viel für mich in diesem Moment. Dieser Duft, was ist das überhaupt? Orange? Pfirsich? Sanddorn?
»Wir könnten versuchen, ihre Sommersprossen zu zählen«, höre ich Leo flüstern, »aber bis nächste Woche würden wir nicht fertig.«
»Wieso glaubst du, ich könnte Geige spielen?«, sage ich.
Sie zeigt auf meinen Hals. Lächelnd. »Na, deswegen.«
»Nicht rot werden!«, zischt Leo. »Nicht, verdammt!«
»Ach, das«, sage ich und werde rot.
»Das« ist mein Geigenfleck. Eine Art Stempel. Als ich mit dem Instrument anfing, so vor zehn, zwölf Jahren, reagierte meine Haut irgendwie beleidigt. Ihr passte es nicht, wie dieses lackierte Stück Holz an meinem Hals schubberte, und weil es ihr nicht passte, protestierte sie. Nach einem halben Jahr hatte ich im Knick zum Kinn eine rote Stelle, die nicht mehr wegging. Auch nicht, als ich auf Bratsche umstieg. Ich versuchte es mit Salben, mit Fettcreme, legte Pausen ein, einen Lappen drunter - nichts. Es wurde nur noch schlimmer. Der Fleck gewöhnte sich an mich, aber ich mich nicht an ihn. Und da bin ich nicht der Einzige. Wenn ich mal zum Arzt muss, wegen Grippe oder so, inspiziert der zuerst meinen Hals. Saugt sich regelrecht fest mit seinem Medizinerblick. Ist vom Geigen, sage ich und werde rot, jaja, murmelt der Arzt, weiß schon. Aber so groß! Und so entzündet! So profiliert! Respekt, junger Mann.
Stimmt ja auch. Das Teil wäre was fürs Museum. Oder den Pschyrembel. Breit, wulstig, dunkelviolett. Sichtbar aus fünfzig Metern Entfernung. Im Erdkundeabi, kein Witz jetzt, hat mir das Scheißding eine Vier eingebrockt. Fragt mich der Prüfer doch plötzlich nach der Entstehung der Mittelgebirge, völlig am Thema vorbei. Ärzte sind da professioneller, wollen aber gleich mit dem ganz großen Besteck ran, und wenn ich dann knallrot dasitze, glauben sie mir meine Grippe nicht mehr.
»Ach, das«, sage ich und werde rot. Leo verdreht die Augen.
»Uns sind fast alle Geigen abgesprungen. Wenn wir nicht wenigstens eine Handvoll zusammenkriegen, brauchen wir gar nicht erst zu fliegen. Wäre toll, wenn du zum Vorspiel kämst. Wirklich.«
»Das ist kein Geigenfleck.«
»Nein?«
»Ich spiele Bratsche.« Noch ein Grund, rot zu werden. Weniger wegen der Bratschen, die ja als Deppen des Orchesters gelten, sondern weil ich so schlecht spiele. Nicht rasend schlecht, also ich weiß schon, wie rum man das Gerät hält, aber viel schlechter, als es mein Geigenfleck vermuten lässt. Nach meinem Geigenfleck zu urteilen, müsste ich David Garrett sein, mindestens. Oder gleich ein komplettes Streichorchester. Bin ich aber nicht. Bloß ein unterdurchschnittlicher Hobbybratscher, der nie auch nur auf den Gedanken gekommen wäre, sich so was wie dem Uniorchester anzudienen.
»Bratschen haben wir genug, tut mir leid. Aber wenn du Bratsche spielst, kannst du auch Geige, oder?«
»Logo«, ruft Leo. »Norwegen, überleg mal!«
Ich starre auf den Flyer. Wann habe ich zum letzten Mal eine Geige in der Hand gehalten? Zu Konfirmationszeiten?
Leo rempelt mich mit der Schulter an. »Was gibt es da zu zögern? Norwegen! Lachse angeln, Elche gucken. Mitternachtssonne und Polarlichter!«
»Ihr braucht wirklich keine Bratschen?«, sage ich.
»Probier's einfach. Unter uns: Das Vorspiel ist eher pro forma. Flug, Übernachtungen, wir bekommen alles bezahlt. Und Norwegen im Sommer - ein Traum, sage ich dir.«
»Ich habe aber keine Geige«, sage ich. Leo rauft sich die Haare.
»Wir organisieren dir ein Leihinstrument. Daran soll es nicht scheitern.«
»Okay, dann.« Ich sage es tatsächlich: Okay, dann.
