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Während der Vorarbeiten zu diesem Essay habe ich vielen Leuten dieselbe Frage gestellt: Was ist der Geist Ihrer Ansicht nach? Ich richtete sie an Menschen, die ich nie zuvor gesehen hatte, und an Bekannte. Immer habe ich hinzugefügt, dass die Frage offen sei. Es ging mir nicht um die «richtige» Antwort, sondern ich war wirklich neugierig, was er oder sie zu sagen hatte. Meine Gesprächspartner waren gebildete Menschen aus den USA und Europa, von denen aber keiner vorher jahrelang theoretische Überlegungen zu Fragen des Geistes angestellt hatte. Die meisten waren unsicher, wie Geist zu definieren sei. Einige waren angesichts der Frage tatsächlich perplex. Obwohl wir nämlich «Geistesgegenwart beweisen» oder «geistreich sein» und sogar «im Geiste etwas sehen» können, ist der Geist ein schwer fassbarer Begriff. Um ihnen auf die Sprünge zu helfen, stellte ich eine weitere Frage: Glauben Sie, der Geist unterscheidet sich vom Körper? Fast alle trafen die übliche Unterscheidung zwischen physisch und psychisch. Der Geist denkt. Der Körper tut es nicht. Genau an diesen Dualismus glaubte Descartes: Der denkende Geist und der fühlende Körper waren bei ihm aus unterschiedlichem Stoff, doch irgendwie spielten sie zusammen. Als Nächstes fragte ich, ob Gehirn und Geist dasselbe sind oder ob sie sich unterscheiden. Hier gingen die Meinungen stark auseinander. Die einen waren der Ansicht, Gehirn und Geist seien identisch, andere glaubten das nicht. Man sieht, wie schnell diese einfachen Fragen zu vertrackten Problemen hinsichtlich des Wesens des menschlichen Geistes führen.
Glaubt man, dass der Geist etwas anderes ist als das Gehirn, stellt sich sofort die Frage: Woraus besteht er, was hat er, was das Hirn nicht hat? Was muss man über die graue Substanz hinaus in Betracht ziehen, um den Geist zu begreifen? Ist der Geist immateriell? Ein Mann, der während eines Abendessens neben mir saß und strikt zwischen Geistigem und Körperlichem trennte, reagierte ganz aufgebracht, als ich ihn fragte, woraus das Geistige bestehe? War es Gott, die Seele oder mathematische Wahrheit? Entschieden verbat er sich jede Erwähnung von Theologie, und das war so ziemlich das Ende unseres Gesprächs. Er wusste zwar, dass Körper und Geist zwei verschiedene Dinge waren, darüber reden, was sie sein könnten, wollte er aber nicht.
Wenn hingegen der Geist das Gehirn ist und das Gehirn ein Körperorgan wie jedes andere, ein Organ wie das Herz oder die Leber oder die kurzlebige Plazenta, warum ist der Geist dann höhergestellt als andere Körperteile? Auch diese Frage war manchen unangenehm. Viele von uns verorten das Wesen unseres Selbst im Kopf, in unserem denkenden Geist. Wenn mein Geist dahingeht, gehe ich mit ihm. Wenn mir ein Bein abhandenkommt, bin ich trotzdem noch da. Mein Bein macht mich nicht auf dieselbe Weise aus wie mein Denken, obwohl beide zu mir gehören. Natürlich ist es erlaubt, zu fragen: Warum sollte sich jemand Gedanken darüber machen, was der Geist ist? Viele Menschen werden alt, ohne deshalb je eine schlaflose Minute zu verbringen. Ich meine aber, die Frage ist wichtig, weil es Auswirkungen auf viele Wissensbereiche hat, je nachdem, wie das Problem gelöst wird, auch wenn diese Folgen nicht gleich ins Auge springen. Ein Beispiel: Wenn mentale Probleme Erkrankungen des Hirns und nicht Erkrankungen des Geistes sind, warum gibt es dann die Psychiatrie zur Behandlung der Seele und die Neurologie zur Behandlung des Gehirns? Warum nicht nur ein Fachgebiet, das sich mit Hirnkrankheiten befasst? Jeden Tag erreichen uns neue Meldungen aus noch unbekannten Gefilden der Hirnforschung, der Genetik und der künstlichen Intelligenz, deren Inhalte abhängig davon sind, wie einzelne Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen das Körper-Geist-Problem auffassen.
Mir ist klargeworden, wie entscheidend die jeweilige Betrachtungsweise von Geist für viele Forschungen ist. Ein Einzelbeispiel reicht aus: Depression ist eine noch ungenügend verstandene Krankheit. Niemand weiß genau, wie gewöhnliche Traurigkeit und Depression zusammenhängen. Eine gängige und wirksame Behandlungsmethode von Depression ist die Kognitive Verhaltenstherapie, kurz KVT. In vielen Fachaufsätzen, Vorträgen und auch Werbeanzeigen formulieren KVT-Befürworter eine Variante der folgenden Aussage: «negative Denkmuster sind dysfunktional und haben Auswirkungen auf Stimmung, Selbstbild, Verhalten und sogar körperliche Befindlichkeit eines Menschen».[1] Indem negative Bewusstseinsinhalte in positive verwandelt werden, können Betroffene sich «besser» denken, so die Grundannahme in der KVT. Bei diesem Ansatz werden «Gedanken» - das, was ein Patient bewusst denkt - von seinem körperlichen Zustand getrennt. Die Gedanken wirken auf den Körper zurück. In der KVT werden Gedanken somit als etwas vom Körper Verschiedenes betrachtet, das ihn aber auf rätselhafte Weise manipulieren kann. Dies ist ein philosophisches Problem, denn die Gedanken scheinen immateriell zu sein, aus Nichts bestehend.
