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Knapp zwei Stunden später war Paula immer noch erhitzt vom Baden und voller Vorfreude auf den heutigen Abend. Ihre Wangen glühten, wie immer, wenn sie aufgeregt war. Abgesehen davon war sie einfach nur glücklich, dass endlich wieder einmal etwas in Gablenberg los war. Etwas Schönes. Paula liebte den Ort, an dem sie geboren und aufgewachsen war. An fünf Tagen in der Woche arbeitete sie als Kellnerin im Lamm, servierte den Gästen Eintöpfe, Most und Wein und manchmal, wenn Adelheid, die Köchin, wieder von einem Hexenschuss geplagte wurde, kochte sie auch nach ihren Anweisungen. Aber zunehmend fragte sie sich, ob dieses Leben hier alles war, was der liebe Gott für sie vorgesehen hatte, oder ob es da draußen vielleicht noch mehr für sie gab. Gablenberg war ein ruhiges Weinbauerndorf, das zwar zu Stuttgart gehörte, aber dennoch nicht viel Großstadtflair zu spüren bekam oder gar selbst versprühte. Paula kannte hier jede Straße, jedes Haus und auch jeden, der im Milchladen ihrer Mutter einkaufte. Aber die Welt da draußen schien so verheißungsvoll, so voller Abenteuer und spannender Länder, dass es ihr schwerfiel, einfach nur still zu sitzen und dabei zuzusehen, wie das Leben an ihr vorbeizog. Immer, wenn sie an ihre Zukunft dachte, spürte sie eine Unruhe und eine diffuse Sehnsucht, die sie selbst nicht zuordnen konnte. Vielleicht lag es ja an ihrem neunzehnten Geburtstag, den sie in etwas mehr als zwei Wochen feiern würde. Früher hatte Paula immer gedacht, dass sie bis dahin längst erwachsen sein und genau wissen würde, wohin ihr Weg sie führte. Aber das war überhaupt nicht der Fall. Ganz im Gegenteil. Sie wusste nur, dass es für sie einfach mehr geben musste, als in diesem Haus zu bleiben und gemeinsam mit ihrer Mutter den Milchladen zu führen, so lange, bis sie einen Ehemann gefunden hatte und Kinder bekam. Selbst wenn Ingrid und alle anderen von einem solchen Leben träumten, schüttelte sich Paula allein bei dem Gedanken an die Vorhersehbarkeit des Ganzen. Wenn das ihr Dasein war, würde sie vermutlich ersticken und eingehen, bevor sie wirklich gelebt hatte.
Besonders schlimm wurde es jedes Mal, wenn sie im Lichtspielhaus gewesen war. Sie bewunderte all die wunderschönen Schauspieler in ihren schillernden Roben mit den funkelnden Juwelen, die sich bei Champagner so selbstverständlich über Gott und die Welt unterhielten, als wäre das Leben eine einzige, immerwährende Party, und sie sehnte sich danach, so etwas auch einmal zu erleben. Gott und die Welt.
Sie hatte schon ab und zu versucht, mit Philip, Ingrid oder mit ihren Brüdern über die Sehnsucht nach mehr zu sprechen, aber alle hatten sie nur verständnislos angesehen.
Keiner außer ihr schien sich die Frage zu stellen, welche Abenteuer es jenseits von Gablenberg zu erleben gab, außer vielleicht Richard, der zumindest nicht wie alle anderen Jungs in diesem Alter davon träumte, bei der Stuttgarter Straßenbahngesellschaft Schaffner zu werden und frühmorgens an den Ostendplatz zum Drehkreuz zu laufen. Was Paula hingegen in Bezug auf ihn große Sorgen bereitete, war, dass er oft bei den Kaisers nebenan am Radio saß, der einzigen Familie, die bisher eines hatten und die nötige Genehmigung dazu, wenn dieser grässliche Hitler wieder eine seine aufrührerischen Reden führte. So lange saß er dort, bis Herr Kaiser das Radio abdrehte und Richard nach draußen scheuchte.
Aber auch er würde seinen Platz schon noch finden. Jeder hatte ihn gefunden. Philip würde den Fensterbaubetrieb seines Vaters übernehmen, Kurt war glücklich bei den Straßenbahnbetrieben, ihre Mutter hatte den Milchladen, Ingrid vermutlich bald einen feschen Ehemann und die Familie, von der sie seit der Grundschule träumte. Selbst der unstete Richard würde vermutlich irgendwann bei Mercedes-Benz in Untertürkheim als Mechaniker landen und den ganzen Tag unter öligen Automobilen liegen, so wie er es sich seit Jahren wünschte. Jeder um Paula herum schien zu wissen, wo er hingehörte und was er für eine Aufgabe im Leben hatte. Nur Paula nicht. Sie wusste noch nicht einmal, wo sie suchen sollte. Sie liebte ihre Familie. Und Philip liebte sie auch. Und dennoch fühlte sie sich ab und zu, als wäre sie ein Pinguin mitten in der Wüste. Aber Tanzen half.
Vor dem kleinen Spiegel im Flur strich sie sich noch einmal über ihre glänzenden Locken, die sie mit zwei Klammern so nach hinten gesteckt hatte, dass sie beinahe wie Liane Haids Frisur in Das Lied ist aus aussahen. Den Film hatte sie letzte Woche mit Ingrid in den Ostend-Lichtspielen in der Raitelsbergstraße angesehen. Seitdem ließ sie vor allem das merkwürdige Ende nicht mehr los, bei dem sich Liane Haid als berühmte Sängerin Tilla gegen ihre große Liebe Ulrich entschieden und stattdessen den reichen Tönli geheiratet hatte. Und das alles nur wegen eines Missverständnisses.
»Frag nicht, warum ich gehe, frag nicht warum.
