Schweitzer Fachinformationen
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Stellen wir uns einen geschäftig belebten Boulevard vor, der einen Hügel hinabläuft wie ein farbiger Tropfen Glasur an der Innenseite einer rauen Tonschale. An Kaufhäusern und Läden zu beiden Seiten der breiten Straße blinken bunte Neonreklamen mit den Logos von Fluggesellschaften, Fastfood-Restaurants und Mobilfunkfirmen, alle paar Häuser unterbrochen von düsteren Transparenten, auf denen in handgemalten Buchstaben an das Blut der Märtyrer erinnert wird.
Diese Gegensätze sind typisch für die Valiasr-Straße, die Hauptachse von Nord-Teheran. Von den alteingesessenen Vierteln der Innenstadt, in denen bei jedem Freitagsgebet der Hass auf die Ungläubigen geschürt wird, führt sie hinauf ins höher gelegene Viertel Jamaran, wo - gemessen an der Anzahl der nach aktueller Pariser Mode gekleideten Damen und der vielen deutschen Nobelkarossen - die Ungläubigen eigentlich zu Hause sein müssten. Aber der Schein trügt: Hier oben auf den Hügeln liegt das Geheimnis des modernen Iran verborgen, einer Nation, deren Identität in bestimmter Hinsicht ein Gespinst aus Lügen ist. Auch die Valiasr-Straße ist nicht das, was sie auf den ersten Blick zu sein scheint. Sie ist Warnung und Verführung zugleich. Bereits der Name ist trügerisch. Obwohl sie schon vor Jahren offiziell in Valiasr-Straße umbenannt wurde, heißt sie bei vielen Teheranern noch immer so wie vor der Revolution: Pahlavi-Straße.
So ist das nun mal in Teheran: Einerseits ist es die Brutstätte der islamischen Revolution und die Hauptstadt einer Nation, die gerne die ganze Welt provoziert, andererseits wird hier von der Polizei peinlich genau kontrolliert, ob auch jeder Autofahrer den Sicherheitsgurt angelegt hat. Und wenn die Gläubigen von den Mullahs in die heilige Stadt Qom geschickt werden, dürfen sie es auf dem Weg dorthin nicht allzu eilig haben, wenn sie nicht in eine Radarfalle geraten wollen. Selbstverständlich ist es auch streng verboten, sich die aus dem Ausland kommenden Fernsehprogramme der Ungläubigen anzusehen, weshalb man den Basidsch-e, den Milizionären, hin und wieder etwas Schmiergeld zusteckt, damit sie die Satellitenschüssel auf dem Hausdach übersehen. Das Rückgrat der stolzen Stadt Teheran ist so biegsam wie das des ganzen Landes: Man krümmt sich, damit man nicht zerbricht.
Unsere Geschichte beginnt entlang der Valiasr-Straße, mit einem jungen Wissenschaftler, der dort in einer kleinen Wohnung im Altstadtviertel Jusef Abad lebte und auf den herrschaftlichen Höhen von Jamaran arbeiten durfte. Auf diese Weise war er ein Wanderer zwischen den beiden Welten, jemand mit zwei Seelen in der Brust. Einerseits war er ein Privilegierter, andererseits ein Kind des Zorns, und dieser Zorn richtete sich nicht auf die Ungläubigen, sondern auf diejenigen, die sich anmaßten, über ihn zu herrschen. Diese Geschichte handelt von seiner Entscheidung, sein Wertesystem gegen ein anderes zu tauschen, und wie alle Geschichten von jungen Männern, die sich ihren Platz im Leben erkämpfen, ist es auch eine Vater-Sohn-Geschichte. Und nicht zuletzt eine Geschichte von Verrat, aber auch von Treue.
Als der junge iranische Wissenschaftler an dem Tag, an dem er seine Entscheidung traf, erwachte, klebte ihm das Bettlaken klatschnass am Körper. In der Nacht war ihm der Angstschweiß ausgebrochen, was ihm fast so peinlich war, als hätte er ins Bett gepinkelt. Als ihm das klarwurde, wusste er, dass er handeln musste. Er wollte sich nicht mehr wie ein Feigling fühlen. Da war es besser, den entscheidenden Schritt zu tun und sich seiner Angst zu stellen, anstatt sie zitternd anzustarren wie das Kaninchen die Schlange. Es war eine große Entscheidung wie die, von zu Hause auszuziehen, sich scheiden zu lassen oder fortan nicht mehr zu beten. Man fällt solche Entscheidungen, weil es keine Alternativen gibt. Gäbe es einen anderen, weniger schmerzhaften Weg, wer würde ihn nicht beschreiten?
