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Karlmanns Hütte stand noch, als er von der Leiterin der Bürgerversammlung, einer Frau Sandweber, begrüßt wurde. Karlmann, der Politiker, war viel zu routiniert und selbstbewusst, um Unsicherheit zu empfinden, aber er wusste, dass die Stimmung im Saal gegen ihn war. Er sah in skeptische, besorgte, finstere Gesichter. Er sah Menschen, die ihn gewählt hatten und die ihn höchstwahrscheinlich nicht mehr wählen würden. Er sah Kurt Bosslet, seinen Parteikollegen, und er wusste, der wird mich in die Pfanne hauen. Karlmann griff nach einem Glas Wasser. Eine flüssige Argumentation, schoss es ihm durch den Kopf, das war es, was er jetzt brauchte.
»Und so danken wir ganz besonders unserem Landrat, Herrn Dr. Karl-Josef Brix, für sein Kommen.«
Die schokoladenweiche Stimme der Sandweber umspülte ihn, als er das Glas absetzte. Höflicher Applaus. Der Gemeindesaal von Dürrweiler war voll besetzt. Junge Eltern hatten ihre Kinder mitgebracht. Neben der Sandweber saßen weitere Sprecher der Initiative, allesamt parteilos, soweit Karlmann das beurteilen konnte. Ganz außen Dürrweilers Bürgermeister, der dicke Petry.
Petry machte den Anfang. Erläuterte, wie sich die Gemeinde die Unterbringung der Flüchtlinge vorstellte. Die alte Krone als ideale Auffangstätte. Renovierung der oberen Stockwerke. Aufteilung der Gaststube in Wohn- und Schlafräume. Viereinhalb Quadratmeter pro Person. Nutzung der Küche. Und so weiter. Die zentrale Lage, mitten im Ort. Die Kosten. Herausforderung, gleichzeitig Chance. Er appelliere.
Die Sandweber dankte. Sie trug Kostüm, hochhackige Schuhe, ihr Haar schimmerte kastanienbraun. Die Siggi. Karlmann kannte sie gut, zu gut vielleicht. Man wusste ja nie, welche Geschichten von früher der andere noch parat hatte. Um Politik hatte sich die Siggi nie gekümmert. Sie war in der Werbebranche tätig und das, wie man hörte, recht erfolgreich. Eigentlich schön, wenn sich solche Leute neuerdings Sorgen ums Gemeinwohl machten. Trotzdem dachte Karlmann jedes Mal voller Verachtung, das sind also diejenigen, die uns ins Handwerk pfuschen wollen. Sie übergab ihm das Wort.
Er nickte und legte los. Nannte die Zahlen, die längst bekannt waren: 34 Flüchtlinge. Syrer, Libyer, Somalier, Eritreer sowie einige Kosovaren. Zum Teil mit Familie. Die Zusammensetzung könne sich kurzfristig ändern. Man sei in diesem Fall nur Befehlsempfänger. Das Land teile zu, der Kreis suche geeignete Standorte aus.
Schon kamen die ersten Wortmeldungen.
»Ich frage mich, ob Dürrweiler ein geeigneter Standort ist. So ein kleiner Ort, und dann gleich 34 Personen.«
»Die Nachbargemeinden nehmen keine.«
»Und alle auf einem Haufen, das geht nicht gut. Das kann nicht gut gehen. Warum kein dezentraler Ansatz?«
»Ich verstehe das«, sagte Karlmann. »Aber eine zentrale Unterbringung hat Vorteile. Viele Vorteile. Zunächst eine Minimierung der Kosten. Die Flüchtlinge können sich gegenseitig helfen. 34, das klingt erst einmal viel, doch ich bin überzeugt, dass die Bürgerinnen und Bürger von Dürrweiler diese Herausforderung meistern.«
»Die aus dem Kosovo bekommen doch eh kein Asyl.«
Haben aber ein Recht auf Prüfung ihres Antrags. Wie alle anderen.
»Kann man darauf achten, dass es nicht nur junge Männer sind? Sondern auch Frauen, Ältere, Kinder?«
Liegt nicht in unserer Hand.
Leichte Unruhe. »Herr Landrat, das ist genau das, was uns ärgert, uns Bürger: dieses Gefühl von Ohnmacht. Den Entscheidungen von oben ausgeliefert zu sein. Ohne etwas tun zu können.«
»Absolut nachvollziehbar. Allerdings tun Sie ja etwas: diese Bürgerversammlung abhalten. Ich kann Ihnen versichern, Ihre Bedenken werden eingehend geprüft, es kann also durchaus sein, dass es noch zu Änderungen .«
»Aber in der Krone wird doch schon gearbeitet! Unten werden Wände eingezogen.«
Die Sanierung der Krone stand ohnehin an. Unabhängig von der Flüchtlingsfrage. Richtig, Herr Bürgermeister?
»Naja.« Petry wackelte mit dem Kopf.
Karlmann lehnte sich zurück. Mit Petry gab es klare Absprachen. Wenn der jetzt kniff, konnte er sich auf etwas gefasst machen. Dann landeten die nächsten Anträge der Gemeinde ganz unten auf seinem Stapel. Auch wenn es die Heimatgemeinde des Landrats war.
Kurt Bosslet bat um Gehör. Karlmann straffte sich. Kurts Gesundheit war angegriffen, das sah man, man sah aber auch das Feuer, das in seinen Augen brannte. »Karlmann«, sagte er, rief er eher, »Karlmann, hör zu. Wir müssen hier nicht um den heißen Brei herumreden. Du weißt so gut wie ich, dass es an dem Beschluss nichts mehr zu rütteln gibt. Höchstens an der Zahl der Asylanten, die nach Dürrweiler kommen. Aktuell ist von 34 die Rede. Warum wird dann die Krone für 55 Personen ausgebaut? Das solltest du den Leuten hier erklären.«
Jetzt wurden die Unmutsbekundungen lauter. Bevor Karlmann antworten konnte, ergriff Bürgermeister Petry, der sich offenbar ebenfalls angesprochen fühlte, das Wort.
