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Amabel
Ich liebte den Herbst mit seinen fallenden Blättern und dem harschen Wind . Aber noch viel mehr liebte ich diese Tage, wenn der Sommer zurückkehren wollte, wenn die Sonne verzweifelt versuchte, noch einmal durch die dicke Wolkendecke zu gelangen. Wenn es nachts begann zu regnen und es sich so anfühlte, als würden die Erlebnisse des Sommers in der Dunkelheit fortgewaschen werden. Als würde der Himmel noch dunkler werden, als er schon war, und der Wind wispern: Ich bin hier.
Genau so eine Nacht war heute. Meine Finger tänzelten über die Fensterscheibe, die Gaslampe warf Schatten an die Wände, und ein Donnerwetter braute sich über dem Meer zusammen. Ich seufzte leise, während Gedanken durch meinen Kopf huschten wie Vögel auf ihrem Flug gen Süden.
Wer zur Hölle ist Harri?, fragte ich mich zum tausendsten Mal, und die Antwort war wie immer Schweigen.
Seit Lucies und Arthurs Verlobungsfeier waren nun zwei Wochen vergangen, und immer noch bekam ich diesen vermaledeiten Gedanken nicht aus dem Kopf. John, der mit seinem Studienkollegen über einen Harri gesprochen hatte.
Du sollst dich nicht mehr vor dir selbst verstecken und endlich mit der Wahrheit rausrücken.
Was war damit gemeint? Wieso sollte sich John - gerade John Hold mit seinem faszinierenden Lächeln, unvergleichlichen Charme und diesen rabenschwarzen Locken - vor irgendetwas verstecken? Ich sollte dankbar sein, dass er mein Verlobter war. Aber . ich konnte ihn nicht lieben, und selbst wenn ich es gekonnt hätte, musste ich mich damit abfinden, dass er mich doch immer nur abwies. Er zeigte mir keinerlei Zuneigung - von Anfang an schon nicht.
Es klopfte leise an meiner Zimmertür, und ich fuhr erschrocken zusammen. Mit einem leisen Quietschen schwang die Tür auf. Lucie trat ein, sie trug eine Lampe in der Hand und der schwache Schein des Lichts erhellte ihre ebenmäßigen Gesichtszüge. Gott, noch immer begann mein Herz ein wenig wehmütig zu klopfen, wenn ich sie ansah. Wenn ich daran dachte, dass ich Gefühle für sie entwickelt hatte, die über eine Freundschaft hinausgingen.
Aber das war in Ordnung. Ich hatte in den letzten Wochen viel mit Lucie über uns gesprochen und war im Reinen mit meinen Gefühlen. Ich liebte sie nicht, jedenfalls nicht so, wie . ein Mann eine Frau lieben würde. Nein, sie war meine beste Freundin geworden.
»Was . was tust du hier?«, fragte ich etwas ruppig. Doch Lucie schenkte mir nur ein gutmütiges Lächeln, schloss die Tür hinter sich und setzte sich zu mir auf die Fensterbank.
»Ich hatte Durst und wollte mir Wasser holen, da habe ich gesehen, dass in deinem Zimmer noch Licht brennt.« Sie stieß mich sanft mit der Schulter an. »Woran denkst du?«
Ich seufzte leise und legte meinen Kopf an die kühle Fensterscheibe. Es gab tausend Dinge. Aber ich konnte nichts davon wirklich in Worte fassen. Alles schien wie Nebel, den man versucht mit den Händen zu greifen - ein unmögliches Vorhaben.
»Denkst du an John?«, hakte Lucie sanft nach.
»Mhm .«, machte ich nur und lauschte dem heftigen Wind, der an den Ästen der Bäume zerrte. Dem Rumoren des Gewitters, das sich über uns zusammenbraute.
»Wir werden schon herausfinden, wer Harri ist«, sagte Lucie und ergriff meine Hand. »Und dann finden wir heraus, welches Geheimnis John verbirgt, aber vor allem .«
Sie seufzte ebenfalls und legte ihre Stirn an meine. »Aber vor allem wirst du glücklich werden, Amabel. Das schwöre ich dir.«
Ich musste schmunzeln bei ihren Worten. Lucie hatte ein reines Herz, sie war die liebste Person, die ich kannte. Immer um die anderen besorgt, scherte sie sich zu wenig um ihr eigenes Herz. Nun hatte sie mit Arthur einen Mann gefunden, der sie verstand. Mit dem sie Freude und Leid teilen konnte. Ich freute mich wahrhaftig für sie, aber da war immer noch dieses merkwürdige Prickeln in meinem Nacken, wann immer ich Lucie und Arthur zusammen sah.
Mir war bewusst, dass dieses Gefühl Neid war, und ich schämte mich dafür, so zu empfinden. Ich wünschte mir auch, endlich jemanden zu finden, der mich lieben könnte. So, wie ich war. Eine Frau, der ich mich anvertrauen könnte. Eine Beziehung, die meine Adoptiveltern wahrscheinlich niemals erlauben würden. Und zu allem Überfluss war ich schon mit John verlobt.
John Hold, dessen Adelsfamilie über weitreichende Handelsbeziehungen verfügte, die ihnen hohes Ansehen und Reichtum verliehen. Er ging gemeinsam mit Lucies Verlobtem Arthur Smith einem wirtschaftlichen Studium nach, um irgendwann die Geschäfte von seinem Vater zu übernehmen.
John, der mit seinen zweiundzwanzig Jahren schon sehr erwachsen wirkte.
Und über den ich doch fast nichts zu wissen schien.