Am Abend vor dem Schlafengehen hatte der junge Mann in einem Gedichtband von Simin Behbehani gelesen, der populärsten zeitgenössischen Dichterin des Iran. Sein Vater, der in Teheran Professor gewesen war, hatte sie an der Universität einmal kennengelernt. Wie sein Vater hatte Simin Behbehani den Iran nie für lange Zeit verlassen, aber in ihren Gedichten spürte man deutlich die Sehnsucht, dem Elend hier zu entfliehen. Der junge Mann hatte den Gedichtband aufgeschlagen auf seinem Nachttisch liegen lassen, und kurz nach dem Erwachen las er noch einmal das Gedicht mit dem Titel «Mein Land, ich werde dich von Neuem aufbauen»:
Mein Land, ich werde dich von neuem erbauen
wenn nötig, mit Ziegeln aus meinem Leben
Ich baue die Säulen, dein Dach zu tragen
wenn nötig, aus meinem Gebein
Ich werde ihn atmen, den Duft der Blüten
hervorgebracht von deiner Jugend
Ich werde dir waschen vom Körper das Blut
mit den Sturzbächen meiner Tränen
Nicht nur die Dichter sollten die Wahrheit sagen, dachte der junge Mann. Die Islamische Republik Iran war nicht mehr sein Land. Innerlich war er längst ihr doshmand geworden, ihr Feind. Er hatte versucht, in seiner Arbeit aufzugehen und seine Privilegien zu genießen wie all die Heuchler rings um ihn, aber es war ihm nicht gelungen. Sein Vater hatte ihn noch auf dem Sterbebett ermahnt, er solle auf seine innere Stimme hören und nicht auf diejenigen, die angeblich im Namen Gottes sprachen. «Ja, Baba», hatte der junge Wissenschaftler ihm geantwortet. «Ich verstehe.» Das war wie ein Versprechen, das nach und nach alle anderen Stimmen in ihm zum Schweigen gebracht hatte. Er wollte kein Verräter sein, doch inzwischen hörte er nur noch auf das, was ihm seine innere Stimme sagte.
Als er an jenem Morgen erwachte, keimte in ihm ein Plan auf. Er würde einen Stein ins Wasser werfen. Mehr nicht. Der Stein würde eine Information sein, ein kleines Quäntchen Wahrheit über das, was er in seinem Labor machte. Und dann sollten die Wellen, die dieser Stein verursachte, laufen, wohin sie wollten. Niemand würde wissen, dass er den Stein geworfen hatte, oder die Information zu ihm zurückverfolgen können. Er hatte etwas in die Hand bekommen, und das würde er weitergeben. Mehr konnte er vorläufig nicht tun.
An jenem Morgen fuhr der junge Wissenschaftler zu einem weißen Bürogebäude mit abgedunkelten Fenstern in Jamaran. Es hatte nur eine einzige, von Videokameras überwachte Tür, die hinaus auf eine schmale, halbmondförmig gebogene Gasse führte, und nirgendwo war ein Hinweis darauf zu finden, woran in dem Gebäude gearbeitet wurde. Die Labors in seinem Inneren standen voller exotischer Apparaturen, die man sich auf geheimen Wegen im Westen besorgt hatte, aber das, worauf es eigentlich ankam, waren die Menschen, die dort arbeiteten. Menschen wie der junge Wissenschaftler und seine Kollegen. Das Gebäude war Teil eines Netzwerks, dessen weitere Niederlassungen sich in der näheren Umgebung, aber auch in anderen Stadtvierteln befanden und weder auf dem Stadtplan noch im Telefonbuch verzeichnet waren. Nur wer dazugehörte, wusste von ihrer Existenz, musste aber auch damit rechnen, ständig von ihm unbekannten Personen überwacht zu werden.
Als er am Nachmittag mit seiner Arbeit fertig war, öffnete der junge Wissenschaftler die Tür und trat mit langsamen Schritten hinaus auf die Gasse. Er war ein gutaussehender Mann Anfang dreißig mit einer großen persischen Nase und dichten schwarzen Locken. Seine Arbeitskleidung bestand, wie die seiner Kollegen, aus einem streng wirkenden schwarzen Anzug aus Sommerwolle und einem gestärkten weißen Hemd ohne Kragen. Das einzige persönliche Detail waren die goldenen Manschettenknöpfe, die unter den Ärmeln des Jacketts hervorblitzten. Der junge Wissenschaftler trug sie zum Andenken an seinen Vater, dem sie einmal gehört hatten. Sein Gesicht wirkte weich, was daran liegen mochte, dass er keinen Bart trug, und in seinen Augen funkelte eine Neugier, die er nicht zu verbergen versuchte. Er wirkte lockerer als andere iranische Männer, und er ging mit geradem, durchgedrücktem Rücken und leicht nach außen gedrehten Fußspitzen. Dieser Gang war ein Überbleibsel seines Physikstudiums in Deutschland, wo sich jedermann frei bewegen konnte und nicht ständig Angst haben musste, von irgendwoher beobachtet zu werden.
Als er das Büro verließ, trug der junge Mann eine schwarze Aktentasche unter dem linken Arm und drückte sie so fest an den Körper, dass die Überwachungskamera über der Tür sie nicht sehen konnte.
Es war Frühsommer, und die Hitze des Nachmittags legte sich wie ein dichter, aus den Abgasen von Autos, Motorrollern und benzinbetriebenen Generatoren gewobener Schleier über die Stadt. Eigentlich hätte es hier oben auf den Hügeln kühler sein müssen als unten in der Altstadt, aber die Hitzeglocke, die über dem Kessel von Teheran lag, machte keinen Unterschied zwischen Arm und Reich. Für jemanden, der insgeheim von seiner Flucht träumte, waren Tage wie dieser eine schmerzliche Erinnerung daran, dass ein Entrinnen nur in der Phantasie möglich war.
Von den Hügeln aus betrachtet war die Stadt, deren Häuser von den Hängen des Elburs-Gebirges bis hinab in die trockene Ebene der Ghom-Wüste reichten, ein grandioser Anblick. Wie eine bunt verzierte Schale lag sie da und schien offen für die ganze Welt zu sein. An ihrem oberen Rand arbeiteten sich die Hochhäuser und Wohnblocks immer weiter die Hügel hinauf, unterbrochen von ausgedehnten Parks mit plätschernden Brunnen und gepflegten Rasenflächen. Im Mellat-, Haqqani- und Lavizan-Park suchten die Menschen Schutz vor dem Staub und der Hitze des...
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