Schweitzer Fachinformationen
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Prolog
Donna Lucia saß aufrecht im Bett und betrachtete ihre Füße, die sie auf dem gewebten Bettvorleger abgestellt hatte. Die Bettdecke hatte sie hinter sich geschoben, um sie als Stütze zu benutzen. Sie wackelte mit den knochigen Zehen und schüttelte den Kopf. Die hatten sich auch schon mal geschmeidiger bewegen lassen. Andererseits: Mit dreiundneunzig musste man ja vermutlich froh sein, wenn man ohne Hilfe das Bett verlassen konnte. Donna Lucia nahm ihr Gebiss aus dem Wasserglas neben ihrem Bett und klapperte versuchsweise damit, bevor sie es einsetzte. Dall'unghia si conosce il leone. An der Kralle erkannte man den Löwen. Das galt bestimmt auch für Zähne.
Unfassbar, wie schnell die Zeit vergangen war. Beinahe ein ganzes Jahrhundert war sie nun alt. Wer hätte ihr, Donna Lucia di Stefano, das damals zugetraut, als sie als fünfte von sieben Geschwistern auf einem Hof weit im Hinterland von Palermo auf die Welt gekommen war? Sie kicherte. Vermutlich niemand. Aber das konnten sie ihr ja demnächst auch alle selbst ins Gesicht sagen, wenn sie sich im Garten Herrgotts wiedertrafen. Es sei denn, sie waren dort oben nicht willkommen gewesen. Nun, das war deren Problem, nicht ihres. Und bis dahin - mühsam schob sie sich mithilfe ihres Nachtkästchens in den aufrechten Stand, wobei sie zweimal wieder auf ihr Hinterteil plumpste, bevor sie endlich stabil stehen und den ersten Schritt in Richtung Fenster machen konnte -, bis dahin würde sie hier unten noch ein wenig für Ordnung sorgen.
»Älter werden ist wirklich nichts für Feiglinge«, knurrte sie und tappte, einen zittrigen Schritt nach dem anderen, zum Fenster, um die Jalousien zu öffnen.
Auch wenn sie mehr als sieben Jahrzehnte hier auf der Fattoria Mimosa verbracht hatte (und einige dieser Jahre sogar beinahe glücklich gewesen war), so konnte sie sich nie an diesem unglaublichen Anblick sattsehen, der sich vor ihr ausbreitete: Unter ihr im Hof blühten üppige rosafarbene Kamelien, weiße Trompetenbäume und hellrosafarbene Kosmeen in den Terrakottatöpfen und leuchteten mit den pinkfarbenen Bougainvilleen, die den Eingang zur Küche einrahmten, um die Wette. Würden all diese Farben von Tönen begleitet, wäre dies der Höhepunkt eines unvergleichlichen Konzerts, gespielt von der Natur, diesem riesigen Orchester.
Donna Lucia lächelte und schloss für einen Moment die Augen. Es roch unvergleichlich nach Frühling. Der Morgen trug außerdem den Duft nach Kaffee und das Geplauder aus der Küche in ihr Schlafzimmer.
Es gab kaum eine Jahreszeit, die sie lieber mochte. Überall blühten jetzt die gelben Mimosen, die der Fattoria ihren Namen gaben, und ihr geliebter Mandelbaum, der mitten im Hof der Fattoria stand, war in eine Wolke aus rosafarbenen Blättern gehüllt. Für sie gab es keinen besseren Ort als unter seinem schützenden Dach und auf der Bank, die ihr Schwiegersohn Federico, »Papi«, um dessen knorrigen Stamm für sie gebaut hatte. Ab und zu machte sogar er etwas richtig. Musste man ihm ja nicht gleich auf die Nase binden. Anche uno scoiattolo cieco ogni tanto trova una noce. Auch ein blindes Eichhörnchen fand schließlich einmal eine Nuss.
Als sie damals mit neunzehn auf den Hof gekommen war, um Tommaso zu heiraten, Gott hab ihn selig, war der Mandelbaum schon da gewesen. Nicht so knorrig wie heute zwar, aber das traf auf Donna Lucia ja genauso zu. Über die Jahre waren sie Freunde geworden. Sie schüttelte über sich selbst den Kopf. Eine Freundschaft mit einem Baum. Das kam wohl davon, wenn man zu früh Witwe wurde.
Auf den glatt geschliffenen Steinen des Innenhofs spielten die beiden Hofhunde mit einer frechen Katze Fangen, und aus der Küche dröhnte das Radio. Jemand schob den Vorhang aus bunten Schnüren vor der Küchentür beiseite und trat in den Hof. Gianni, ihr jüngster Urenkel, dehnte und streckte sich, während er herzhaft gähnte und gleichzeitig versuchte, nichts von dem kostbaren Kaffee zu verschütten, der sich vermutlich in der Tasse befand, die er in seiner linken Hand balancierte. Donna Lucia seufzte amüsiert. Mit seinen neunundzwanzig Jahren kam er ihr immer noch so vor wie der hübsche Junge, der schon in der Grundschule die Herzen aller weiblichen Wesen mit seinem verschmitzten Lachen und dem unglaublichen Charme zum Schmelzen gebracht hatte. Früher waren es die Tanten und Großmütter gewesen, heute war es die gesamte weibliche Bevölkerung von Sizilien ab Anfang zwanzig.
Allerdings hätte der liebe Gott bei Gianni ruhig ein bisschen großzügiger mit dem Grips sein können, dachte Donna Lucia, als ein Großteil des Kaffees sich über sein Hemd ergoss. Aber er hatte eben bei Aurelia, seiner älteren Schwester, schon alles verbraucht. Dio mio.
»Cavolo!« Gianni fluchte und schüttelte sein Hemd aus.
