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TEXT UND KONTEXT: DREI KRITERIEN, UM DEN KORAN BESSER ZU VERSTEHEN
Der Koran (so die eingedeutschte Form des arabischen al-Qur'an) bedeutet wörtlich: »Lesung, Rezitation, Vortrag« und ist die offenbarte Rede und Botschaft Gottes an die Menschheit durch den letzten Gesandten Gottes: Muhammad - mögen Gottes Segen und Frieden auf ihm sein (sallallahu alaihi wa sallam).1 Der Koran wurde nicht in einem Moment offenbart, sondern Stück für Stück, step by step, in unterschiedlichen Lebenssituationen des Gesandten Muhammad und der damaligen Bevölkerung um ihn herum. Manchmal antwortete Gott auf die konkrete Frage eines Menschen oder einer Gruppe von Menschen,2 oft reagierte er auf ein bestimmtes Ereignis. Der Koran war für seine ersten Adressaten ganz unmittelbar verständlich, weil sie selbst Zeugen der Herabsendung der Verse waren und wussten, welcher Vers zu welchem Anlass und aus welchem Motiv offenbart wurde. Sie erlebten ihn als Richtschnur und als Medium eines lebendigen Gesprächs zwischen Gott und Mensch und nicht primär als einen offenbarten Text. Der türkische Koranexeget Hasan Elik, dem es gelungen ist, den Koran in einer das Arabische hervorragend aufnehmenden Übertragung ins Türkische zu übersetzen, drückt es so aus: »Der Koran ist nicht vor allem ein Text, sondern ein Gespräch.«3 Ein ewiges Gespräch Gottes mit den Menschen.
Der Koran ist, wie die Arabistin Angelika Neuwirth festhält, »in der altarabischen Dichtersprache ('arabiya) gehalten, einer überregionalen, ausschließlich literarischem und formellem Gebrauch vorbehaltenen Hochsprache.«4 Auch nichtarabische Muslime wachsen mit dieser Sprache auf, auch wenn sie sie - außer in ihren Gebeten und bei der Rezitation - in ihrem Alltag nicht zu gebrauchen mächtig sind. Die unnachahmliche arabische Textgestalt des Korans bringt seine hohe literarische Qualität und seinen poetischen Charakter in besonderer Weise zum Klingen. Der harmonische Klang und die Phonetik des Korans berühren den Verstand und das Herz gleichermaßen. Darum gibt es viele Menschen, die den ursprünglichen arabischen Text nicht verstehen, und dennoch, wenn sie ihn lesen und seiner Rezitation lauschen, in ihrem Herzen so tief berührt und bewegt werden, dass Tränen fließen. Dabei kann die Emotion die Vernunft ausblenden.
Umgekehrt gibt es auch solche, die bei der Lesung des Korans das Herz verschließen, um ihn nur durch die Brille ihres eigenen Verstandes aufzunehmen. Dabei kann die Vernunft die Emotionen ausblenden. Je mehr der Leser des Korans zu nur einer dieser Wahrnehmungsweisen tendiert, desto mehr entfernt er sich von etwas Wesentlichem.
Genauso verhält es sich bei jemandem, der den Koran sozusagen nur »mit den Augen«, vielleicht sogar ohne Grund- und Hintergrundwissen, liest, und dabei den Klang der Worte nicht hört und das Herz verschließt. Die Botschaft wird so nicht ankommen. Das ist oft der Fall bei Menschen, die dem Koran »skeptisch« begegnen, und nicht gewillt sind, sich dem Koran unvoreingenommen zu nähern, sondern sich von Vorurteilen leiten lassen und durch selektive Lesart ihre Vorurteile bestätigt sehen. Leider führt das auch bisweilen zu antiislamischer Agitation.
Es kommt aber auch bei muslimischen Koranlesern vor, dass sie bei der Lesung ihren Verstand aus- und ihr Herz verschließen, Verse aus der Gesamtheit des Korans wie auch aus dem Kontext seiner Offenbarung herausreißen und sie für ihre eigene Position oder für ideologische und politische Interessen missbrauchen.
Diese drei Gruppen spricht wohl dieser Vers an: »Doch, wahrlich, es sind nicht ihre Augen, die blind geworden sind - sondern blind geworden sind ihre Herzen, die in ihren Brüsten sind!« (22/al-Hadsch, 46).
Vor allem für die Leser, die sich auf den Koran einlassen möchten, ist es wichtig zu betonen: Ein Gleichgewicht des Herzens mit dem Verstand soll herbeigeführt werden; zwischen der Phonetik bzw. dem Klang, der das Herz berührt, und dem Verstand bzw. der Bedeutung der Worte, die zum Nachdenken anregen. Wer sich der Phonetik und der richtigen Aussprache des arabischen Originals im Übermaß widmet, kann Gefahr laufen, sich von der Bedeutung des Inhalts zu entfernen. Je besser in der Rezitation das arabische Original korrekt vorgetragen wird und je schöner die Modulation und die Stimme des Rezitators klingt, desto intensiver wird das Herz berührt und der Hörende begeistert. Oft wird allerdings der Verstand dann zum Opfer der Phonetik, und die Emotion dominiert über die Ratio. Was in diesem Fall von einer (Zeremonie der) Koran-Rezitation haften bleibt, ist die schöne Stimme des Hafiz (desjenigen, der Koran auswendig beherrscht) und des Qari (des professionellen Rezitators). In den muslimischen Gesellschaften weltweit finden »Koran-Wettbewerbe« statt, in manchen sogar mit staatlicher Förderung. Bei solchen Wettbewerben gibt es in der Regel drei Kriterien: das auswendige Beherrschen von einzelnen Teilen oder des ganzen Korans; die richtige Betonung und korrekte Aussprache des arabischen Textes; den Sprachrhythmus und die Modulation des Rezitators. Es wird also rein auf die »Rezitation« fokussiert. Es geht ausschließlich um die Frage nach dem besten Vortrag.
