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. müssen wir Ihnen leider mitteilen, dass Ihrem Antrag auf Zulassung zum Medizinstudium nicht entsprochen werden kann .
Weiter wollte Gerda nicht lesen und konnte es auch gar nicht, denn in ihren Augen sammelten sich Tränen und ließen ihre Sicht verschwimmen. Sie zerknitterte den Brief in der Hand, und ein Schluchzen entrang sich ihrer Kehle.
»Verdammt .«, murmelte sie und wischte sich eilig über die Wangen, als die Tür zur Dachterrasse mit einem Quietschen aufgestoßen wurde.
»Gerda? Ist alles in Ordnung?«, erklang die Stimme ihrer Tante Julia. Langsam drehte Gerda sich um.
»Ja .«, log sie und versteckte den Brief, den sie heute in der Frühe dem Postboten beinah aus der Hand gerissen hatte, hinter dem Rücken.
Tante Julia hatte ihr rotes Haar zu einem Dutt hochgebunden, und ein paar lose Strähnen umrahmten ihre feinen Gesichtszüge. Mit nun Mitte vierzig strahlte sie immer noch eine jugendliche Frische aus.
Sie kam näher, zog die Stirn in Falten und musterte Gerda eingehend. »Du lügst«, stellte sie fest, und ehe Gerda sich's versah, griff ihre Tante hinter ihren Rücken und entriss ihr den Zettel.
»Nicht!«, rief Gerda, doch da hatte Julia die Zeilen auf dem Papier schon überflogen.
»Oh, mein Kind . Das tut mir leid«, murmelte sie und zog Gerda in ihre Arme.
»Mir auch.« Gerda schniefte und genoss für einige Sekunden diese tröstliche, mütterliche Umarmung. Obwohl Julia nicht ihre Mutter war, war sie doch zu der Person geworden, die dieser am nächsten kam, nachdem ihre Eltern sie im Jahr 1938 verlassen hatten. Sie hatte sie durch die Kriegsjahre begleitet, durch die Angst und Verzweiflung, die Trauer und die Grausamkeit, als 1945 beim Angriff auf die Cap Arcona so viele der Schiffsinsassen getötet wurden, und nicht zuletzt durch die Nachkriegszeit, in der die Wirtschaft voller Mühen und Stück für Stück wieder einen Aufschwung erlebte, genau wie die Menschen.
Der Geruch ihrer Tante, nach all den Gewürzen der Küche, gab Gerda Sicherheit, sorgte dafür, dass sie sich geborgen fühlte. Noch immer war sie ein wenig kleiner als Julia und hob sich bei der Umarmung auf die Zehenspitzen.
Julia strich ihr sanft über den Rücken, löste sich nach einigen Sekunden von Gerda und wischte ihr vorsichtig die Tränen von den Wangen.
»Du weißt, dass du es im nächsten Jahr noch mal versuchen kannst?«
»Ein weiteres Mal?«, brauste Gerda auf, ein Grollen lag in ihrer Stimme. Dies war die altbekannte Wut, die sie in sich trug, seit ihre Eltern sie verlassen hatten. »Ich wurde doch bereits zum zweiten Mal abgelehnt! Ein ganzes Jahr habe ich gewartet, und nun muss ich noch einmal .« Sie biss sich auf die Unterlippe.
Sie hatte sich so sehr gewünscht, endlich Medizin studieren zu können. Und damit in die Fußstapfen ihrer Mutter zu treten. Auf ihren Pfaden zu wandeln - egal, wie blass diese mittlerweile waren.
»Nun .« Julia räusperte sich und sah Gerda abwartend an. »Jedenfalls wirst du in der Zwischenzeit .«
Gerda stöhnte auf und wandte sich ab. Mit den Händen das Geländer der Dachterrasse umklammernd, schaute sie auf die Strandpromenade von Timmendorf herab. Auf die Menschen, die am frühen Morgen geschäftig umherwuselten. Auf das Meer, das ruhig und glatt wie ein Spiegel vor ihr lag. Möwen kreisten über ihrem Kopf, und die Sonne hatte sich gegen die Wolken durchgesetzt.
Gerda legte eine Hand auf ihre Brust. Spürte ihren pulsierenden Herzschlag unter den Fingerkuppen.
»Gerda .« Tante Julia legte eine Hand auf ihre Schulter. »Ich weiß, dass du gerne Medizin studieren willst, aber du kannst kein weiteres Jahr nur warten, es ist genug des Müßiggangs. Ich habe dir dieses eine Jahr erlaubt, weil du verschiedene Praktika gemacht und uns in der Villa unterstützt hast, aber .«
Ich weiß doch selbst nicht, was ich will, dachte Gerda und schloss kurz die Augen.
Diese Zerrissenheit raubte ihr beinah den Atem. Sie hatte mit ihrer Tante die Abmachung getroffen, dass sie eine Lehre zur Hotelfachfrau in der Villa Sommerwind beginnen würde, falls die Universität in Kiel sie erneut ablehnte. Nun war genau dies geschehen, und Gerda fühlte sich machtlos.
Sie wollte ihre Eltern suchen, sie wollte wissen, was mit ihnen geschehen war, und hatte gehofft, dass ein Studium in der Stadt, in der ihre Mutter gelernt und gelebt hatte, sie weiter voranbringen würde. Doch nun . nun schien alles so weit entfernt.
