WOCHE 1
Workum, Ijsselmeer
Die See geht durcheinander, Böen drücken die queen auf die Seite. Nur eine klein gerollte Genua stelle ich dem Wind in den Weg. Grünbraune Wellen mit weißen Spitzen, die der Wind zerstreut, senken ihr Haupt, werden vom Sog der Gezeitenströmung mit altem Schwell durchmischt und lassen chaotische Wasserformationen entstehen, die keinem Gesetz zu folgen scheinen. Alles ist in Bewegung, bis auf einen schmalen Küstenstreifen, an dem das Meer endet. Tapfer nimmt mein Boot die unterschiedlich starken Stöße unterhalb und oberhalb der Wasserlinie. Jeden einzelnen muss die african queen einstecken, nur manche beantwortet sie mit einem dumpfen Knall. In unrhythmischen Bewegungen tänzelt mein Neunmeter-Boot korkenähnlich über die See, parallel zur Küste, Richtung Englischer Kanal. Vereinzelte Wellen, die der Wind schickt, treffen mich von Luv, die queen wird angehoben und kurz darauf zur Seite gekippt, im nächsten Wellental richtet sie sich unter mir wieder auf und das Spiel beginnt von Neuem. Aus unterschiedlichen Grautönen nieselt es. Es ist Oktober. Die Segelsaison in diesem Revier neigt sich dem Ende entgegen und die Wettergötter lassen es mich spüren. Einzig die milden Temperaturen machen den unsichtbaren Teil dieser maritimen Trostlosigkeit etwas erträglicher. Der Winter kündigt sich an, aber die Elemente gehorchen heute noch dem Herbst. Mit einer flexiblen Auslegung von guter Seemannschaft kann ich die Bedingungen akzeptieren, beschließe aber, die kommende Nacht lieber im Hafen von Scheveningen zu verbringen.
Zwei Monate lang habe ich mein Boot in einer Halle der kleinen Werft Heerlien & Adema in Workum überholt und fit gemacht für seine kommende, längste und bislang härteste Reise. Ich ließ Solarmodule montieren und einen ordentlichen Autopiloten. Gemeinsam mit meinem Freund Sven machte ich das Deck mit Kiwigrip rutschfest, das Ruderblatt wurde aufwändig saniert und das Unterwasserschiff gestrichen. Nach wochenlangen Arbeiten in den schönen Segelmonaten August und September hing mein Halbtonner schließlich Anfang Oktober an dem kleinen Kran der Werft, um hinab ins Wasser gelassen zu werden.
Für die meisten IJsselmeersegler ging die Saison zu Ende, als ich mich am Mittag des 11. Oktobers aufmache und zunächst durch den idyllischen Ort Workum motore. Auf einem schmalen Kanal fahre ich vorbei an Gärten und Wohnhäusern, dem alten Stadtkern sowie drei romantischen Brücken, die von uniformierten, freundlichen Wärtern betrieben werden, die aus dem Fenster grüßen. Am Ende wartet eine kleine Schleuse, an der mir der Wärter einen kleinen Holzclog an einer Stange entgegenhält, damit ich die fünf Euro Gebühr hineinlege.
Am nächsten Morgen um 6:30 Uhr ist es noch dunkel, als ich die Leinen löse und in mein bislang größtes Abenteuer als Einhandsegler starte. Wegen der geringen Größe meines Bootes und der unrealistisch erscheinenden Distanz habe ich mein Vorhaben zu diesem Zeitpunkt noch nicht öffentlich gemacht. Zunächst einmal will ich überhaupt loskommen, das ist ja schließlich das Schwierigste.
Ich versuche, mich als Segler weiterzuentwickeln und mein Plan, an der nächsten Nonstop-Regatta Global Solo Challenge teilzunehmen, ist ungebrochen. Daher will ich wissen, wie ich auf langen Distanzen und in extremen Situationen zurechtkomme - ganz alleine. Dass ich ein ordentlicher Einhandsegler bin, habe ich mir bereits bewiesen. Aber steckt auch etwas Moittessier oder Erdmann in mir? Kann auch ich einen Ozean ganz alleine überqueren? Antworten auf diese Fragen zu finden, ist der Grund meiner Reise.
Schon auf den ersten hundert Metern im Dunkeln durch den schmalen unbeleuchteten Kanal hinaus aufs IJsselmeer, während ich das brechende Wasser neben mir höre, wird mir klar, wie schnell alles vorbei sein kann. Meine Gefühle können gegensätzlicher nicht sein. Zum Glück überwiegen die Freude und Neugierde auf die kommenden Monate. Trotzdem mischt sich auch eine gehörige Portion Respekt und Angst darunter, wenn das Kopfkino die vielen Gefahren und Unbekannten in der Gleichung einer Atlantiküberquerung abspielt. Das meiste davon hat wohl mit der geringen Größe meines Bootes zu tun und seinen gerade einmal 3,5 Tonnen Gewicht. Die mangelnde Stabilität der queen werde ich seglerisch rechtzeitig ausgleichen müssen.
Etwas zeitversetzt und von Amsterdam aus folgt mir der erfahrene Seglerfreund Andreas Lindlahr auf seiner Pogo 36. "Wir konnten ja schlecht im Hafen bleiben, nachdem du mit deinem kleinen Boot bei dem Wetter ausgelaufen bist", erzählt er mir später in Le Havre.