Gott offenbarte sein Buch allerdings nicht nur, damit es rezitiert wird, sondern auch, damit seine Botschaft verstanden und umgesetzt wird. Mir ist nicht bekannt, dass Wettbewerbe veranstaltet werden, in der es um die Frage geht, wer den Koran am besten verstanden hat? Oder wer seine beste Übersetzung erarbeitet und seine Bedeutung am besten erschließt? Oder um die Frage, in welchen Ländern und Gesellschaften die Maßstäbe und Werte des Korans, wie z.?B. Gerechtigkeit, Religionsfreiheit, Bildung, Wissenschaft, Umweltschutz oder Frauenrechte, am besten umgesetzt werden?
Dieser Befund wird noch durch eine weitere Beobachtung unterstrichen: Eine der Traditionen in muslimischen Gesellschaften - sie ist einzigartig in der Welt - ist das Memorieren des Korans, vor allen im jüngeren Lebensalter. Millionen von Männern und Frauen und sogar Kindern weltweit haben Anspruch auf den Ehrentitel Hafiz, jemand, der den Koran auswendig beherrscht. Es dürfte nahezu unmöglich sein, eine Stadt, in der das muslimische Dasein sichtbar ist, zu finden, wo keine Koran-Schule betrieben wird, in der vor allem Kinder und Jugendliche den Koran teilweise oder ganz auswendig lernen. Das ist eine wunderbare Tradition, die die Kontinuität des Korans mündlich bewahrt! Woran es allerdings solchen Schulen zumeist mangelt, sind besondere Lehrpläne, die den Schülerinnen und Schülern die Bedeutung und die Übersetzung des Korans programmatisch vermitteln. Hier besteht ein dringender Nachholbedarf.
Diejenigen, die den Koran im arabischen Original lesen und rezitieren können, sind heute allerdings auch unter den Muslimen in der Minderheit. Dank der Tatsache, dass der Koran in fast alle Sprachen der Welt übersetzt wurde, kann die ungefähre Bedeutung des Textinhalts den Menschen überall vermittelt werden. Weil die Sprache des Korans aber so komplex ist, wurden Übersetzungen schon sehr früh kritisch gesehen.5 Im europäischen Raum sind Übersetzungen des Korans und der Diskurs über seine Bedeutung und Auslegungen ein relativ neues Phänomen. Durch die zunehmenden Diskussionen um den Islam und Muslime in Europa, aber auch unabhängig davon, steigt auch das Interesse am Koran: Welche Botschaft will der Koran den Menschen vermitteln? Was hat er uns heute zu sagen? Wie sollen wir ein Buch, das in einem anderen Kulturraum und in einem ganz anderen Kontext offenbart wurde, im Hier und Heute verstehen? Auf diese Fragen versuche ich hier einzugehen.
Der Koran ist über 1400 Jahre lang ohne jegliche Änderung bewahrt und erhalten geblieben. Der Prozess der Offenbarung selbst ist abgeschlossen und der Wortlaut somit auf ewig unveränderlich. Der Prozess des Nachdenkens über den Text ist dagegen mitnichten abgeschlossen. Die Worte Gottes bzw. seine Botschaft sind größer als alles, was in einem Buch niedergeschrieben und fixiert werden kann. Der Koran selbst betont diesen breiten Horizont des Wortes Gottes: »Sag: >Wenn das ganze Meer Tinte wäre für die Worte meines Erhalters, wäre das Meer fürwahr erschöpft, ehe die Worte meines Erhalters erschöpft sind!< (18/al-Kahf, 109); >Wenn alle Bäume auf Erden Schreibfedern wären und das Meer Tinte wäre, mit sieben weiteren Meeren noch danach ergänzt, die Worte Gottes wären nicht erschopft.< (31/Luqman, 27).« Diese beide Versen deuten an, dass die Worte Gottes viel unerschöpflicher sind, als der Mensch sich vorstellen kann oder das sie alle in einem Buch niedergeschrieben sein könnten. Daher würde man Gott auf einen Ort und eine bestimmte Zeit reduzieren und einschränken, wenn man die Worte Gottes bzw. den Koran auf eine bestimmte Region und auf eine bestimmte Zeit reduziert, und Seine Worte nur aus dem Blickwinkel dieser Zeit liest. Den Koran dürfen wir darum nicht als erstarrten Text verstehen, sondern müssen ihn vielmehr als ein »offenes und interaktives Gespräch« zwischen Gott und Menschen in allen Zeiten begreifen. Um die Intention des Wortes Gottes zu verstehen, die über den Text hinaus bzw. »im tiefen Meer« gesucht werden soll, benötigt man zweierlei: eine Reinheit der Absicht und Wissen. Wenn die Vernunft aber aufhört, über den Sinn des Textes nachzudenken, verliert der Text selbst seinen Wert.
Wie also soll die göttliche...
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