Was immer auch geschehe, frag nicht warum .«,
begann sie Tillas berühmtestes Lied aus dem Film zu singen, das ihr ständig im Kopf herumging, und gab sich Mühe, dabei ebenso verführerisch zu lächeln wie die Schauspielerin. Doch schon musste sie über sich selbst lachen. Sie war keine Tilla, keine Operettensängerin und schon gar keine Schauspielerin. Vor allem aber schwor sie sich, nie in ihrem Leben auf die Liebe zu verzichten, wenn sie sie denn einmal gefunden hatte. Sie wollte ehrlich sein, genau hinsehen und keine Missverständnisse zulassen. Immerhin war die Liebe das kostbarste Geschenk, das man einem Menschen machen konnte. Aber ob es diesen einen Menschen für sie da draußen überhaupt gab? Und ob sie sich wohl je begegnen würden? Wenn man bedachte, wie viele sich auf der Erde tummelten, war die Liebe sowieso ein ziemlich unwahrscheinlicher Zufall und ein Glück, das ganz bestimmt nicht jeder einfach so vor der eigenen Haustür fand.
»Fort mit dir!«, sagte sie zu ihrem nachdenklichen Gesichtsausdruck, der ihr nun wieder aus dem Spiegel entgegensah, und scheuchte den kurzen Anflug von Schwermut aus ihren Gedanken.
Bevor sie sich weiter selbst anstarren konnte, klingelte es zum Glück unten an der Tür. Philip war gekommen, um sie und ihre Brüder abzuholen. Auf dem Weg nach unten ging sie noch schnell bei ihrer Mutter in der Küche vorbei und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. Ein wenig müde sah Luise Wilhelm aus, wie in letzter Zeit so oft, aber sobald sie Paula bemerkte, breitete sich ein warmes Lächeln auf ihrem Gesicht aus.
Schnell trocknete sie die Hände an ihrer Schürze ab, bevor sie Paula an den Armen nahm und zu sich drehte. »Wie hübsch du bist«, sagte sie leise. Behutsam strich sie ihrer Tochter über die zurückgesteckten Locken, bevor sie ihre Hand an Paulas Wange legte und sie nachdenklich ansah. »Deine Haare glänzen wie blank polierte Kastanien, hat dein Vater immer gesagt.« Sie lächelte wehmütig. »Ich wünschte nur, er könnte sehen, wie groß und stark sein Kastanienmädchen geworden ist.«
»Das wünschte ich auch,« sagte Paula ebenfalls leise.
Ihr Vater Karl Wilhelm war es gewesen, der seine Tochter immer dazu ermutigt hatte, zu träumen und zu lernen. Er hatte ihr gesagt, dass Beschränkungen sowieso nur in ihren Köpfen existierten und die Welt nicht an der Stadtgrenze aufhörte. Dass sie ihr Glück selbst in die Hand nehmen musste. Er hatte selbst davon geträumt, mit seinem besten Freund Walter Behrend gemeinsam nach New York zu gehen und einmal die Freiheitsstatue zu sehen, aber dann hatte er Lungenkrebs bekommen und alles war ganz schnell vorbei gewesen. Vermutlich hatte Paula ihm ihre verrückten Sehnsüchte und die Sorge zu verdanken, den Rest ihres Lebens genau hier zu verbringen, ohne nachzusehen, ob die Welt nicht vielleicht anderes, größeres für sie zu bieten hatte.
Ihr Vater fehlte ihr schrecklich. Er war gestorben, als Paula elf und die Zwillinge gerade mal acht Jahre alt gewesen waren. Und seitdem hatte ihre Mutter die drei Kinder allein großgezogen, den Milchladen geführt und sich um das Haus und ihre Mieter gekümmert. Kein Wunder sah sie müde aus. Sofort hatte Paula ein schlechtes Gewissen, weil sie tanzen ging, anstatt ihrer Mutter die eine oder andere Aufgabe abzunehmen.
»Soll ich dir nicht doch noch ein bisschen helfen?«, fragte sie schnell.
»Nein, geh schon, Paula. Ich komme zurecht. Einmal im Monat werde ich mich ja wohl allein um den Haushalt kümmern können.« Sie lächelte ihrer Tochter aufmunternd zu. »Aber nur, wenn du einen Walzer für mich mittanzt.« Luise Wilhelm begann, ihre Hüften ein wenig zu wiegen.
»Einen, Mutter? Wenn du willst, tanze ich sie alle!«, antwortete Paula fröhlich als die Vorfreude in ihr Herz zurückkehrte. »Und alle Quickstepps und Shimmys tanze ich auch.« Sie lachte laut auf, als ihre Mutter stehen blieb und sie mit gerunzelter Stirn ansah. »Dann wirst du Mühe haben, morgen in der Kirche wach zu bleiben«, sagte sie streng, aber ihre Augen funkelten ebenfalls fröhlich dabei. »Wobei das durchaus auch an Pfarrer Lehmanns langatmiger Predigt liegen kann.«
»Ich dachte, du magst ihn.«
»Ich mag ihn ja auch. Und es gefällt mir, wie er sich von diesem schrecklichen Wolff nicht unterbuttern lässt. Aber ein bisschen interessanter könnten die Gottesdienste trotzdem sein.«
Mit beidem hatte Luise Wilhelm auf jeden Fall recht. Überhaupt bewunderte Paula ihre Mutter. Sie war selbstbewusst, mutig und auch ein wenig streitbar. Neulich hatte sie Eugen Wolff, dem Ortsgruppenleiter der NSDAP, vor die Füße gespuckt, als er nach dem Gottesdienst aufgetaucht war und versucht hatte, seine politischen Botschaften unter die Gemeindemitglieder zu bringen.
Luise Wilhelm kannte keine...
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