Schweitzer Fachinformationen
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Katrin Imbierowicz
Zunächst ist es naheliegend, die Indikation zur stationären Behandlung vom Schweregrad der Erkrankung abhängig zu machen, wobei der BMI nur einer von mehreren Faktoren ist, die den Schweregrad einer Anorexie ausdrücken.
Im vorangegangenen Kapitel wurden die formalen Diagnosekriterien, inklusive Möglichkeiten einer Risikoeinschätzung zum Schweregrad, vorgestellt. Diese Risikoeinschätzung nach ICD-11 in »niedriges« (6B80.0) und »gefährlich niedriges« (6B80.1) Körpergewicht ist bereits eine wichtige Entscheidungshilfe für die stationäre Therapieempfehlung.
Die Deutsche Gesellschaft für Essstörungen empfiehlt darüber hinaus folgende Indikationen, die jede für sich eine stationäre Behandlung erforderlich machen (Herpertz et al., 2019):
Verlust von mehr als 30?% des Ausgangsgewichts, vor allem bei rascher Gewichtsabnahme (innerhalb von drei Monaten oder weniger)
Unterschreiten eines Gewichts von BMI < 14 kg/m2
Ausgeprägte körperliche Folgeerscheinungen, z.?B. Elektrolytentgleisungen, Hypothermie, Hinweise auf ein erhöhtes kardiales Risiko, Niereninsuffizienz
Schwerwiegende Begleiterscheinungen, z.?B. durch die Essstörung bedingte schlechte Stoffwechselkontrolle bei Diabetes mellitus
Natürlich kann aber auch ohne diese Kriterien eine Indikation zur stationären Behandlung vorliegen. So lehnen niedergelassene Therapeutinnen eine ambulante Behandlung unterhalb eines BMI von 15 kg/m2 meist ab, sodass schon ab einem BMI < 15 kg/m2 stationär behandelt werden muss. Für Patientinnen im BMI-Bereich zwischen 14 kg/m² und 16 kg/m² ist die Indikation zur teilstationären Behandlung zu prüfen, wenn eine ambulante Therapie nicht erfolgreich war, nicht verfügbar ist oder von den ambulanten Kolleginnen aufgrund der Symptomschwere abgelehnt wird. Trägt das soziale Umfeld deutlich erkennbar zur Aufrechterhaltung der Symptome bei, ist aber auch in diesen Fällen eher an eine stationäre Behandlung zu denken. Bezüglich der BMI-Grenzen gilt es, klinikinterne Besonderheiten zu beachten und diese vorab zu erfragen, um Zeitverzögerungen zu minimieren.
Das Lebensumfeld ist auch mittelfristig mitzubetrachten. Finden hier krankheitsaufrechterhaltende Interaktionen statt, kann die stationäre Behandlung zunächst eine Zäsur und einen Einstieg in die Therapie ermöglichen, muss dann aber auch die nachstationäre Planung der Wohn- und Lebenssituation frühzeitig durch Sozialarbeit und Angehörigengespräche einleiten.
Die im vorangegangenen Kapitel beschriebenen, häufig vorliegenden Komorbiditäten, können ebenfalls eine stationäre Behandlungsnotwendigkeit bedingen, z.?B. eine depressive Antriebsstörung oder eine soziale Phobie, die eine ambulante Therapie verzögern oder unmöglich machen können oder den Schweregrad erheblich erhöhen. Im Falle einer ausgeprägten komorbiden Substanzabhängkeit oder einer Psychose, sollten diese zunächst suchttherapeutisch, bzw. psychiatrisch vorbehandelt werden, wenn kein internistischer Behandlungsvorrang besteht.
Bei Kindern, Jugendlichen, langjährig Erkrankten und bei Betroffenen mit komorbidem Alkoholgebrauch, sollte die Indikation zur stationären Behandlung eher früh gestellt werden, um ungünstige Verläufe, psychosozial wie körperlich, zu vermeiden (Papadopoulos, 2009).
Beim Binge-Purging-Typ muss das höhere Risiko von Elektrolytentgleisungen gegenüber dem restriktiven Typ beachtet werden (Baenas et al., 2024). Auch die Schwere weiterer Symptome spielt für die körperliche Verfassung neben dem BMI für die Behandlungsindikation eine wichtige Rolle (Herpertz et al., 2019). So sind die Frequenz der Fastentage, der Trinkmenge (da manche Patientinnen auch das Trinken einstellen oder exzessiv betreiben), des Erbrechens sowie Art und Menge einer missbräuchlichen Medikamenteneinnahme dringend detailliert zu explorieren, um eine Einschätzung vornehmen zu können. Sind die physiologischen Reserven der Patientin so erschöpft, dass eine starke motorische Verlangsamung auffällt, sie sich z.?B. selbst kaum die Schuhe zubinden oder eine Jacke anziehen kann, ist ebenfalls Vorsicht geboten.
