III
Am nächsten Tag schneite es nicht. Die Sonne kam heraus und warf goldene Schimmer an den blauen Himmel. Die Dächer glänzten rot. Doch es hörte nicht auf zu frieren.
In der Mordabteilung des Polizeikommissariats in der Vámbérystraße herrschte ungewöhnliche Ruhe. Ein zufälliger Beobachter hätte diese Dienststelle in einer Ecke des zweiten Stockwerks als sterilen Raum mit langen braunen Pulten und grünen, bis an die Decke reichenden Schränken wahrgenommen. Der flackernde Tag vibrierte im Messing an den Rahmen der aus dem Staatssäckel bezahlten Bilder und auf den Fenstergriffen und Türklinken. Der Fernschreiber ratterte beim Versenden der Nachricht vom Tod des jungen Mädchens an die drei wichtigsten Lokalzeitungen, die Wilsonstädter Zeitung, den Westungarischen Grenzboten und die Hírlap. In der Mitte des langen Pults stand ein Tablett mit einer riesigen Kanne darauf und die zehn schläfrigen Gendarmen wurden vom Duft des Kaffees in der Nase gekitzelt. Das Telefon klingelte. Leutnant Dohnányi hob ab und antwortete auf Deutsch:
»Hauptkommissariat Wilsonstadt. Bitte? Ja. In Ordnung. Er heißt Jozef Eisner. Er sitzt hier neben mir. Bisher mit niemandem. Gut. Wir werden auf Sie warten. Bestimmt mit keinem, das versichere ich Ihnen. Also gut, in zwei Stunden. Auf Wiedersehen.« Er legte auf.
Der müde und verängstigte Eisner saß abseits von den anderen und verkürzte sich das Warten damit, dass er aus dem Fenster schaute. Er hatte keine Lust zu Gesprächen mit seinen Kollegen. Als er ihnen, verschlafen, wie sie waren, am Morgen erzählte, was er mit eigenen Augen gesehen hatte, zuckten ihre Mundwinkel. Nicht wegen der Toten da oben. Das glaubten sie ihm. Aber wegen dem, was er später mit dem geheimnisvollen Mann am Fluss erlebt hatte.
Als er auf die hektische, ansonsten aber freundliche und sichere Stadt mit ihrer schimmernden Atmosphäre blickte, wollte er nicht glauben, dass das, was er in der Nacht erlebt hatte, real gewesen sein könnte.
Links stand der ausgedehnte Komplex der Apollo-Raffinerie, der im Süden an den Hafen und das Ausstellungsgelände der Donau-Messe grenzte. Im Westen konnte er von hier aus den Betriebshof der Wilsonstädter Straßenbahn, die Concordia-Druckerei in der Segnerstraße, das Elektrizitätswerk und andere Fabriken sehen. Die belebte Henrich-Justi-Straße wurde schon wieder neu gepflastert. Über die Donau schwangen sich die eisernen Silhouetten der zwei Wilsonstädter Brücken: der Eisernen Brücke und der Pontonbrücke. Das metallische Schimmern der schnellen Autos zeichnete flatternde Striche.
»Wien hat angerufen«, berichtete Dohnányi auf Ungarisch. »Ehrlich gesagt ist das seltsam. Wir haben weiterhin strengstes Verbot irgendetwas zu unternehmen.«
»Aber das ist doch unerhört!«, meldete sich Offizier Martin Hefele zu Wort, der immer einen betrübten Gesichtsausdruck hatte, was eher zum Inhaber eines Beerdigungsinstituts als zu einem Polizeidetektiv gepasst hätte. »Das hier ist nicht London oder Rom oder eine andere Heimstätte des Lasters. Wir haben bei uns weniger Morde pro Jahr als Finger an einer Hand, und auch das meist unter diesem Abschaum aus den Hurenhäusern im Hafen und den Offiziersbordellen. Aber diesmal geht es um ein unschuldiges junges Mädchen! Wir hätten schon längst anfangen müssen zu handeln, damit der Mörder so schnell wie möglich vor Gericht steht und der Gerechtigkeit Genüge getan wird!«
»Was mich betrifft, kann ich dir nur zustimmen«, sagte Dohnányi. »Aber du weißt ja, wie das ist. Seitdem Srobár im Gefängnis sitzt, sind alle nervös und mich kanzeln sie von oben für jeden einzelnen nicht aufgeklärten Diebstahl ab. Sie sagen, dass auf sie wiederum das Ausland Druck macht. Du kannst dir also vorstellen, wie der Mord sie aufgestachelt hat. Ich habe ihnen erklärt, dass schließlich auch wir Polizisten wie die ganze Stadt im Stadium der Reformen sind und sich die Dinge bewegen wie immer bei uns: langsam. Doch in Wien behaupten sie, dass wir auf voller Linie versagen würden und nicht genug Kapazitäten hätten. Also schicken sie uns eine solche her. Und ich muss zugeben, dass sie auch ein bisschen Recht haben. Aber damit Sie begreifen, was hier vorgeht, hören Sie zu: Es ist niemand aus Buda, auch nicht aus Wien, sondern direkt aus Amerika! Aus New York!«
Diese Neuigkeit erregte bei den Dienst habenden Polizisten großes Aufsehen. Anerkennendes Murmeln und sogar Pfeifen war zu hören. Der seelisch erschütterte Eisner beobachtete die vorbeifliegenden Wolken. Seine höchst eigenartigen Gedanken brachen an einem gewissen Punkt ab, verschwammen und lösten sich in Nichts auf. Im Geist strich er durch die weiten Räume über der Engerau. Der Himmel überzog sich am Horizont mit irgendeinem schwarzen Ausschlag, der größer wurde und näher kam, bis er sich in einen kreisenden Schwarm fliegender Krähen verwandelte. Ihr Krächzen zerschnitt den Himmel bis zum Horizont in helle Fetzen.