Der Scheveningen Yacht Club hat neuerdings ein modernes schwimmendes Clubhaus in der Marina, chic. Ich genieße die Atmosphäre am nächsten Morgen, als ich meinen Kaffee trinke. Mit dem Pappbecher in der Hand wende ich mich an eine Gruppe Niederländer am Nachbartisch und erkundige mich nach den Bedingungen zwischen den Molenköpfen bei den gerade herrschenden sechs Windstärken aus Nordwest. Von einem Grauhaarigen bekomme ich die schnelle Antwort: "Es wird sehr wellig für etwa 100 Meter, aber die See kommt genau von vorne, wenn du da durch bist, ist es okay." Genau so kommt es wenig später beim Auslaufen. Die Bugspitze pendelt zwischen Himmel und Wellental, während wir kaum noch Fahrt machen. Mein kleiner Vetus Motor lässt die queen vibrieren und dreht den zweiflügeligen Propeller gerade schnell genug, um gegen die Kräfte aus Wind und Wasser anzukommen. In Zeitlupe schiebe ich mich zwischen den Leuchtfeuern hindurch, Richtung freier Seeraum. Erschreckend große Brecher rollen auf mich zu, aber solange ich konzentriert Ruder gehe und sie uns genau von vorne treffen, droht keine Gefahr. Ein wenig Vorsegel rolle ich aus, bevor ich den Kurs ändere, um nicht zum Spielball der Elemente zu werden.
Dann bin ich endlich draußen. Ich bringe die queen auf den neuen Kurs. Sofort nimmt sie Fahrt auf und lässt die brechenden Wellen hinter sich. Die Szenerie erinnert ein wenig an den Vortag, doch mit einem drohenden Unterschied, denn vor mir verdunkelt sich der Himmel dramatisch. Ich bin in Annäherung an Rotterdam. Von Sportbooten erwartet man dort ein Passieren innerhalb eines schmalen Bereiches nahe der Küste. Einer der größten Seehäfen der Welt liegt wenige Seemeilen entfernt, die Zufahrt dorthin werde ich in Kürze queren müssen. Riesige Containerschiffe nähern sich von See oder verlassen den Hafen. Sportboote werden geduldet, aber nicht gerne gesehen. Für meine Ängste und Sorgen hat hier niemand Zeit. Je näher ich der Küste komme, umso höher werden die Wellen. Per Funk versuche ich, eine Erlaubnis einzuholen, etwas weiter auf See zu passieren: "Maasbond, Maasbond, african queen." Eine vom Rauschen unterbrochene Antwort verstehe ich nicht, meine Handfunke hat zu wenig Reichweite. Unter Deck zu gehen, um das eingebaute UKW-Gerät zu nutzen, ist gerade unmöglich. Das sind die Momente, in denen ich mir als Solosegler eine zweite Person an Bord wünsche.
In der Navigationsapp auf meinem Handy überprüfe ich den Schiffsverkehr per AIS, die Frachter, die den Hafen verlassen, kann man so früher erkennen. Ich habe Glück. Es gibt eine große Lücke, die ich nutze.
Die dunklen Wolken erwischen mich nur an ihrem Ausläufer, starke Böen und Regen bleiben aus. Trotzdem lasse ich den Motor so lange mitlaufen, wie ich eine der dichtbefahrensten Wasserstraßen der Welt kreuze. Erst als ich den Schlüssel des Motors auf Stopp drehe und die Vibrationen enden, fällt die Last von meinen Schultern.
Eine sehr unangenehme Passage habe ich gerade hinter mir gelassen und auch, wenn die nächsten 24 Stunden durch eines der anspruchsvollsten Seegebiete der Welt führen, bin ich erleichtert. Neben meinem Niedergang auf Kopfhöhe habe ich die drei Worte "Segeln, Essen, Schlafen" mit einem Edding aufs GfK geschrieben. Damit möchte ich mich selbst immer wieder an die wichtigsten Tätigkeiten des Einhandseglers erinnern. Um das Boot und den Kurs habe ich mich gerade gekümmert, jetzt bin ich an der Reihe. Ich fülle etwas Wasser in einen Kessel und zünde die Flamme des Gaskochers an. Während das Wasser erhitzt, stöbere ich im Schapp der Pantry, dadrin habe ich eine Auswahl meiner Trockennahrung deponiert. Macaroni Cheese steht auf einer gelben Tüte, die ich aufreiße und in meine kleine Spüle stelle. Seit Boris Herrmann sich beim Zubereiten einer solchen Mahlzeit mal verbrannt hat, wähle ich jeden einzelnen Schritt mit Bedacht. In der Spüle kann die Tüte nicht umfallen und beim Einfüllen des Wassers kann trotz Seegang auch Wasser daneben gehen, ohne dass ich mich dabei verletzte. Mit einem langen Löffel rühre ich im Anschluss um und verschließe die Tüte noch einmal für einige Minuten. Bei diesen Bedingungen könnte ich mir unmöglich eine vergleichbare Mahlzeit mit frischen Zutaten zubereiten, daher bin ich ein großer Fan von gefriergetrocknetem Essen. Die Gerichte sind nahrhaft, gut portioniert und sehr gut abgeschmeckt. Am Ende habe ich außerdem weniger Abfall an Bord.
Der dritte Punkt meiner täglichen To-Do-Liste ist: Schlafen. Auf langen Passagen versuche ich, schon tagsüber in regelmäßigen Abständen Pausen einzulegen, in denen ich mir einen Timer stelle und mich hinlege, je nach Revier zwischen zehn Minuten und einer Stunde. Entscheidend ist dabei nicht, dass ich tatsächlich einschlafe, sondern, dass sich der Puls...