Merke
Für die Frage, wie rasch bei Vorliegen einer Indikation für eine stationäre Behandlung die stationäre Aufnahme zeitlich erfolgen muss, ist überwiegend die körperliche Gefährdung ausschlaggebend.
Die Beurteilung der körperlichen Situation sollte umfassen:
Wiegen,
Messen der Körpergröße,
körperliche Untersuchung inklusive Erfassung von Größe und Gewicht,
Laboruntersuchungen (Elektrolyte, Blutzuckertagesprofil, Transaminasen, Gesamteiweiß, Nierenfunktionswerte, Differentialblutbild),
und bei stark untergewichtigen Patientinnen oder anderen Hinweisen, wie peripheren Ödemen oder Störungen im Eiweißhaushalt einen Herzultraschall zur Einschätzung eines Perikardergusses (vgl. auch ? Kap. 4.6: Somatisches Work-Up).
Besteht aus körperlichen Gründen eine sofortige Behandlungsnotwendigkeit oder sollte wegen der Gefahr eines Refeeding-Syndroms das Ernährungsmanagement in den ersten Tagen unter somatischem, und bei symptomatischem Refeeding-Syndrom sogar intensivmedizinischen Monitoring stattfinden, ist eine internistische oder, falls verfügbar, internistisch-psychosomatische stationäre Behandlung vorzuschalten (? Kap. 4.6: Das Refeeding-Syndrom).
Ist die Erkrankung sofort vollstationär behandlungspflichtig und die Patientin weigert sich entschieden, ist eine Behandlung auch gegen den Willen der Patientin einzuleiten, bis zumindest eine Teilmotivation zur freiwilligen internistischen oder psychosomatischen Therapie vorliegt (? Kap 7: Anorexia nervosa und freie Willensentscheidung).
Da es gerade beim Krankheitsbild der Anorexie aufgrund der internistischen Komplikationen und Komorbiditäten manchmal nicht nur schwer ist zu entscheiden, wann eine stationäre Behandlung sinnvoll ist, sondern auch, welche Fachdisziplin dafür zum Entscheidungszeitpunkt erforderlich ist, möchten wir basierend auf unseren klinischen Erfahrungen mit der Übersicht im folgenden Kasten eine orientierende Entscheidungshilfe geben.
Vorschläge für Differentialindikationen zu Art und Dringlichkeit der stationären Behandlung in verschiedenen Settings
Indikationen zur stationären Behandlung in einer Psychosomatischen Klinik mit Wartelistenoption (mind. ein Kriterium muss erfüllt sein):
Gewichtsverlust > 30?% in < drei Monaten
BMI < 14 kg/m2
Internistische Komplikationen, die nicht Punkt 2 erfüllen
Dysfunktionelles häusliches Umfeld
Ambulant nicht ausreichend behandelbare psychische Komorbidität, v.?a. Depression, Angststörung oder Traumafolgestörung
Gewichtsabnahme unter ambulanter Behandlung
Ambulante Psychotherapie nicht ausreichend zeitnah und erreichbar verfügbar
Indikationen zur sofortigen stationär internistischen Behandlung (mind. ein Kriterium muss erfüllt sein):
Akut bedrohlicher Elektrolytmangel
Hinweise auf gravierende Organinsuffizienzen
Ausgeprägte körperliche Schwäche
Unmittelbare und hohe Gefahr eines Refeeding-Syndroms
Indikationen zur sofortigen stationären Behandlung in beschütztem Setting bzw. zur stationär psychiatrischen Behandlung oder (je nach Symptomatik elektiven) suchttherapeutischen Behandlung, ggf. mit internistischer und/oder psychosomatischer konsiliarischer Begleitung (mind. ein Kriterium muss erfüllt sein):
Akute Lebensgefahr ohne Behandlungseinsicht und -bereitschaft
Akute psychotische Symptomatik
Suchterkrankung, nicht abstinent (außer Nikotin oder essstörungsassoziierte Süchte wie Laxanzienabusus)
An dieser Stelle muss eine Besonderheit der Versorgungssituation angefügt werden. Im Erwachsenenbereich finden sich spezialisierte Behandlungsprogramme für Patientinnen mit Anorexia nervosa in Deutschland, in der Regel in Kliniken für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie. Diese sind finanziell und strukturell jedoch (leider) bisher nur selten ausreichend ausgestattet, um Notbetten vorzuhalten, eine umfassende und lückenlose internistische Überwachung sicherzustellen oder eine Zwangsbehandlung durchzuführen. Zudem sind Indikationen zur sofortigen Aufnahme bei Anorexie in der Regel durch internistische Komplikationen oder durch akute Eigen- bzw....
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