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Gleich als der Mann sein Büro betrat, wusste Samuel Hoffman, dass er einen Fehler begangen hatte. Der Besucher war ein Filipino Mitte zwanzig, mit schlechten Zähnen, die in verschiedene Richtungen ragten wie ein schlampig zusammengezimmerter Palisadenzaun, und einem unsteten, ausweichenden Blick. In der einen Hand hielt er einen Rosenkranz, in der anderen ein abgegriffenes Foto. Und er weinte. Kein lautes Heulen, sondern das unterdrückte Schluchzen eines Menschen, der sich für seine Tränen schämt. Auf der philippinischen Botschaft habe man ihm gesagt, er solle hierherkommen, stammelte er. Er brauche Hilfe, bitte. Hoffman wünschte sich, er hätte ihn gar nicht erst heraufgelassen.
«Fünf Minuten», sagte Hoffman mit einem Blick auf seine Armbanduhr.
Hoffman zog sich in das Privatzimmer hinter seinem Büro zurück und kam mit einer angezündeten Zigarette zurück. Er war ein stämmig gebauter Mann Anfang dreißig, knapp unter zwei Meter groß, mit einem schmalen Gesicht und dunklen, durchdringenden Augen, und er bewegte sich rastlos im Raum umher wie ein Tier im Zoo, das einen größeren Käfig braucht. Er hatte an diesem Tag seine übliche Uniform an: grauer Anzug mit blauem Hemd, das er am Kragen offen trug, die einzige Exzentrizität, die er sich leistete - einen Anzug ohne Krawatte zu tragen. So wirkte er ständig zu fein gekleidet oder zu leger, aber nie genau richtig. Das war teilweise der Grund dafür, dass er einen irgendwie unfertigen Eindruck machte.
Nach zwei Zügen drückte Hoffman seine Zigarette im Aschenbecher aus und betrachtete die handgeschriebene Karte, die der Filipino ihm beim Eintreten überreicht hatte. «Ramón Pinta» stand da in säuberlichen Druckbuchstaben. Es war weder eine Adresse noch eine Telefonnummer notiert. Einen Moment lang fragte er sich, wer von der philippinischen Botschaft ihn wohl zu ihm geschickt hatte, und dann fiel ihm der Geschäftsmann aus Manila ein, dessen Bruder, ein katholischer Priester, in Saudi-Arabien verschwunden war. Hoffman hatte den Priester nicht gefunden, aber er hatte es versucht. Und jetzt saß ihm dieser kleine Mann mit der handgeschriebenen Karte an seinem Schreibtisch gegenüber und sah aus, als würde er im nächsten Augenblick vor Angst implodieren.
«Was kann ich für Sie tun, Mr. Pinta?», fragte Hoffman und hoffte insgeheim, dass die Antwort «nichts» lauten würde.
«Bitte», sagte der Filipino und räusperte sich, um sich Mut zu machen. Er lehnte sich zu Hoffman hinüber und hielt ihm das Foto hin, das er in seiner rechten Hand gehalten hatte. Er hielt es ihm flehend mit ausgestrecktem Arm hin, bis seine Hand zu zittern begann.
Widerstrebend nahm Hoffman das Foto entgegen. Es zeigte eine Filipina, Anfang zwanzig, mit großen, wachsamen Augen, vorstehenden Wangenknochen und adrett gelockten Haaren. Sie trug eine Dienstmädchenuniform - ein schwarzes Kleid mit weißer Schürze - und sah aus, als könnte sie Angestellte in irgendeinem schicken Hotel im Westend sein. Es sah aus wie eine Fotografie vom Tag der Erstkommunion. Ihr Mund war leicht und erwartungsvoll geöffnet. Um ihren Hals hing ein kleines goldenes Kruzifix.
«Meine Frau», sagte der Mann und zeigte auf das Foto. Er schluchzte jetzt lauter. Hoffman reichte ihm eine Schachtel Kleenex, die auf seinem Schreibtisch stand. Der junge Mann putzte sich die Nase und steckte sich das Kleenex in den Ärmel für später. Er starrte einen Moment lang zu Boden, als müsse er erst Kraft sammeln für das, was er im Begriff war zu tun, und sah dann Hoffman in die Augen. Er holte ein weiteres Foto aus seiner Jackentasche und legte es auf den Tisch, mit der Bildseite nach unten.
Im Raum war es still. Der Londoner Verkehr draußen war ein Summen, kaum hörbar durch das Fenster hindurch. Der Cursor auf Hoffmans PC-Bildschirm blinkte mit vollkommener Regelmäßigkeit, ein Puls pro Sekunde, darauf wartend, dass er den Bericht fortsetzte, den er gerade für einen Klienten in New York verfasste. Die Gesetzestexte standen in Habtachtstellung auf den Regalen: feste Rücken, steife Seiten, bereit für den nächsten Einsatz. Es war eine Welt der Pläne und Erwartungen, für einen Augenblick in der Zeit erstarrt, genau in dem Moment vor dem großen Zusammenstoß mit einer anderen, bisher ungesehenen Welt. Hoffman blickte wieder auf seine Uhr. Wie könnte er bloß diesen verdammten Filipino loswerden?
Hoffman drehte das Foto vorsichtig um. Als er die grellen Blitzlichtfarben sah, zuckte er zusammen. Es war ein Polizeifoto, am Tatort aufgenommen, und zeigte die Leiche einer Frau, die auf dem Rasen lag. Sie war nackt bis auf ihren BH. Sie hatte Blutergüsse im Gesicht und um ihre Schamhaare herum. Entlang ihren Schenkeln war angetrocknetes Blut. Man hatte ihr den Slip in den Mund gestopft. Nach der blaubraunen Verfärbung des Körpers zu schließen, war sie schon einige Stunden tot gewesen, als das Foto gemacht wurde. Aber das Gesicht war noch zu erkennen. Hoffman schüttelte den Kopf. Wieder und diesmal mit größerer Überzeugung wünschte er sich, er hätte den Filipino gar nicht erst heraufkommen lassen. Jetzt würde er irgendetwas sagen müssen.