»Die Zahl ist richtig, Kurt, aber sie ändert nichts an der Tatsache, dass Dürrweiler maximal 34 Flüchtlinge aufnehmen wird. Was mit den restlichen Räumen geschieht, wer sie nutzt, wie sie belegt werden, das ist alles noch offen.«
»Das ist doch Verarsche!«, rief jemand. Frau Sandweber mahnte.
»Der Herr Bürgermeister hat recht«, sagte Karlmann. »Es gibt eine räumliche Überkapazität in der Krone, über deren Nutzung noch nicht abschließend entschieden wurde. Man kann es auch so sehen: Statt der möglichen 55 Flüchtlinge bringen wir nur 34 unter.«
Das quittierten einige mit Hohngelächter. Karlmann schenkte sich Wasser nach. In der ersten Reihe hob ein jüngerer Mann die Hand.
»Ich möchte mal einen anderen Aspekt zur Sprache bringen, den der Sicherheit. Verstehen Sie mich nicht falsch, aber ich denke an meine Kinder, und der Kindergarten ist nur 100 Meter von der Krone entfernt. Sehen Sie, ich habe nichts gegen Ausländer«, er wurde rot und kam ins Stottern, »ich glaube, niemand hier hat etwas gegen Ausländer, und wir wollen den Flüchtlingen ja auch helfen, aber wer kann uns garantieren, dass da keine . es gibt ja immer solche und solche, unter allen Menschen.«
Jetzt gab es kein Halten mehr. Das Statement des jungen Mannes war der sprichwörtliche Schneeball, der die Lawine auslöste. Die Hände schossen geradezu in die Höhe. Verständnisvoll nickend nahm Karlmann entgegen, was an Angstbekundungen auf ihn einprasselte. Angst in sämtlichen Schattierungen: um die Kinder, um das Dorf, die Gemeinschaft, die Werte, den Ruf, die Wirtschaft, den Zusammenhalt. Karlmann wartete auf fremdenfeindliche Äußerungen, auf ein böses Wort gegen die Flüchtlinge. Es fiel keines, was er insgeheim bedauerte. Rassismus konnte man bekämpfen, mit moralischer Verve und rhetorischem Glanz. Dieses schwammige Unbehagen dagegen glitt ihm durch die Finger. Ein Bürgerversteher war Karlmann nicht.
Deshalb atmete er erleichtert auf, als einmal, ein einziges Mal, ein Alter doch aus der Rolle fiel. Den Ausländern bliesen sie es in den Arsch, rief der Mann, und die Deutschen müssten von Hartz IV leben. Sofort plusterte sich Karlmann auf, aber die Sandweber war schneller.
»Ich bin sehr froh«, fuhr sie dazwischen, »dass wir den Mut gefunden haben, unsere Sorgen in dieser Form zu äußern. Dabei soll es auch bleiben, und deshalb möchte ich bitten, jede Art von Aussage zu unterlassen, die als Ausdruck einer ausländerfeindlichen Haltung interpretiert werden könnte. Dürrweiler liegt nicht in Sachsen, wenn Sie verstehen, was ich meine.« Großer Beifall, Rufe der Zustimmung. Sie wartete, bis sich der Applaus gelegt hatte, um dann fortzufahren: »Innerhalb unserer Initiative sind wir uns einig, und zwar zu hundert Prozent, dass etwas für die Menschen von auswärts getan werden muss. Nur was genau, ist die Frage. Aus diesem Grund appelliere ich an die Politik - Herr Bürgermeister, Herr Landrat -, die Sorgen und Bedenken der Bevölkerung, wie sie hier und heute geäußert wurden, ernst zu nehmen. Ein solcher Schritt, 34 ortsfremde Personen hier bei uns .«
»Oder 55«, rief Kurt.
»Eine größere Gruppe von Menschen«, lächelte die Sandweber, »hier zu integrieren, erzeugt zwangsläufig Reibungen, da sind Konflikte vorprogrammiert. Denken Sie an die zahlreichen kulturellen Unterschiede. Diese Botschaft möchten wir unseren politischen Vertretern mit auf den Weg geben.«
Karlmann starrte sie von der Seite an. Genauer gesagt, schielte er, seit die Sandweber sprach, auf ihren Busen. Sie hatte sich, vermutlich aus Konzentrationsgründen, ein wenig vorgebeugt, so dass ihr Blazer weit von der Brust weg stand und den Blick auf das Darunterliegende freigab. Viel Kleidung war da nicht. Ein Hauch von einem BH, ansonsten sattes, pralles Leben. >Schau an, die Siggi<, fuhr es ihm durch den Kopf, und er erinnerte sich an die Zeiten, als er mit der Hand dorthin gelangt hatte, wo jetzt sein Blick wilderte. Nicht allzu oft war das gewesen, auch keine nachhaltige Erfahrung, vor allem aber: lange her. Trotzdem wurde ihm ein bisschen wehmütig zumute, wenn er daran dachte, dass sie sich hier den Mund wegen irgendwelcher Albaner und Somalier fusselig redeten, während man einen Abend doch auch ganz anders verbringen konnte. Ohne ständiges Argumentieren und Abwägen, ohne das Diktat des Verstandes. Er spürte, wie er unruhig auf seinem Stuhl hin- und herrutschte, wie sein Becken...
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