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Über die Schlüsselgefühle unserer Zeit
Politiken der Angst, Spiralen der Enttäuschung, Menschen in Wut. In ihrem neuen Buch blickt Eva Illouz auf unsere aufgewühlte Zeit aus der Perspektive der Gefühle, die sie prägen. Angst, Enttäuschung und Wut, aber auch Scham oder Liebe sind fest in die sozialen Arrangements der westlichen Moderne eingebaut - und werden von ihrer Ökonomie, Politik und Kultur intensiv bewirtschaftet. Sie sind psychologisch relevant, moralisch bedeutsam, politisch wirksam - und hochgradig ambivalent. Das macht die Gegenwart, in der wir leben, so brisant, ja explosiv.
Illouz erhellt diese Phänomene in einer meisterlichen Komposition aus soziologischen Analysen, historischen Miniaturen und Lektüren ikonischer Werke der Weltliteratur. In präzisen Porträts der Emotionen, die Gesellschaft unter Hochspannung setzen, beleuchtet sie die Mechanismen ihres Wirkens sowie den Grund ihrer machtvollen Präsenz. Das Verblassen des amerikanischen Traums und die Fragilität der liberalen Demokratie, das Hamsterrad des Kapitalismus und die Konflikte rund um Identität, aber auch Antisemitismus, Rassismus und Misogynie: Ohne Bezug auf die Schlüsselgefühle der explosiven Moderne lassen sie sich weder verstehen noch einhegen oder bekämpfen. Das zeigt dieses so fesselnde wie zeitgemäße Buch.
[D]?ie Erbsünde des Christentums ist in meinen Augen die Hoffnung.
- Michel Houellebecq, Vernichten1
Du warst der lebende Beweis dafür, dass meine Familie falsch lag: Ich hatte ein Recht darauf zu träumen.
- Virginie Despentes, Liebes Arschloch2
In der griechischen Mythologie spielt die Hoffnung die prominenteste Rolle in der Legende von der Büchse der Pandora, wie sie der antike griechische Dichter Hesiod erzählt.3 In Werke und Tage schildert er, wie Zeus aus Rache dafür, dass Prometheus das Feuer für die Menschen gestohlen hat, die erste Frau erschafft, Pandora, die Chaos unter den Menschen zu säen bestimmt ist. Prometheus' Bruder Epimetheus nimmt sie zur Braut. Kurz darauf öffnet Pandora eine Büchse (eigentlich ein großes Vorratsgefäß, píthos), die ihr von den Göttern anvertraut wurde und verschlossen bleiben soll. Als sie geöffnet ist, entweichen ihr alle möglichen Übel wie Krankheiten, Tod und Hass und suchen die Menschheit heim. In der Büchse verblieben ist einzig die Hoffnung (elpís), so dass ungewiss bleibt, ob sie mit den Übeln gleichzusetzen ist, die der Büchse entwichen sind, oder ob sie die Heilung für die Übel darstellt, die nun frei durch die Welt streifen. Für Friedrich Nietzsche war die Sache klar: Die Hoffnung war das Schlimmste, was die Büchse der Pandora enthielt.4
Hoffnung ist das zentrale Gefühl5 von Erlösungsreligionen wie dem Christentum mit seiner Verbindung zum Jenseits, zu Gottes noch uneingelöstem Versprechen, dass die Menschen letztlich ins Paradies kommen und ein Leben der Mühen und Sorgen in einem Jenseits des Überflusses überwinden werden. Der Apostel Paulus kleidet es in die berühmten Worte: »Denn wir sind gerettet auf Hoffnung hin. Die Hoffnung aber, die man sieht, ist nicht Hoffnung; denn wie kann man auf das hoffen, was man sieht? Wenn wir aber auf das hoffen, was wir nicht sehen, so warten wir darauf in Geduld.«6 Die Hoffnung ist hier fast gleichbedeutend mit dem Glauben selbst (einer Mischung aus Erkenntnis und Gefühl), insofern die Hoffenden sogar gegen das Zeugnis ihrer eigenen Augen am Glauben an das göttliche Heil festhalten. In der christlichen Theologie bekräftigt die Hoffnung den Glauben angesichts dessen, was den Sinnen oder dem gesunden Menschenverstand widerspricht. Ostern ist das Fest der Hoffnung schlechthin: Es verneint den Tod und feiert Christi Wiederauferstehung. Der französische Sozialist und katholische Schriftsteller Charles Peguy machte die Hoffnung zum Schlüsselelement seiner theologischen und politischen Ansichten. In einem seiner berühmten Gedichte, Le Mystere du Porche de la Seconde Vertu (1911), lässt er Gott selbst sprechen:
Der Glaube, den ich am liebsten mag, sagt Gott, ist die Hoffnung.
[.]
Die Liebe, sagt Gott, das wundert mich nicht.
Da ist weiter nichts zum Verwundern.
So unglücklich sind diese armen Geschöpfe, daß, außer sie hätten ein steinernes Herz, sie doch nicht anders können, als einander lieben.
Wie sollten sie nicht ein wenig Liebe für ihre Brüder haben.
