Schweitzer Fachinformationen
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Das Kind, das an dem Tag womöglich ein Rennauto streifte und womöglich gegen die Mauer einer Villa prallte, war nunmehr vierzig Jahre alt und fuhr dieselbe Straße in die entgegengesetzte Richtung entlang.
Es war Herbst, und Blätterhaufen stoben an beiden Seiten des Konkubinen-Tunnels vorbei.
Die zwei Hypothesen, die einen gemeinsamen Kern hatten, nämlich, dass er damals fünf Jahre alt gewesen war und ein Herz sowie ein Fahrrad besaß, waren in eine Existenz gemündet, die anfangs ruhig verlaufen und nach seinem dreißigsten Geburtstag immer komplizierter geworden war. Shuichi führt die Schwierigkeiten seines Erwachsenenlebens auf seine eigene Nachgiebigkeit zurück. Er war bereit gewesen, sich mit der Welt zu verbinden, hatte sich in eine Frau verliebt, hatte mit überraschender Leichtigkeit ein Ja nach dem anderen ausgesprochen.
Mit vierzig war er immer noch unschlüssig, ob er diese Lebensphase als einen Fehler oder als ein einzigartiges Glück betrachten sollte.
Shuichi erreichte das Haus, in dem er aufgewachsen war, außer Atem und mit pochendem Herzen. Er sah, dass die Pforte nur angelehnt war, und fragte sich, ob in den drei Wochen, seit denen das Haus nun leer stand, vielleicht ein Tier in den Garten eingedrungen war.
Traurigkeit überkam ihn bei dem Gedanken, dass er noch nie zur Tür des Hauses gekommen war, ohne dass ihm seine Mutter bereits von drinnen ein »Willkommen« entgegenrief.
Erst als es ihm nicht gelang, den Schlüssel ins Schloss zu schieben, verwarf er die Idee, ein Tier könnte eingedrungen sein. Jemand hatte versucht, die Tür gewaltsam zu öffnen, und dabei den Schlüssel abgebrochen.
Die Sache mit dem abgebrochenen Schlüssel ließ sich noch am selben Tag beheben. Shuichi rief den Schlüsseldienst und erstattete Anzeige.
Das Gefühl, dass jemand versucht hatte, ins Haus zu gelangen, beunruhigte ihn dennoch weiterhin. Wer war es wohl gewesen? Und vor allem, wer besaß einen Schlüssel? Soweit er wusste, gab es nur zwei Kopien, eine davon hatte die Nachbarin und die andere er selbst.
Seit der Beerdigung seiner Mutter waren drei Wochen vergangen. Shuichi hatte diese Zeit genutzt, um die Landkarte seiner Beziehungen, Gewohnheiten und beruflichen Verpflichtungen neu zu vermessen, und war nach zwölf Jahren in Tokio zurück nach Kamakura gezogen. Er wollte sein Elternhaus renovieren, um es danach zu verkaufen oder zu vermieten.
Er wusste, dass die einzige Möglichkeit, sich von Dingen zu trennen, die war, sich wie jemand zu verhalten, der das Haus nicht kannte. Ohne Erinnerungen war man entschlossener und effizienter.
Er ließ einen Handwerker kommen, nicht weil er es allein nicht geschafft hätte, aber weil ein Unbekannter an seiner Seite ihm dabei half, die Aufgabe neutral anzugehen.
Es war eine äußerst mühsame Arbeit. In den Zimmern befanden sich Tausende, Zehntausende Gegenstände. Der Glaube seiner Mutter an Dinge machte ihn ratlos. Es schien, als habe sie sich ihnen vollständig anvertraut, damit das Leben der Familie besser aussah, als es war.
Shuichi begann damit, alles zusammenzutragen, was mit dem Alltag zu tun hatte: Vorräte, Putzmittel, Handtücher, Medikamente. Er warf auch alles weg, was noch brauchbar war, in der Überzeugung, dass jede Ausnahme nur dazu führen würde, dass er gar nichts mehr wegwarf. Die Dinge, die seiner Mutter gehört hatten, verpackte er in nummerierte Kartons, die er in die Garage räumte; das Auto, das seit Jahren nicht mehr benutzt wurde, verkaufte er.
Innerhalb von zwei Tagen löste er mit Hilfe des Handwerkers überall die Tapete von den Wänden: Der Geruch nach reifen Äpfeln, der seine Kindheitserinnerungen bestimmte, wurde schwächer. Dann ließ er Bad und Küche erneuern, ersetzte die Tatamimatten, ließ das Parkett neu verlegen und neue Jalousien anbringen.
Jeden Tag schien das Haus sein Aussehen zu verändern, das Überflüssige und die Erinnerungen endgültig loszuwerden. Doch jeder Tag verging, ohne dass die Arbeit wirklich beendet war.
Manchmal hatte er das Gefühl, seine Mutter zu sehen. Eines Nachmittags sah er sie in der Küche stehen, um die fünfzig Jahre alt, und den Topf aufräumen, den sie jedes Jahr zum Einkochen der umeboshi-Pflaumen nutzte; eines Abends hingegen sah er, wie sie sich als alte Frau an der Wand abstützte, um ins Bad zu gehen; schließlich sah er sie im Garten unter der Eiche als blutjunge Frau, wie sie ihn auf der aus einem Holzbrett und Seilen selbstgebauten Schaukel anschubste.
In diesen wehmütigen Momenten holte Shuichi seinen Zeichenblock hervor, setzte sich auf die Veranda und zeichnete sie genau so, wie er sie gesehen hatte. Immer lächelnd, immer unerklärlich gelassen.
Wo andere fotografiert hätten, hatte er sich immer schon mehr auf seinen Bleistift verlassen und vor allem auf seine Fähigkeit, das zu sehen, was einmal war und nicht mehr ist.
