Schweitzer Fachinformationen
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Als Vorsitzender der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus erlebt Dervis Hızarcı das, was nach den Ereignissen des 7. Oktober in Deutschland in Gang gesetzt wird, aus einer besonderen Perspektive. Seit Jahren kämpft er für gelebte Vielfalt, gegen Hass in Bildung und Schule in einem Land, das sich endlich als Migrationsgesellschaft zu verstehen beginnt, doch nun drohen wieder - genau wie nach dem 11. September - die altbekannten Gefahren: Vereinfachungen, Anschuldigungen, das Auslagern der Schuld, die gedankenlose Ausgrenzung seitens der Mehrheit. Wieder muss er sich stellvertretend für so viele einen Weg bahnen zwischen Hass und Haltung, muss ganz praktisch helfen dabei, die heftig auseinandertreibenden Emotionen und Identitäten zu versöhnen, um das Lernen zu ermöglichen und das Erinnern nicht zu gefährden.
Zwischen Hass und Haltung erzählt von einer besonderen Bildungsreise. Sie beginnt im postmigrantischen Berlin zu einer Zeit, in der jemand wie Dervis Hızarcı schmerzend selbstverständlich nicht dazu gehört. Und sie führt ihn schließlich in die Verantwortung, die Bedingungen für ein gelingendes, vielfältiges Zusammensein jeden Tag neu zu formulieren.
Nasreddin Hodscha sitzt mit einem Löffel am Ufer des Aksehir-Sees und rührt mit irritierender Selbstverständlichkeit im Wasser. Ein Dorfbewohner beobachtet das Ganze mit großem Staunen und fragt:
»Was tust du denn da, Hodscha?«
»Ich setze Joghurt an.«
»Wie soll denn in einem See Joghurt entstehen? Das ist unmöglich!«
»Ich weiß«, sagt der Hodscha, »aber was, wenn es klappt?«
Meine Familie stammt ursprünglich aus Zentralanatolien. Joghurt ist eine der wenigen Erfindungen, auf die die Menschen dort sehr stolz sind. Seit Jahrhunderten stellen sie ihn selbst her. »Meine Mutter macht den besten Joghurt« ist ein Satz, den man dort oft zu hören bekommt. Die Anekdote von Nasreddin Hodscha erzählt dementsprechend von der Kraft des Glaubens, der Zuversicht und dem Mut, Dinge anzupacken, auch wenn sie unmöglich erscheinen. Und das eben mit irritierender Selbstverständlichkeit.
Warum beginne ich mit einer Anekdote aus dem Morgenland? Gibt es hier keine ähnliche Geschichte? Gibt es hier keine tollkühnen Helden, die voller Hoffnung gegen Windmühlen kämpfen? Gewiss.
Ich habe mich für Nasreddin Hodscha entschieden, weil ich mit seinen Geschichten groß geworden bin und weil ich hier lebe. Mir ist bewusst, dass dieses »hier« immer ein Konstrukt ist. »Wir sind hier in Deutschland!«, brüllte mal eine Kollegin im Unterricht die Kinder an. Sie waren laut gewesen und störten. Und sie wollte ihnen zeigen, wo der Hammer hängt. In Deutschland!
Das »hier«, das ich zum Ausdruck bringen will, schließt Geschichten aus Zentralanatolien ebenso selbstverständlich ein wie solche aus dem antiken Griechenland, dem mittelalterlichen Italien, dem England der Neuzeit und aus dem Land, das einst das der Dichter und Denker war.
Die Geschichte vom Hodscha ist ein Teil von mir. Somit wird sie auch ein Teil von hier. Das ist die Realität der deutschen Migrationsgesellschaft. Mit »Migrationsgesellschaft« verwende ich einen Begriff, der uns präziser beschreibt als andere. Denn in Deutschland waren Migrationsbewegungen schon immer vorhanden. Diese Erkenntnis ist weder neu noch revolutionär. Das Besondere an dieser Feststellung ist nur, wie viel Abwehr sie auslöst.
Dass die Geschichten aus dem antiken Griechenland, aus Italien, Spanien bis zu dem England der Neuzeit hier zum Bildungskanon gehören, zeigt: Andere haben es auch »hierher« geschafft. Geben wir diesen Geschichten Raum, hilft uns das dabei, andere Kulturen, andere Identitäten zu begreifen und wertzuschätzen. Niemand verliert, wenn wir mehr von ihnen aufnehmen. Vielmehr gibt es allen Menschen die Möglichkeit, sich mit einem »hier« zu identifizieren, das Vielfalt einschließt. Und es schafft Vertrauen, baut Brücken, fördert gegenseitiges Verständnis. Das ist nicht nur für die »Neuen« - von Ruhrpolen in der neunten Generation über meine Eltern, die immerhin seit 1969 hier sind, bis zu den Geflüchteten aus der Ukraine der letzten Jahre - wichtig, sondern auch für die »Alten« - Vertriebene aus Schlesien, ostdeutsche Arbeitsmigranten der Wendezeit und Exilschwaben im Prenzlauer Berg.
Der Versuch, das Trennende zu betonen, immer wieder darzulegen, was vermeintlich nicht hierhergehört, ist zum Scheitern verurteilt. Damit hat sich Deutschland in seiner jüngeren Geschichte wieder und wieder verrannt. Auch wenn diese Sackgassen nichts Exklusives für Deutschland sind und Menschheitsverbrechen genauso von anderen und anderswo begangen wurden, so haben wir dennoch mit zwei Weltkriegen und dem Holocaust für grausame Einzigartigkeit und Präzedenzlosigkeit gesorgt.