Donna Lucia lachte, als sie ihn so herumhüpfen sah. Seine Mutter Roberta streckte den Kopf durch den Vorhang.
»Per l'amor di Dio, Gianni! Der Tag hat noch nicht einmal richtig angefangen, und du fluchst schon?«
»Mamma, schau mich doch an!« Er zeigte auf die dunklen Flecken.
»Wieso sollte ich? Das tue ich doch oft genug!« Sie lachte. »Jedenfalls öfter, als mir lieb ist. Musst du nicht an die Universität, oder machst du neuerdings ein Fernstudium?«
»Dio mio, Mamma! Ich werde hier doch gebraucht!«
»Si certo. Vor allem beim Essen, non è vero?« Sie klopfte ihm auf den Bauch.
»Mamma!«
Donna Lucia lehnte sich ein wenig aus dem Fenster, sodass Gianni sie sehen konnte.
»Was ist das für ein Lärm am frühen Morgen?«
»Buongiorno, Donna Lucia!« Sofort breitete sich ein Strahlen auf Giannis Gesicht aus, als er seine Urgroßmutter entdeckte. Er winkte ihr begeistert zu. »Hast du gut geschlafen? Geht es dir gut?«
»Danke der Nachfrage. La salute è un tesoro che nessuno apprezza quando la possiede. Gesundheit ist ein Schatz, den niemand zu würdigen weiß, solange er ihn besitzt.«
»Oh. Soll ich dir vielleicht Medizin bringen?« Er schwenkte die Kaffeetasse und grinste.
Jede Ermahnung, jeder Versuch, ihn zu einem verantwortungsbewussten, ernsthaften jungen Mann zu erziehen, war beim Anblick seines Lächelns sofort vergessen. Man konnte ihm einfach nicht böse sein. Seine Mutter Roberta konnte es nicht. Und Donna Lucia noch viel weniger. Und das wollte wirklich etwas heißen.
»Kaffee wäre großartig.«
»Subito, Donna Lucia. Bin schon unterwegs!«
Er verschwand wieder in der Küche, und Donna Lucia ließ sich auf den gemütlichen Sessel fallen, der direkt am Fenster stand. Es war nicht wirklich sicher, ob Gianni ihr wirklich einen Kaffee bringen würde, aber zumindest, bis irgendetwas anderes seine Aufmerksamkeit erregte, hatte er es vor. Sie würde einfach einen Moment hier sitzen und, sollte es ihr zu lange werden, sich selbst in die Küche aufmachen.
Draußen versuchte Valentina gerade, die Hunde zu verscheuchen, und fluchte ebenfalls, als ihr das nicht gelang. Missbilligend schnalzte Donna Lucia mit der Zunge. Valentina war ihre Tochter und vierundsiebzig Jahre alt. Aber darauf, dass sich Nanna, wie sie alle nannten, irgendwann ihrem Alter entsprechend benehmen würde, konnte Donna Lucia wohl ewig warten.
Es war noch nicht einmal halb acht, und die Familie war wach.
Über mangelnde Gesellschaft konnte sich Donna Lucia jedenfalls nicht beklagen. Außer irgendwelchen Kunden, die immer in der Küche standen, um Olivenöl, Pecorino oder Ricotta zu kaufen, kamen auch ständig Freunde, die sofort genötigt wurden, mit der Familie zu essen. Meist von Nanna oder deren deutschem Mann Federico, der hier überhaupt niemand einzuladen hatte, wenn es nach Donna Lucia ging.
Es klopfte.
Nando, der Älteste von Roberta und Gianluca, trat ein. »Sie hatten Kaffee bestellt, Mylady?« Er stellte die Kaffeetasse mit einer formvollendeten Verbeugung vor Donna Lucia auf dem kleinen Tischchen ab.
»Lass den englischen Quatsch, Nando.« Donna Lucia war auf alles, was mit der englischen Sprache zu tun hatte, sehr schlecht zu sprechen. Immerhin war es die Sprache von diesem Jacobo, diesem Amerikaner. Dem Grund, warum Aurelia in Bologna lebte und nicht hier, wo sie hingehörte.
»Und überhaupt: Wo ist Gianni?«
»Oh, reiche ich Ihnen nicht, My.«
Donna Lucia zog streng die linke Augenbraue nach oben, und Nando verstummte sofort. Wenigstens einer, der Respekt vor ihr hatte.
»Er musste zur Uni«, ergänzte Nando.
Sicher nicht, dachte Donna Lucia, wenn er wirklich so oft zur Uni gehen würde, wie er behauptete, müsste er längst einen Doktortitel haben. Aber dafür konnte Nando ja nichts. Als er ihr einen Kuss auf die Wange drückte, strich sie schnell über seinen Arm, um sich für den Kaffee zu bedanken, und als er ihr Zimmer wieder verließ, sah sie ihm stolz nach. Wenigstens einer, der wusste, wo es langging. Nando hatte sein eigenes Studium sehr zielstrebig abgeschlossen und mittlerweile längst gemeinsam mit seiner Frau Stella die betriebswirtschaftliche Führung des Hofes übernommen. Vor allem aber hatte er ein gutes Herz. Und glücklicherweise als Ältester von den drei Geschwistern ein gewisses Verantwortungsgefühl, was den Hof anging. Ein wenig erinnerte er Donna Lucia an Tommaso, wie er damals versucht hatte, für seine kleine Familie ein Zuhause und eine Zukunft zu schaffen, bis dieses tragische Ereignis ihn aus dem Leben gerissen hatte. Energisch schob Donna Lucia den Gedanken an ihn beiseite, sonst würde sie den ganzen Tag von Trübsal begleitet werden, und dafür war es draußen eindeutig zu schön. Lieber dachte sie an das Kind, das Stella in ein paar Monaten auf...
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