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Samstag, 17. Juli 2004, Stuttgart
»Das ist nicht dein Ernst!«
Völlig schockiert sah Juli zu, wie Erik vor ihr auf die Knie sank.
Sie hatte schon ein mulmiges Gefühl gehabt, als er ihr zu Hause die Augen verbinden wollte. Dann, als er ihr das Tuch abgenommen hatte, waren gleichzeitig sehr viele sehr unterschiedliche Dinge passiert: Sie hatte das liebevoll zusammengestellte Picknick samt Teelichtern, einer Tischdecke und vier kleinen Sonnenblumen in einer Vase entdeckt. Sie hatte wahrgenommen, dass die Spaziergänger, die ebenfalls den lauen Juniabend nutzten, um den fantastischen Blick vom Birkenkopf aus über die Stadt zu genießen, stehen blieben und sie beobachteten. Sie begriff, wie perfekt sowohl dieser Hügel oberhalb des Stuttgarter Westens als auch der Moment war, und sie wunderte sich, dass sie keine freudige Aufregung verspürte, sondern nur den dringenden Wunsch davonzulaufen. Schnell und weit weg, fort von ihrem Freund, mit dem sie bereits seit zwei Jahren zusammenlebte und der diese wunderschöne Überraschung für sie vorbereitet hatte.
Aber fürs Davonlaufen war es zu spät, denn Erik, der beste Erik, den man sich nur wünschen konnte, treu, liebevoll, interessiert, zuverlässig und aufstrebender Polizeikommissar mit sicherem Einkommen und verheißungsvollen Karrierechancen, nahm ihre rechte Hand und hielt ihr in diesem Augenblick ein samtbezogenes Schächtelchen entgegen.
»Juli!«
Sie hörte, wie er trocken schluckte. Das machte er immer, wenn er aufgeregt war. Sie starrte auf seinen Adamsapfel, um ihm nicht in die Augen sehen zu müssen. Schluck.
»Juliane Romy Englaender, . du . möchtest du . willst du mich . willst du meine Frau werden?«
Schluck.
Sie hörte, was er sagte, aber es dauerte ewig, bis es in ihrem Gehirn ankam. Ein bisschen kam es ihr vor, als hätte jemand den Film langsamer gedreht, der hier gerade ablief. Eriks Frage hatte irgendwie zombiemäßig geklungen, als ob er jedes Wort unnatürlich in die Länge ziehen würde.
Juuuuuuliiiiii möööööchtest duuuuuuuu .
An den Rändern ihres Sichtfeldes flimmerte es, was ebenfalls sehr gut zu diesem Zombiefilmgedanken passte. Sie fragte sich, ob sie im Begriff war, in Ohnmacht zu fallen, und wenn ja, warum eigentlich. Erwartungsvoll sah Erik zu ihr auf. Juli hörte das kollektive Seufzen der weiblichen Spaziergänger im Hintergrund. Es fühlte sich an, als würde jeder Einzelne gespannt die Luft anhalten und auf die einzig mögliche Antwort auf diese Frage warten, nämlich auf ihr freudig gehauchtes »Ja«.
Aber es ging nicht. Ihr Mund war staubtrocken und ihr Sprachzentrum bis auf Weiteres ausgefallen, dafür sah sie auf einmal glasklar, was sie in den letzten Monaten ignoriert hatte.
Sie liebte Erik nicht. Zumindest nicht genug, um ihn zu heiraten. Sie wollte überhaupt gar niemanden heiraten, schon gar nicht jetzt, mit gerade mal vierundzwanzig Jahren und ganz am Anfang eines Lebens, das sie nicht jetzt schon bis dass der Tod sie schied planen, sondern auf sich zukommen lassen wollte. Es tat ihr nur leid, dass es einen Heiratsantrag gebraucht hatte, um das zu begreifen.
»Nein!«, sagte sie vielleicht ein wenig zu laut und deutlich. Das hinterhergeschobene und erschrocken gestammelte »Es tut mir leid, aber ich kann nicht, Erik!« fühlte sich schrecklich falsch und gleichermaßen sehr erleichternd an.
Als sie seinen geschockten Gesichtsausdruck sah, war sie für einen Moment versucht, es zurückzunehmen, aber bevor sie aus den falschen Gründen das Falsche tun konnte, drehte sie sich auf dem Absatz um und rannte, begleitet von den enttäuschten Oooohs eines faszinierten Publikums, davon. Das war zwar nicht besonders erwachsen, aber in dieser Situation in Julis Augen der einzige Ausweg.
Beinahe hätte sie eine nicht mehr ganz so junge Frau in viel zu knappen Shorts und mit knallrot gefärbten Haaren über den Haufen gerannt, die das ganze Drama kopfschüttelnd beobachtete.
»Also, ich hätte mir den ja nicht entgehen lassen, Süße!«, rief sie Juli missbilligend hinterher.
»Ja, aber Sie hat er nicht gefragt, Süße,« rief Juli atemlos zurück und stolperte an ihr vorbei, ohne sich noch einmal umzudrehen. Hatten die Leute kein eigenes Unglück, an dem sie sich erfreuen konnten?
Juli rannte die Serpentinen in Richtung Parkplatz hinunter, so schnell es eben in ihren Flip-Flops ging, und erreichte schließlich völlig atemlos Eriks Auto. Sie lehnte sich für einen Augenblick gegen das heiße Blech seines dunkelblauen Golf und schloss die Augen. Was jetzt, Juli Englaender?