Der Epiphänomenalismus ist die Lehre davon, dass Bewusstseinserfahrungen nicht ursächlich auf den Körper zurückwirken. Auch wenn die meisten von uns ziemlich sicher sind, dass unser Verhalten durch unser Denken beeinflusst wird, bleibt es ein Rätsel, wie dies vonstattengeht. Elisabeth von der Pfalz klingt in den Worten des US-amerikanischen Sprachphilosophen John Searle nach, der das Dilemma so formuliert: «Doch wenn unsere Gedanken und Gefühle wahrhaft geistig sind, wie können sie sich dann auf irgendetwas Materielles auswirken? Wie könnte sich aus etwas Geistigem eine materielle Veränderung ergeben? Sollen wir annehmen, dass unsere Gedanken und Gefühle irgendwie chemische Wirkungen auf unser Hirn und das restliche Nervensystem hervorbringen?»[2] Wie Probleme im Kontext von Depression und ihrer Behandlung gelöst werden, hängt von der jeweils zugrundeliegenden Theorie des Geistes ab. KVT übernimmt den kartesianischen Dualismus, aber mit seinen Rätseln wollen sich ihre Vertreter nicht befassen. Viele Studien belegen die Wirksamkeit der KVT bei Depressionen. Dass eine Methode anschlägt, bedeutet aber noch nicht, dass sie aus den Gründen, die ihre Verfechter anführen, funktioniert.
Das Körper-Geist-Dilemma wird schnell zum Mensch-Umwelt-Problem. Wie gelangt etwas außerhalb des menschlichen Körper-Geists Liegendes ins Innere desselben? Wo nehmen Wörter ihren Anfang? Im Außen, in der gemeinsam verwendeten Sprache, oder im Innern des Körpers, bei der angeborenen Fähigkeit, Sprache zu erwerben? Mäuse sprechen nicht so wie wir. Wenn die Persönlichkeit oder der Charakter eines Menschen genetisch weitgehend festgelegt ist, erscheinen die Bedingungen der äußeren Welt weniger wichtig als Manipulationen am Genom. Vielleicht ist die Neigung zur Depression angeboren. Wenn der Geist nun dasselbe ist wie das Gehirn und nichts anderes, und dieses Gehirn als eine Maschine verstanden wird mit unterschiedlichen Teilen für unterschiedliche Aufgaben, die man auseinandernehmen und wieder zusammensetzen kann, dann hat diese Vorstellung Auswirkungen darauf, wie wir über depressive Menschen denken.
Wenn der Geist eine Hobbes'sche Maschine ist, dann können wir auch eine neue konstruieren, die nie depressiv wird, und bald tummeln sich allzeit glückliche Androiden unter uns. Wenn wir, wie Descartes und vor ihm Pythagoras, an einen immateriellen Geist glauben, an die ewige Wahrheit der Zahlen und daran, dass das Universum von unwandelbaren mathematischen Gesetzmäßigkeiten beherrscht wird, dann werden es diese Prinzipien sein, die unsere Vorstellungen von Gehirn, Geist und Körper leiten, und nicht die Sorge um die organischen Tatsachen aus Fleisch und Blut. Falls man sich überhaupt noch Gedanken über Depressionen macht, wird man sie in Begriffe fassen, die mit dem Körper nichts mehr zu tun haben. Geht man hingegen davon aus, dass Geist und Gehirn eine dynamische, fließende Einheit bilden, dass auch Tiere einen Geist besitzen, dass also der Gehirn-Geist eher dem von Vico als dem von Hobbes beschriebenen gleicht und dass dieser sich in Verbindung mit der Erfahrung verändert, dann muss man den Blick auch auf die Beziehungen eines depressiv Erkrankten zu den Menschen in seinem Leben richten, um wenigstens ein paar Hinweise auf die Frage, was schiefgelaufen ist, zu erhalten.
Tatsache ist, man ist sich nicht einig über den Geist. Es gibt keine einheitliche Theorie darüber, was er ist. Es herrscht Verwirrung, und nicht nur bei jenen, die sich selten Gedanken über das Körper-Geist-Dilemma machen. Naturwissenschaftler, Philosophen und Gelehrte aus allen Bereichen geraten bei diesem Problem oft aneinander. Die Kämpfe werden unter verschiedenen Namen ausgetragen, etliche drehen sich um das Bewusstsein - was darunter zu verstehen ist und warum wir überhaupt eines haben. Das ist bemerkenswert, denn wer würde heute noch Einwände gegen Kopernikus vorbringen? Wir sind uns einig, dass die Erde um die Sonne kreist. Niemand würde behaupten, William Harveys Beschreibung der Herzfunktion sei ein Irrtum. Einsteins Relativitätstheorie ist heute ebenso allgemein anerkannt wie die Quantenmechanik, auch wenn sich die beiden nicht in einer übergeordneten Theorie der Physik zusammenführen lassen. Die gegenwärtigen, unter verschiedenen Bannern geführten Gefechte über «den...
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