«Es tut mir leid», murmelte er. Er drehte das Foto um, um die Blöße der Frau zu verdecken, und schob es über den Tisch zurück. Der junge Mann, der wieder mit seinen Gefühlen kämpfte, ließ es dort liegen. Das Schluchzen wurde lauter, und im nächsten Moment vergrub er den Kopf in seinen Händen. Der Rosenkranz fiel auf den Boden. Sie waren die Verdammten dieser Erde, die Filipinos, dachte Hoffman. Die Fußmatten, auf denen die Reichen und Mächtigen ihre dreckigen Schuhe abtraten.
«Reißen Sie sich zusammen», sagte er und hielt Pinta wieder die Schachtel Kleenex hin. Als das nichts bewirkte, ging er zu dem jungen Mann hinüber und legte ihm eine Hand auf die Schulter. «Das mit Ihrer Frau tut mir wirklich leid. Was kann ich denn für Sie tun?»
«Bitte, Mr. Hoffman», sagte der Filipino. Er hatte die Handflächen wie zum Gebet zusammengelegt. «Ich möchte Sie engagieren.»
«Damit ich was tue?», fragte Hoffman.
«Damit Sie den Mann finden, der sie umgebracht hat.»
Hoffman schüttelte den Kopf. Er war Rationalist. Er lebte in einer Welt der Bücher und Berichte. Er kümmerte sich nicht um Tote.
«Tut mir leid», sagte er, «aber das ist nicht mein Gebiet. Wenn man Ihnen auf der Botschaft gesagt hat, ich würde in Mordfällen ermitteln, dann hat man Sie leider falsch informiert. Ich bin Finanzberater. Ich überprüfe Unternehmen. Projekte. Investoren. Geschäfte verschiedener Art. Verstehen Sie?» Er deutete auf die Bücherregale, vollgestellt mit Gesetzestexten, Handelsgesetzbüchern, Investitionsleitfäden. «Ich untersuche keine Morde.»
«Aber dieser Fall wäre für Sie ganz leicht, Sir.» Rache flackerte in Pintas traurigen Augen auf. «Weil ich weiß, wer es getan hat.»
«Tatsächlich?»
«Ja, Sir. Es war ein arabischer Geschäftsmann. Meine Frau und ich haben für ihn gearbeitet, sie als Dienstmädchen, ich als Koch.»
Hoffman zog die Augenbrauen hoch. «Haben Sie irgendwelche Zeugen oder Beweise?»
«Nur mich selbst, Sir. Ich war da, als man sie fand. Es war auf einem Feld in der Nähe seines Landhauses. Er hat gesagt, er wäre an dem Wochenende weg, und seine Freunde haben für ihn gelogen. Aber ich weiß, dass er da war, weil ich ihn gesehen habe. Er wollte eine Frau haben .» Er hielt inne, vor Scham und Kummer, und merkte dann, dass er das wichtigste Detail vergessen hatte. «Dieser Mann heißt Nassir Hammud.»
«Aha», sagte Hoffman. Er hatte den Namen schon einmal gehört, aber er wusste nicht mehr, wo. Er sah wieder auf die Uhr. Noch ein paar Minuten, und dann würde er diesen armen Kerl endlich loswerden.
«Er hatte schon immer ein Auge auf meine Frau geworfen, Sir», fuhr der Filipino fort, «aber sie hat ihn nie beachtet. Ich glaube, das hat ihn wütend gemacht.» Er wandte sich ab.
Hoffman nickte. «Was macht dieser Nassir Hammud?», fragte er.
«Er ist ein sehr mächtiger Geschäftsmann, Sir. Aus dem Irak. Er ist reicher als alle anderen, und ihm ist egal, was er anderen Menschen antut. Er hat eine Firma in London, die andere Firmen kauft. Vielleicht haben Sie davon gehört?»
«Wie heißt die Firma?»
«Coyote Investment, Sir.» Seine Augen leuchteten auf, als er spürte, dass sich Hoffman wider Willen für die Sache zu interessieren begann.
«Ach ja?» Jetzt fiel Hoffman wieder ein, wo er Hammuds Namen gehört hatte. Einige Monate zuvor hatte es ein Angebot für eine Reifenfabrik in Portugal gegeben. Die Fabrik war für achtzig Millionen Dollar gekauft worden, und der Käufer entpuppte sich als irakischer Geschäftsmann, von dem noch niemand gehört hatte und der Hammud hieß. Damals hatte Hoffman sich vorgenommen, mehr über diesen neuen Player im arabischen Finanzspiel herauszufinden, hatte es dann aber wieder vergessen.
«Ja, Sir, Coyote Investment. Und er hat noch viele andere Firmen, überall. Er ist so reich, dass ihm ganz egal ist, was er macht.»
Die Erzählung des jungen Mannes wurde plötzlich vom Dröhnen eines Motorrads unterbrochen, das die North Audley Street hinaufraste, begleitet vom Protestgehupe eines Autos. Hoffman sah aus dem Fenster. Auf der anderen Straßenseite unterhielten sich zwei Männer in schwarzen Anzügen. Einer blickte zu dem Gebäude hoch, in dem sich Hoffmans Büro befand. Sie sahen gelangweilt aus. Hoffman wandte sich wieder seinem Besucher zu.
«Das ist alles sehr interessant, Mr. Pinta. Aber wie gesagt, ich bearbeite keine Mordfälle. Gehen Sie zur Polizei. Sollen die...
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