»Supi.« Sie tippt auf den Flyer und erklärt mir, bei wem ich mich zu melden habe. Reisedaten, Konzertorte und Programm stehen ebenfalls auf dem Zettel. Ihr Name leider nicht. Als ich den Wisch einstecke, bin ich hoffentlich nicht mehr ganz so rot wie vorher. Nur mein Geigenfleck glüht. Der weiß, was ihm jetzt droht.
»Dann bis dann«, sage ich.
»Freut mich«, strahlt sie und fixiert bereits den Nächsten, dem sie einen Zettel unterjubeln kann.
Leo schüttelt den Kopf. »Diese Augen!«
Und das stimmt. Wir sind schon ein paar Schritte gegangen, als mir etwas einfällt. Ich drehe mich um. »Was spielst du eigentlich?«
»Geige«, lächelt sie.
Geige. Ich starre auf die linke Seite ihres Halses. Da ist nichts, überhaupt nichts. Nicht einmal die kleinste Erhebung oder Unebenheit oder Rötung. Nichts.
Nur eine einsame Sommersprosse, die sich wohl in den Koordinaten vertan hat.
»Dann am Donnerstag. Aber das ist wirklich die letzte Möglichkeit.«
»Okay, danke.«
Und sonst? Üben. Wobei in meinem Fall »üben« das falsche Wort ist. Straflager trifft es eher. Schuften im Steinbruch der Violinliteratur. Wenn ich nicht gerade esse oder schlafe, spiele ich. Zuerst auf meiner Bratsche, die regelrecht verstört klingt, dann auf dem Leihinstrument. Tonleitern rauf und runter. Saubere Striche. Intonation. Bogenhaltung. Die komplette Grundausbildung, wie bei der Bundeswehr. Dienst am Vaterland.
»Scheiß Hilfslinien!« Fast hätte ich das Instrument gegen die Wand gekeult. Leo, der auf dem Sofa ein Nickerchen gemacht hat, tippt sich an die Stirn.
Die Geige gehört dem Vater eines der Orchestermitglieder, und es ist der wertvollste Gegenstand, den ich je in der Hand gehalten habe. Natürlich ist das Ding versichert, doppelt und dreifach sogar, trotzdem ist es ein schlechter Witz, mir so etwas anzuvertrauen. Mir. Einem Bratschenversager.
Das Instrument gibt sich alle Mühe, es ähnelt einem Premium-Leihwagen, der sich einfach nicht abwürgen lässt, auch wenn man sich noch so trottelig anstellt, ich aber schaffe es. Ja, ich schaffe es, diese verdammt teure, verdammt genial klingende Stradivari mitten in der Melodie abzumurksen. Erst sing-sing, dann krächz. Saite verfehlt, Bogen verrutscht, Ton verreckt. Bestimmt merkt der Besitzer sofort, wie ich seinen Liebling misshandelt habe.
Ich meine, es ist natürlich keine Stradivari. Höchstens im Vergleich zu meinen unterirdischen Fähigkeiten. Wir passen einfach nicht zusammen, sie und ich. Was unter Normalbedingungen ja auch kein Beinbruch wäre. In diesem Leben wird aus mir kein Virtuose mehr werden, nicht einmal ein brauchbarer Laienorchestergeiger. Das Problem ist, dass ich bei Madame Strubbelhaar im Wort stehe und am Donnerstag einen Vorspieltermin habe. Das ist die Lage.
Also: weiterüben. Scheiße.
»Wusste gar nicht, dass du so ein Jammerlappen bist«, gähnt Leo vom Sofa her.
»Dich hat keiner gefragt.«
Meinen Vater hat auch keiner gefragt, trotzdem ruft er an. Ob ich noch Literatur bräuchte, für die Fallbearbeitung. Wenn ich welche bräuchte, solle ich mich nur an ihn wenden. Vertrauensvoll sozusagen. Er habe ja alles an Literatur, fast alles, nicht wahr.
»Ja«, sage ich. In der einen Hand halte ich das Telefon, in der anderen Geige und Bogen.
»Also brauchst du noch Bücher?«
»Nein.«
»Welche? Du musst es nur sagen, Junge.«
»Schon okay, Papa.«
»Du weißt, ich stehe jederzeit zur Verfügung. Auch bei der Gliederung. Die Gliederung ist schwer, vielleicht sogar das Schwerste. Hast du schon mit der Gliederung angefangen?«
»Dann solltest du morgen oder spätestens übermorgen .«
»Papa, ich fahre nach Norwegen. Also vielleicht.«
Stille am...
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