»Er hat Recht«, antwortete der Streifenpolizist Ján Arnost. »Vor kurzem haben sie im Amtsanzeiger geschrieben, dass im Laufe der nächsten zehn Jahre bis zu zehntausend Spezialisten aus Österreich, aus Ungarn, aber vor allem aus Amerika hierher kommen sollen. Wilsonstadt braucht dringend neue Beamte und Lehrer, also warum sollten wir nicht einen einzigen amerikanischen Polizisten akzeptieren?«
»Außerdem ist das kein gewöhnlicher Polizist. Dieser ganze Fall wirkt sehr rätselhaft. Von dem Daumen wissen sie bereits. Und es gibt da noch andere Dinge, wobei sich Ähnliches auch schon woanders in Europa ereignet haben soll. Zu uns kommt ein Fachmann aus einer Sonderabteilung. Angeblich einer der Besten im Fach. In letzter Zeit hat er sich vor allem in Europa aufgehalten, denn hier soll es nur so von geheimnisvollen Todesfällen wimmeln.«
Eisner hörte nur mit halbem Ohr zu, doch jetzt wurde er aufmerksam. Genau so einen Menschen bräuchte er! Vielleicht würde ihm endlich jemand glauben. Aus irgendeinem Grund war er davon überzeugt, dass diese Fahndung möglicherweise mehr eine Sache des Glaubens als logischer Fähigkeiten werden würde.
Danach schenkte er der Unterhaltung seiner Kollegen keine Aufmerksamkeit mehr. Er betrachtete das Viereck der Rollläden, die weißen Flecken, die die Sonne warf. Er gähnte die Reste der Nacht hinaus. Sie hatten ihm befohlen nirgendwohin zu gehen und das kam ihm sehr gelegen. Und so geschah es, dass er - er wusste nicht einmal, wie - einschlief.
Als sie ihn weckten, blickte er in das Gesicht eines unbekannten Mannes. Im Geist verfluchte er sich, dass er während des Dienstes eingeschlafen war, dazu ausgerechnet in dem Moment, als der ausländische Besucher eintraf. Vor Scham brachte er kein Wort hervor und musterte den Fremden nur still.
Der Mann, der vor ihm stand, war groß, doch seine Proportionen waren bemerkenswert ausgewogen. Er sah äußerst seriös aus und schien regelrecht durchdrungen von der Wichtigkeit seiner Arbeit. An der Art und Weise, wie er sich bewegte, war zu sehen, dass er eine militärische Ausbildung absolviert hatte. Zweifellos hatte er seinen fünfzigsten Geburtstag schon hinter sich, doch er strahlte eiserne Gesundheit und Kraft aus. Bestimmt war er an Gefahren gewöhnt.
Er trug einen etwas formalen, perfekt geschnittenen braunen Abendanzug. Sein Gesichtsausdruck war energisch, ja fast gebieterisch, aber nicht arrogant. Zusätzliche Attraktivität verlieh ihm ein kurzer, stahlgrauer Vollbart. Die großen hellblauen Augen, die sicher schon viel Leid gesehen hatten, wurden von einer eleganten Brille mit schmalem silbernen Rahmen eingefasst. Das schüttere, aber gepflegte Haar zeugte davon, dass er regelmäßiger Gast in Frisiersalons war. Seine Adlernase verlieh seinen Zügen einen Hauch von keltischer Physiognomie. Insgesamt machte er einen Eindruck von hervorragender Intelligenz, erhabenem Blut und erstklassigem Benehmen.
Neben ihm stand Offizier Hefele und murmelte Entschuldigungen: »Bitte, verstehen Sie doch. Er hat heute Nacht eine seelische Erschütterung durchlebt. Bisher hat sich noch nie so etwas .«
»Sag niemals nie«, schnitt er ihm in ausgezeichnetem Deutsch das Wort ab. »Kommen wir zur Sache!« Wie Eisner später erfahren sollte, beherrschte er fünf Sprachen ausgezeichnet, einschließlich Latein.
»Darf ich Sie miteinander bekannt machen? Unser junger Kollege Jozef Eisner. Und das ist Herr Food, Sonderagent vom amerikanischen föderalen Untersuchungsbüro, auch bekannt als FBI.«
Der Amerikaner streckte zackig seine Hand zum Gruß aus. »Food. Aaron Food. Genauer gesagt: American General Aaron Food. Und der Name ist auch schon das einzig Lächerliche an mir. Den Leuten ist bei mir meist zum Weinen«, stellte sich der Detektiv trocken vor. In der Hand hielt er ein braunes Lederköfferchen.
»Ich hoffe aufrichtig, dass das während Ihres Besuches in Wilsonstadt anders sein wird. Es wird Ihnen bei uns hoffentlich gefallen«, antwortete Eisner und betrachtete den Unbekannten noch einmal. Er war ihm auf den ersten Blick sympathisch.
»Das bezweifle ich. Es hat mir auch schon an viel schöneren Orten nicht gefallen«, antwortete Food. Da wurde Eisner klar, dass Food die Verkörperung dessen war, was der berühmte französische Romancier Rabelais agelast genannt hatte: ein Mensch, der nicht lachte, nicht in der Lage war zu lachen und keinen Sinn für Humor hatte. Er überlegte, was wohl die Ursache dafür sein mochte, dass dieser charmante Mann in den besten Jahren dem Lachen entsagt hatte. Er erschrak beim Gedanken, dass es nach der vergangenen Nacht mit ihm ebenso enden könnte.
»Ich bin zwar...