Wie nähmen sie sich nicht das Brot aus dem Mund, das tägliche Brot, um es den armen Kindern zu geben, die vorbeigehn.
Und mein Sohn hat ihnen so viel Liebe erwiesen.
Mein Sohn, ihr Bruder.
So große Liebe.
Aber die Hoffnung, sagt Gott, das verwundert mich wirklich.
Mich selber.
Das ist wirklich erstaunlich.7
In diesem glorreichen Gedicht ist Gott tief beeindruckt und überrascht von der wunderbaren Qualität der Hoffnung. Von allen Tugenden liebt Gott das hoffnungsvolle Gefühl am meisten, denn während Nächstenliebe eine nahezu selbstverständliche und unfreiwillige Reaktion auf das Elend der Welt ist, ist das Gefühl der Hoffnung, das nie zu sehen bekommt, was es sich ersehnt, weitaus rätselhafter und wunderbarer. In ihrer Verbindung zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren, dem Irdischen und dem Göttlichen verkörpert die Hoffnung die wahre christliche Tugend. Sie transzendiert die Gegenwart und führt den Glauben an Gottes höchste Güte vor.
Die Hoffnung ist ein für den religiösen Glauben besonders gut geeignetes Gefühl, weil, wie der evangelische Theologe Jim Wallis, Gründer der progressiven christlichen Zeitschrift Sojourners, sagt: »Zu hoffen heißt, allen Anzeichen zum Trotz zu glauben und dann zu sehen, wie sich die Anzeichen ändern.«8 Dem Anthropologen Victor Crapanzano zufolge unterscheiden evangelische und vielleicht christliche Gläubige im Allgemeinen zwischen einer lebensrettenden Hoffnung, also der Hoffnung auf Erlösung in Form der Wiedergeburt, und den kleinen Hoffnungen des alltäglichen Lebens, wobei sie Erstere höher bewerten als Letztere.9 Zwar definierte der Philosoph Thomas Hobbes Hoffnung als die »Erwartung eines kommenden Guten«,10 doch impliziert Hoffnung nicht unbedingt einen Optimismus, der Prognosen über die Zukunft macht. Hoffnung ist eher ein Gefühl, das dem Handeln Energie verleiht, also eine ausgesprochen handlungsorientierte Emotion.11 Ein Gedicht von Emily Dickinson möge verdeutlichen, was ich mit »handlungsorientiert« meine:
Die »Hoffnung« ist ein Federding -
Das in der Seele hockt -
Und Lieder ohne Worte singt -
Sich niemals unterbricht -
Im Sturm - klingt es am lieblichsten -
Und der muss heftig wehn -
Den kleinen Vogel zu beschämen
So viele hielt er warm -
Ich hörte ihm im Eisland zu -
Und auf dem fernsten Meer -
Doch wollt er selbst im Notfall, nie
Ein Krümelchen - von mir.12
Selbst bei kältestem Wetter vermittelt uns die Hoffnung ein Bewusstsein des Möglichen. Sie bricht das Siegel des Schicksals und treibt voran. Sie ist eine Melodie der Seele, die keine Begründungen oder Rechtfertigungen braucht, ein Lied ohne Worte. Sie erbittet kein Krümelchen, weil sie sich nicht von Anzeichen nähren muss. Die Hoffnung bekräftigt die irrationale Überzeugung, etwas Besseres sei möglich. Deshalb klingt sie in einem Sturm »am lieblichsten«. Für den Philosophen Ernst Bloch verlangte Hoffnung Menschen, »die sich in Werdende tätig hineinwerfen«.13 Für ihn war die Hoffnung geradezu die Grundlage des Denkens. Sofern menschliches Handeln von Natur aus vorausschauend ist, nämlich damit befasst, die Zukunft zu planen und erkennbar zu machen, ist die wichtigste Eigenschaft der Hoffnung die Projektion des Selbst in die Zukunft, ganz ähnlich wie beim Vertrauen beziehungsweise Selbstvertrauen. Sie gehört damit in die Reihe der »projektiven Emotionen«, in denen die grundsätzliche Zeitlichkeit unseres Handelns ebenso zum Ausdruck kommt wie die Gefühle, die wir mit der Antizipation der Zukunft verbinden.14
Hoffnung trägt dazu bei, die Bedingungen zu schaffen und zu verändern, die den Kontext des Handelns bilden. In seiner Erforschung der Rituale von Cargo-Kulten konnte Victor Crapanzano diese Funktion der Hoffnung nachweisen.15 Cargo-Kulte sind Glaubenssysteme, die ihre Anhänger dazu veranlassen, Versöhnungsrituale zu praktizieren, zu singen und zu tanzen, damit ihnen erneut Güter aus Europa zufließen mögen. Da sie damit in der Regel keinen Erfolg haben, wirken sie leicht verrückt oder irrational. Wie aber Crapanzano behauptet, kann man solche Rituale als einen vernünftigen Weg betrachten, um den eigenen Kontext zu verändern. Die wesentliche Eigenschaft der Hoffnung ist, dass sie unseren Möglichkeitssinn entwickelt und schärft und damit unser Gefühl der...
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