Warum gibt mir die Welt kein Zeichen, was ich tun soll?, fragte Gerda sich. Welcher Weg der richtige ist? Alle Zelte abbrechen und meine Eltern suchen oder hierbleiben bei der einzigen Familie, die ich kenne, und diese Lehre machen?
»Gerda .« Die Stimme ihrer Tante drang wie durch Watte zu ihr durch. Sie drehte sich um, konnte ihrer Tante aber nicht ins Gesicht schauen, sondern ließ den Blick über die Dachterrasse schweifen.
Gleich würden die Bediensteten hier auftauchen, damit beginnen, die Stühle aus geflochtenem Korb mit blauen Kissen zu bestücken, die Windlichter auf die Tische zu stellen und die Sonnenschirme aufzuspannen. Später würden die Gäste der Villa Sommerwind hier oben Erfrischungen zu sich nehmen und das herrliche Wetter genießen.
»Sieh mich an«, bat ihre Tante, und Gerda hob wider Willen den Blick.
Sie wollte nicht mit Julia streiten, aber irgendein Teil von ihr - dieser eine, der immerzu wütend war - wollte ihrer Tante an den Kopf werfen, dass sie keine Lust auf diese Lehre hatte. Dass sie die Belange der Villa nicht kümmerten. Dass sie aufbrechen wollte in die weite Welt.
Doch wie sollte sie das anstellen? Ohne Plan und ohne Ziel? Sie wusste ja nicht einmal, wohin es ihre Eltern vor vierzehn Jahren verschlagen hatte. Das wusste nur Tante Julia, und die sagte es ihr nicht, weil Hoffnung ihrer Ansicht nach nur trügerisch war.
Und dieser Henning Ahrens, der weiß es auch, wisperte eine leise Stimme in Gerdas Kopf. Sie erinnerte sich an das Aufeinandertreffen im Wald, daran, wie dieser junge Mann plötzlich vor ihrer Tante gestanden und ihr die Briefe von Gerdas Mutter überreicht hatte. Gott, wenn er nur hier wäre, vielleicht würde sie mit ihm sprechen können und .
»Gerda!«, riss Julias Stimme sie aus ihren Gedanken.
»Mhm?«, machte Gerda und zuckte verzweifelt mit den Schultern. »Ja, ich weiß. Ich werde diese Lehre machen, wenn es das ist, was du verlangst.«
»Was ich verlange?« Julia schüttelte den Kopf. »Ich würde dir jeden Weg erlauben, den du gehen willst. Nur lasse ich nicht zu, dass du ein weiteres Jahr nichts tust. Nicht in dieser Zeit, wo das Land langsam wieder zur alten Stärke zurückfindet. Jeder von uns muss seinen Teil dazu beitragen. Wenn du keine Lehre zur Hotelfachfrau machen möchtest, schön und gut, dann entscheide dich für etwas anderes, aber kein weiteres Jahr ohne eine handfeste Ausbildung.«
»Jaaa .«, antwortete Gerda gedehnt und unterdrückte den Impuls, ihre Augen zu verdrehen.
Tante Julia meinte es nur gut mit ihr, das wusste sie. Und trotzdem . Gerda wünschte sich, alles wäre anders.
»Nun gut .« Julia trat an sie heran und ergriff Gerdas Hand. »Ich weiß, dass du im Moment aufgewühlt und traurig bist, aber ich bin mir sicher, dass deine Chance, Medizin zu studieren, noch kommen wird. Doch für den Augenblick brauchst du eine Alternative.«
»Ich weiß.« Gerda seufzte ergeben. »Ich werde die Lehre machen .«
. auch wenn ich nicht will, setzte sie in Gedanken hinzu.
»Schön.« Julia zog sie erneut in ihre Arme. »Dann genieß noch die nächsten zwei Monate ohne Verpflichtungen, bevor die Lehre beginnt.« Sie zwinkerte ihr zu und verließ die Dachterrasse mit eiligen Schritten.
Gerda stieß die angestaute Luft aus ihren Lungen und schaute erneut zur Ostsee. »Ach Mama .«, flüsterte sie, »ich wünschte, du hättest mich niemals verlassen.«
Doch natürlich erhielt sie keine Antwort auf ihre Worte, nicht mal mehr der Wind sprach zu ihr, und Gerda fühlte sich so allein.
Sie blieb auf der Dachterrasse, bis die ersten Bediensteten auftauchten, dann trat sie eilig den Rückzug an und ging die Treppen hinunter ins Foyer der Villa Sommerwind. Einige Gäste tummelten sich auf den Sitzgelegenheiten rechts und links von der Rezeption. Goldene Sonnenstrahlen tänzelten über den dunklen Holzfußboden. Alles in der Villa war in verschiedenen Blautönen gehalten - wie die Farbe des Meeres. Aus dem Speisezimmer konnte Gerda das Geklapper von Geschirr vernehmen, und sie schaute sich suchend um. Da griff jemand nach ihrem Handgelenk.
»Guten Morgen .« Es war Hannes, der leise wie eine Katze neben ihr aufgetaucht war.
»Morgen .«, erwiderte Gerda leise.
»Du bist betrübt«, stellte ihr bester Freund fest und sah sich um. Er zog sie mit sich zur Tür nahe dem Speisesaal, die in die Küche führte, dann mehrere Gänge entlang, bis sie den Seiteneingang erreicht hatten, durch den die Mitarbeiter das Hotel betraten.
Hannes stieß...
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