Man konnte nicht einen Heiratsantrag ablehnen und dann in die gemeinsame Wohnung spazieren, als wäre nichts passiert. Man konnte nicht »Nein« sagen, und dann im nächsten Moment fragen, ob der andere Lust auf einen Salat am Abend oder daran gedacht hatte, den Müll runterzubringen. Und schon gar nicht konnte man seinen Golf entführen, während der andere noch in Schockstarre unter dem Gipfelkreuz stand und um Fassung rang. Es ging nicht. Nichts davon. Sie hatte nicht nur den Heiratsantrag abgelehnt, sondern ihr komplettes bisheriges Leben. Juli fühlte sich schrecklich, weil sie Erik Neumann, den perfekten Mann und Vater ihrer zukünftigen Kinder, sitzen gelassen hatte, während gleichzeitig unbändiges Glück über ihre neue Freiheit ihren kompletten Körper flutete. Ihr war nicht bewusst gewesen, wie groß ihre Sehnsucht gewesen war, das alles hinter sich zu lassen.
Sein Auto ließ sie selbstverständlich stehen. Ein junges Paar, das gerade ausparkte, war bereit, Juli ein Stück mit in die Stadt zu nehmen, und so stand sie keine Stunde nach ihrem Aufbruch wieder in der kleinen Küche ihrer gemeinsamen Wohnung.
Nachdem sie zwei Jahre gebraucht hatte, um an diesen Punkt zu gelangen, konnte sie jetzt keine Sekunde länger warten.
Während der kurzen Fahrt hierher hatte sie mit ihrer besten Freundin Pia eine sehr wesentliche und grundsätzliche Entscheidung getroffen. Sie brauchte eine neue Wohnung und einen neuen Job. Vor allem Letzteres war sehr wichtig, denn Juli arbeitete als Landschaftsgärtnerin in der Firma von Eriks Vater. Und weil Erik sie von nun an hassen würde, was sie mehr als verdient hatte, würde sie sich eine Weile verstecken und dann neue Pläne schmieden. Wenn ein wenig Zeit vergangen war, könnte sie versuchen, mit Erik zu sprechen und ihm ihre Gründe zu erklären - wenn er das denn wollte.
Da sie so schnell keine Umzugskisten organisieren konnte, stopfte Juli alle Klamotten in ihren Lieblings-Bettdeckenüberzug und stapelte ein paar Bücher und CDs in ihren Einkaufskorb. Sie legte sowohl Eriks Autoschlüssel als auch den für die Wohnung auf den Küchentisch und rief sich ein Taxi, das sie sich ab jetzt, da sie wieder auf sich allein gestellt sein würde, eigentlich nicht mehr leisten konnte.
Drei Tage später joggte Juli die Zeppelinstraße bergauf in Richtung Kräherwald, während sie die Musik auf ihrem pinkfarbenen iPod bis zum Anschlag aufdrehte. »Shut Up« von den Black Eyed Peas dröhnte in ihren Ohren. Mit dem Auto und bergab war es ihr bei Weitem nicht so steil vorgekommen, aber im Grunde kam ihr diese Steigung sogar ganz gelegen, denn sie erfüllte ihren Zweck absolut: Sie zwang Juli, sich auf ihre Atmung zu konzentrieren und sämtliche Grübeleien einzustellen.
Die letzten Tage hatte Juli auf der Couch ihrer besten Freundin Pia verbracht und herauszufinden versucht, was sie nun mit ihrem neuen Leben anfangen wollte. Die Freude und der Tatendrang vom ersten Tag waren genauso schnell verschwunden, wie sie aufgetaucht waren, und selbst das Glück über ihre Freiheit war längst der verzweifelten Frage gewichen, wie es denn nun weitergehen sollte.
Sie hatte sich krankgemeldet und war weder an die Tür noch an Pias Telefon gegangen, wenn es klingelte, aus lauter Sorge, dass Erik dran sein könnte. Ob er tatsächlich anrief oder vor der Tür stand, wusste sie natürlich nicht, und auch wenn es ihr Ego gestreichelt hätte, wenn er um sie gekämpft hätte, so war sie doch für sie beide sehr froh, dass er es nicht tat. Dabei wäre sie immer wieder beinahe selbst schwach geworden und hätte fast bei Erik angerufen, aber dann siegte glücklicherweise doch jedesmal die Vernunft. Ja, Erik war der beste Zuhörer, Ratgeber und Freund, den man sich wünschen konnte, aber das gab ihr noch lange nicht das Recht, ihn dafür auszunutzen und mit seinen Gefühlen zu spielen. Sie sehnte sich regelrecht nach Liebeskummer, weil es bedeutet hätte, dass Erik und sie möglicherweise doch noch eine Chance gehabt hätten, wenn nicht als Ehepaar, dann vielleicht als Freunde. Aber ihr Herz wollte da nicht mitspielen. Und auch in ihren unsichersten Momenten war sich Juli sicher, dass ihre Trennung die beste Idee war, die sie in den letzten Jahren gehabt hatte.
Außer Pia wusste bisher nur ihre Mutter Pauline von der Trennung. Martha und Lisbeth, Paulines beste Freundinnen, hatten aber wahrscheinlich auch längst davon erfahren.
»But it still ends up the worst, and I'm crazy«, brüllte Fergie voller Inbrunst in Julis Ohr.
Das fasste es ganz gut zusammen.
»Shut up! Just shut up, shut up!«, fiel Juli laut in den Refrain mit ein und erschreckte damit prompt einen Mann, der mit seinem Hund ebenfalls in Richtung Kräherwald unterwegs war. Im Singen war sie anscheinend genauso eine Niete wie dabei, rechtzeitig ihre Gefühlslage zu analysieren, bevor sie damit den einzigen Menschen fürchterlich vor den Kopf stieß, dem sie niemals hatte weh tun wollen. Und...
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