Die Shoah ist ein unfassbarer Zivilisationsbruch. Diese größtmögliche Zäsur verpflichtet uns zur Auseinandersetzung mit den Geschichten der Opfer. Wir erinnern und gedenken an Menschen, die systematisch, brutal, maschinell, massenhaft gefoltert, ermordet, bis ins Letzte erniedrigt und entmenschlicht wurden. Doch es ist nicht so, dass wir im bisherigen Rahmen, den wir im Kontext der Erinnerungskultur gesetzt haben, ausreichend gut gefahren sind. Das belegt zum Beispiel die Studie der Körber-Stiftung, die herausfand, dass nur vier von zehn Jugendlichen ab vierzehn Jahren mit dem Begriff »Auschwitz« überhaupt etwas anfangen können.1 Die gegenwärtige Erinnerungskultur wird aus vielen Gründen in Frage gestellt. Denn sie schafft es nicht, alle einzuladen und einzubeziehen. Sie ermöglicht Jugendlichen nicht, sich zu erinnern, zu verstehen oder identitätsstiftende Haltungs- und Handlungsmaximen zu entwickeln.
In einer vielfältigen Migrationsgesellschaft kann Erinnerung nicht eindimensional gedacht werden. Wir können zwar den »herkunftsdeutschen« Manuel nach seinen familiären Bezügen zum Dritten Reich befragen. Bei Menschen mit sogenannten Migrationshintergründen geht das jedoch in den seltensten Fällen auf, da sie in ihren eigenen Familienbiografien keine Anknüpfung finden und von den gewohnten Zugängen ausgeschlossen werden. Geschichte und Erinnern muss multiperspektivisch betrachtet werden. Wir brauchen dringend andere Zugänge. Wir müssen die Geschichten derer mitdenken, die nicht hier geboren, nicht hier aufgewachsen sind.
Zwei wesentliche Zäsuren geben dieser Gebrauchsanleitung für eine funktionierende Migrationsgesellschaft den Rahmen:
Zum einen der 11. September, in dessen Anschluss Musliminnen und Muslime in westlichen Gesellschaften ins Fadenkreuz gerieten. Zunächst über Jahre wenig bis kaum beachtet, befanden »wir« uns plötzlich im Zentrum der Diskussionen. Und die Reaktionen auf die furchtbaren Anschläge in den USA hallen bis heute nach, haben mein Selbstverständnis als in Deutschland lebender Muslim nachhaltig geprägt. Musliminnen und Muslime wurden ab diesem Zeitpunkt zu einem Kollektiv gemacht. Aus Individuen wurde ein »ihr«, eine diffuse Gruppe, die unter Generalverdacht stand. Seither folgen auf Anschläge von radikal-islamischen Fanatikern immer dieselben Forderungen: »Distanziert euch!«, was für mich so viel bedeutet wie: »Ihr seid verdächtig.« Ob schuldig oder nicht, unser neuer Platz ist die Anklagebank. Und wer dort sitzt, rechtfertigt sich und versucht, seine Unschuld zu beweisen. Keine gesunde Voraussetzung für ein friedliches Zusammenleben auf Augenhöhe.
Zum anderen der fürchterliche Terrorangriff der Hamas auf Israel vom 7. Oktober 2023: Noch bevor wir auch nur den Hauch einer Chance hatten, die Monstrosität der Anschläge zu begreifen und einzuordnen, wurden ähnliche Forderungen laut: »Distanziert euch!« Das Holz der Anklagebank ist zu ungemütlich, als dass man es sich auf ihr gemütlich machen könnte. Erneut griffen dieselben Selbstverteidigungsreflexe. Natürlich kann ich verstehen, dass Menschen sagen: »Da passiert etwas Unfassbares! Also tut was!« Aber für wen passiert hier Unfassbares, warum sollten »wir« das anders greifen und was genau sollen wir denn tun, was nicht für uns alle gilt: Mitgefühl zeigen, zuhören, solidarisch sein.
Obwohl es in den letzten Jahren bereits vielfach gesagt wurde und daher droht, zu einer Phrase zu verkommen: »Die Muslime« existieren nicht. Und »der Muslim« übrigens genauso wenig. Ich zum Beispiel bin zwar Muslim, aber eben nicht nur. Ich bin auch Demokrat, auch Mann, ein Schwarzkopf (selbst wenn's immer grauer wird), ein Fußballer (auch wenn immer häufiger auf der Ersatzbank zu finden), ein Neuköllner (der in Charlottenburg lebt), ein Lehrer (der nicht mehr an der Schule arbeitet), ein Exmann und ein Ehemann, ein Genusstrinker, um den man sich nicht zu sorgen braucht. Ich liebe Hunde, habe aber einen Kater. Und noch vieles mehr. Ein Label reicht mir nicht. Ein Label wird niemandem je gerecht. Und wenn es schon bei einer Person derart schwierig wird, wie soll es da für 1,9 Milliarden Menschen passen?
Und dennoch schreibe ich als Muslim: Ich glaube daran, dass Allah die Menschen in Vielfalt, also unterschiedlich - sprachlich, ethnisch, kulturell, geschlechtlich - erschaffen hat, damit wir einander kennenlernen.2 Nicht damit wir uns aus dem Weg gehen, uns ausgrenzen, hassen oder einander die Köpfe einschlagen, sind wir vielfältig. Sondern vielmehr sind wir es, damit es nicht langweilig wird, wir neugierig aufeinander bleiben und uns...
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