Wenn er in diesen Tagen die Straße zum Konkubinen-Tunnel hinauf- und hinunterlief, hatte Shuichi den Eindruck, jemand beobachte ihn. Mehrmals drehte er sich um, aber er sah nie jemanden.
An einem Sonntag dann, zwei Wochen nach seiner Rückkehr, ging er am Friedhof vorbei und betrachtete sein Haus aus der Ferne. Als begutachtete er es zum ersten Mal, befand er den Gesamtzustand für zufriedenstellend, und doch war es ihm noch immer zu vertraut. Ihm kam die Idee, es neu streichen zu lassen. Erst jetzt wurde ihm klar, was er eigentlich im Sinn hatte: das Haus zu verändern, es so zu entfremden, dass er sich davon trennen konnte.
In diesem Moment bemerkte er einen Schatten vor der Tür.
Er blieb stehen. Sein Blick folgte der Gestalt, die ums Haus schlich. Sie guckte auf der falschen Seite durch die Fenster, schien den Eingang zu suchen.
Shuichi tat nichts. Er trat nur so nah heran, bis er erkennen konnte, dass der Schatten zu einem Jungen gehörte und dass dieser Junge das Haus sehr gut kannte.
Als er ihn mit der alten Gießkanne seiner Mutter aus dem Schuppen kommen und dann damit und einer Tasche, die voller Bücher und Krimskrams zu sein schien, in den Tunnel huschen sah, stieg er weiter den Hügel hinauf.
Er erreichte den Tunnel und spähte hinein, aber der Junge war verschwunden.
Als junger Mann war Shuichi oft in der Morgendämmerung zum Meer gefahren, das Surfbrett seitlich am Rad befestigt, während der Fuji rechts hinter der Halbinsel von Inamuragasaki aufragte. Es schien, als würde der Berg jeden Morgen aufs Neue vom Meer geboren. Er konnte das Gefühl, wenn er mit dem Surfbrett ins Wasser stieg, den gewaltigen Berg vor Augen, nur beschreiben, indem er zugab, dass er keine Worte dafür fand.
Auch als Erwachsener, als er bereits in Tokio wohnte, kam er an den freien Wochenenden nach Kamakura zurück und verbrachte den Samstag und den Sonntag damit, zwischen den Tempeln umherzuwandern oder sich an den Strand zu setzen und zu zeichnen. Manchmal nahm er auch das Rad und fuhr bis zur Enoshima-Insel, kletterte dort bis zum Gipfel und verlor sich zwischen der Lärmkulisse der Touristen und dem Horizont.
Wenn er heimkam, erwartete ihn seine Mutter schon im Garten, genauso besorgt wie in seiner Kindheit, wenn sie sein Herz abhörte. »Wie war das Meer heute?«, wollte sie wissen. Dann fühlte sie seinen Puls und fragte ihn, ob er etwa schwer atme. »Ja, aber das liegt daran, dass ich bergaufgegangen bin«, erwiderte er dann jedes Mal, und jedes Mal glaubte sie es ihm nicht.
Mit achtzehn war Shuichi an der Kunstakademie in Tokio angenommen worden. Um keine Miete zahlen zu müssen, pendelte er von Kamakura aus, aber die Stunde Zugfahrt war ihm keine Last. Am Bahnhof anzukommen und die blauen Berge wiederzusehen, entschädigte ihn für alles.
Obwohl sie im selben Haus wohnten, begegneten sich Shuichi und seine Mutter dank ihrer unterschiedlichen Tagesabläufe nur selten. In großen Abständen hatten sie immer wieder versucht, ihre Gewohnheiten aufeinander abzustimmen: das Frühstück, das zum Mittagessen wurde, nächtliche Gespräche im kotatsu, yuzu-Tee, um imaginären Halsschmerzen vorzubeugen. Die Zuneigung, die anfangs in Form minutiöser Fürsorglichkeit ausgesät worden war, war gewachsen und hatte im Laufe der Jahre eine solche Fülle an Blüten und Früchten hervorgebracht, dass sie keiner besonderen Aufmerksamkeit mehr bedurfte.
Shuichi schuldete ihr sehr viel. Vor allem seine Arbeit, die seine Tage in Farben tauchte, seine Karriere als Zeichner. Seine Mutter hatte die Kraft von Shuichis erstauntem Blick erkannt, der, seit er ein Kind war, Katzen in geheime Boten verwandelte, Fenster in magische Pforten und die im Sommer ausschwärmenden Insekten in Besucher aus anderen Galaxien. Sie hatte auch dann an ihn geglaubt, als dies durch nichts gerechtfertigt wurde.
Seit ihrem Tod war etwas in Shuichi erloschen. Er hätte es nicht erklären können, aber die Schnur, die ihn mit der Welt verband, hatte sich ein wenig gelockert.
Seine Mutter war eine fröhliche Person gewesen. Sie schien kaum Wut empfinden zu können, und wenn, dann löste sich diese in Angst auf, Shuichi könnte etwas zustoßen. Leid ließ sie allerdings jede Scham vergessen. Als sein Vater plötzlich gestorben war, vor fünfzehn Jahren, trug sie denselben Trauerkimono eine ganze Woche lang, und sie warf auch den Müll nicht weg. Shuichi besuchte sie ein paar Tage darauf und roch den Gestank schon an der Eingangstür. Die Schalen von Bananen und Milch. Nichts sonst hatte seine Mutter seit dem Morgen der Beerdigung gegessen.
Woran er sich vor allem erinnerte, war das bedingungslose Vertrauen, das sie jedem entgegenbrachte. Wenn sie an einer Person keine guten...
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