Ich schüttelte den Kopf, um die Gedanken an ihn zu vertreiben, und sah Lucie an.
»Danke, dass du für mich da bist .«, flüsterte ich heiser.
Ohne Lucie würde ich mich hoffnungslos verloren in dieser Welt fühlen, die sich viel zu schnell drehte. Ich konnte mit diesem Tempo nicht Schritt halten, hatte jede Sekunde das Gefühl, das Gleichgewicht zu verlieren und in einen bodenlosen Abgrund zu fallen.
Lucie löste sich von mir und verschränkte ihre Hände ineinander. Sie musterte mich aufmerksam, dann glitt ihr Blick nach draußen. »Bald ist der Herbstball, da wirst du John wiedersehen. Und dann begeben wir uns auf Spurensuche .« Sie zwinkerte mir zu und klang dabei so begeistert, als wäre es ein Spiel für sie.
»Du klingst wie ein Detektiv«, murmelte ich halbherzig und gähnte erschöpft.
»Detektivin, wenn ich bitten darf«, korrigierte Lucie mich und lachte leise auf.
»Als ob Frauen so was könnten .«, entgegnete ich frustriert und pustete mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
Lucie sah mich schweigend an, zog ihre Augenbrauen nachdenklich zusammen. »Wir können alles sein, was wir wollen, Amabel. Wir müssen nur dafür kämpfen.«
Lucie sagte diese Worte, um mich aufzuheitern. Das war nett von ihr, aber es änderte nichts an der Wahrheit. Denn wir konnten eben nicht alles sein. Als Frauen aus gutem Hause sollten wir nur eines sein: eine Ehefrau. Und dann auch Mutter. Und beides würde ich . niemals wahrhaftig sein können, denn ich konnte keinen Mann lieben. Doch diese Tatsache war mein Geheimnis und ich dazu bestimmt, John zu heiraten. Dann wäre ich eine unechte Ehefrau und würde eine verlogene Mutter werden. Herr im Himmel, diese Gedanken machten mich wahnsinnig.
Wie kleine Nadelstiche bohrten sie sich in meinen Kopf. Ich biss mir auf die Unterlippe und blinzelte hastig die Tränen weg, die sich in meinen Augen sammelten.
»Denkst du nicht, dass es gut wäre, wenn du mit deinen Eltern über deine Gefühle sprichst?«, fragte Lucie zaghaft. Ihre Stimme klang sanft, und sie beugte sich mir vorsichtig entgegen. Wie ein Tier, das sich bereit machte, sofort zu flüchten. Denn sie wusste, dass sie sich mit dieser Frage auf gefährlichem Terrain bewegte.
»Nein, das denke ich nicht.« Ich war selbst überrascht wegen der Schärfe in meiner Stimme und schlug erschrocken die Hand vor meinen Mund. »Tut mir leid«, murmelte ich betroffen und senkte den Blick.
Lucie rückte erneut ein Stück zu mir heran und zog mich in ihre Arme. »Das muss es nicht .« Sie strich über meinen Rücken, und ich fühlte mich in ihren Armen geborgen. Noch nie hatte ich eine Freundin wie sie gehabt. Noch nie hatte ich mich einem Menschen völlig anvertraut.
»Aber .«, setzte Lucie vorsichtig an, »deine Eltern sind dir doch wichtig, oder nicht?«
Ich hatte Mühe, den dicken Kloß in meinem Hals hinunterzuschlucken.
Lucie erhob sich und holte aus der Tasche ihrer Strickjacke ein kleines, in Tücher gewickeltes Päckchen hervor. Als sie es auswickelte, drang der süßliche Duft von Schokolade in meine Nase.
»Hast du Kuchen aus dem Speiseraum stibitzt?«, fragte ich und hob eine Augenbraue.
»Vielleicht .« Lucie wiegte den Kopf hin und her, ein schelmisches Grinsen huschte über ihre Züge. »Kuchen hilft immer, jedenfalls hat das meine Mama gesagt.« Sie reichte mir ein Stück der Süßigkeit.
Kurz flackerte ein Schatten über Lucies grüne Augen, dann jedoch lächelte sie mich wieder offen an. Sie vermisste ihre Mutter, die erst vor drei Monaten gestorben war. Über den Verlust eines geliebten Menschen kam niemand so leicht hinweg. Das wusste ich selbst am besten.
Selbst nach all den Jahren - nun waren es fast fünfzehn - vermisste ich meine leibliche Mutter schmerzlich. Ich konnte mich kaum noch an sie erinnern. Sie war wie ein Schatten, der durch meinen Kopf geisterte, keine wirkliche Erinnerung. Aber dennoch sehnte mein Herz sich nach ihr.
»Natürlich sind meine Adoptiveltern mir wichtig«, nahm ich den Faden der Unterhaltung wieder auf und seufzte leise. »Sie haben mich nach dem Tod meiner Mutter in ihre Familie aufgenommen, sie haben mir alles gegeben, was ich brauchte. Ohne sie wäre ich in einem Waisenheim aufgewachsen. Ich hätte nicht den Stand in der Gesellschaft, den ich jetzt habe.«
Lucie verspeiste genüsslich ihr Kuchenstück, dann lehnte sie sich an die Fensterscheibe und zog die Beine an die Brust. Nachdenklich blickte sie mich an, sagte jedoch kein Wort.
»Nein, dieser Status in der Gesellschaft ist mir nicht das Wichtigste«, erklärte ich mich, weil ich ahnte, dass Lucie mich darauf hinweisen wollte. »Aber ich habe dadurch ein besseres Leben, eine Chance in dieser Welt. Und ich darf meine Eltern auf...
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