Schweitzer Fachinformationen
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Luisa!« Die Stimme ihrer Schwester durchbrach Luisas verworrene Gedanken.
Unwillkürlich zuckte sie zusammen und drehte sich um. Die Sonne blendete sie, sodass sie eine Hand vor die Augen hob und blinzelte.
»Schwesterherz!«, rief die jüngere Frau und lief winkend auf sie zu.
Luisa seufzte leise und ließ sich auf der Bank inmitten der Wiese vor dem Holstentor, dem Wahrzeichen Lübecks, nieder. Ein frischer Wind fegte über die Wiese, ringsum fuhren auf den Straßen einige Automobile, und Familien hatten es sich auf dem großen Rasenplatz vor dem Holstentor auf Picknickdecken gemütlich gemacht und genossen diesen herrlichen Frühlingstag.
Sie sah zu Rowena, ihrer Schwester, die ihren dunkelblauen Hut wegen des Windes mit einer Hand festhalten musste. Sie blieb vor Luisa stehen, und die betrachtete ihre kleine Schwester eingehend.
Rowena trug ein dunkelgrünes, knielanges Kleid mit weißen Punkten, das sich ab der Hüfte weit bauschte. Dazu einen roten Gürtel und ein Perlenarmband in derselben Farbe. Ihre dunkelbraunen Haare waren zu einer kunstvollen Frisur hochgesteckt.
»Ich habe nach dir gesucht. Mutter und Vater hatten auch nicht die geringste Ahnung, wo du bist. Beim Frühstück warst du nicht da«, keuchte ihre Schwester, als sie sich neben Luisa auf der Parkbank niederließ. Luisa konnte einen leichten Vorwurf in Rowenas Stimme wahrnehmen und presste die Lippen zusammen.
»Es tut mir leid, dass ich nicht mit euch gefrühstückt habe«, antwortete sie nach einer Weile und zupfte gedankenverloren ein paar Grashalme von ihrem dunkelblauen Kleid.
Rowena stieß Luisa mit dem Ellbogen in die Seite und musterte ihre Schwester aufmerksam. Einige kastanienbraune Strähnen hatten sich aus ihrer Frisur gelöst und kringelten sich in sanften Locken um ihr Gesicht. In ihrem Blick lagen Unschuld und Neugierde.
»Wo warst du den ganzen Morgen?«, hakte Rowena nach.
Luisa seufzte und schloss kurz die Augen. Sie wollte ihrer Schwester nicht erzählen, wieso sie sich heute in den frühen Morgenstunden aus dem Haus geschlichen hatte, als die Sonne gerade erst zögernd über den Horizont geklettert war.
Ich liebe dich, Luisa Linde.
Henrys Stimme hallte in ihren Gedanken wider und ließ ihr Herz heftig gegen die Rippen pochen. Schlagartig öffnete Luisa die Augen und sah ihre Schwester erneut an.
»Bitte, Rowena, sei so gut und stell mir nicht so viele Fragen. Wo ich war, hat dich nicht zu interessieren.«
Rowena stemmte die Hände in die Hüften, sie warf Luisa einen beleidigten Blick zu.
»Ich bin deine Schwester, also hat es mich sehr wohl zu interessieren«, entgegnete Rowena schnippisch.
Luisa winkte lachend ab. »Aber du verbringst doch normalerweise am liebsten den ganzen Tag in einem Café an der Untertrave, schmachtest mit deinen Freundinnen hübsche Männer an und kicherst hinter vorgehaltener Hand über Frauen, die nicht wie du die neueste Mode oder einen kecken Hut mit Federn tragen. Also, was interessiert es dich, wo ich war?« Luisa wusste, dass es nicht gerecht war, so abweisend zu ihrer Schwester zu sein, aber Angst zog sich einem Knoten gleich in ihrem Magen zusammen.
Mit einem Mal wurde Rowenas Blick traurig, und ein Anflug von schlechtem Gewissen erfasste Luisa. Kälte zog sich über ihre Glieder, und sie fröstelte selbst in der Mittagssonne.
»Was soll ich denn sonst tun, du redest in letzter Zeit ja kaum noch mit mir!«
Luisa biss sich nachdenklich auf die Unterlippe und drehte den Anhänger, den ihr Henry heute geschenkt hatte, in den Fingern hin und her. Sie hatte sich die letzten Tage immer wieder frühmorgens aus dem Haus geschlichen, um sich mit ihm zu treffen. Mit ihrem Henry. Mit dem jungen Mann, der den Duft von Marzipan an sich trug, dessen Lippen nach Schokolade schmeckten und dessen Lachen Luisas Herz mit Liebe erfüllte.
»Ich .«, begann Luisa und schüttelte dann den Kopf. »Ich brauche meine Ruhe vor meiner nervigen Schwester!«
Rowena sah sie verletzt an und zog einen traurigen Schmollmund. Sofort bereute Luisa ihre Worte und legte ihrer Schwester eine Hand auf die Schulter.
»Das war nicht so gemeint, das weißt du, oder nicht?«, fragte sie und brachte ein schwaches Lächeln zustande.
Rowena nickte zaghaft und starrte gedankenverloren auf das Holstentor. »Du verheimlichst etwas«, sagte sie nach einiger Zeit tonlos.
Luisa erschrak bei diesen Worten, und das Herz schlug ihr bis zum Hals. »Wie bitte?« Verdattert sah sie ihre Schwester an und spürte, wie ihre Handinnenflächen feucht wurden.
Rowena stützte den Kopf auf die Hände und wippte mit den Füßen hin und her, sagte jedoch kein Wort.
»Rowena!«, sagte Luisa so ruhig wie möglich und packte ihre Schwester am Handgelenk.
Die Jüngere schaute sie trotzig an und riss sich stürmisch los. »Ich habe euch gesehen«, zischte sie zurück und stand auf.
Ein weiterer Windstoß fegte über die Wiese hinweg, und der Stoff von Rowenas Kleid flatterte wild hin und her. Wie groß sie geworden war. Wie erwachsen sie in diesem schicken Kleid aussah. Was für eine Schönheit aus ihrer kleinen Schwester geworden war.
All diese Dinge wurden Luisa in diesem einen Augenblick bewusst. Es fühlte sich für sie an, als würde die Zeit stillstehen.
»Rowena .«, flüsterte Luisa leise und griff erneut nach der Hand ihrer Schwester. Zog sie sanft zurück auf die Bank und zwang die Jüngere, sie anzusehen.
Rowena presste die Lippen fest aufeinander und sagte kein einziges Wort. Sie wich dem Blick ihrer Schwester aus.
»Er ist der Sohn des Mannes, dem die Marzipanmanufaktur außerhalb von Lübeck gehört, richtig?«, fragte Rowena nach einer gefühlten Ewigkeit.
Ihre Haltung war verkrampft, und ihre Hände zitterten leicht. Leise seufzte Luisa und rutschte unbehaglich auf der Bank hin und her. Sie hatte nicht gedacht, dass ihre Schwester ihr Geheimnis lüften würde. Dass Rowena so gewitzt war, ihr zu folgen.
»Henry Hawkins«, antwortete sie tonlos und spürte, wie sie mit einem Mal schneller atmete. Die Aufregung kribbelte in ihren Fingerspitzen. Aber der Gedanke an Henry zauberte ihr ein Lächeln ins Gesicht.
»Ein schöner Name«, erwiderte ihre Schwester ruhig und sah Luisa nun endlich an.
»Ich wollte es dir nicht verheimlichen, aber .«, begann Luisa und versuchte sich die Worte zurechtzulegen.
Es fiel ihr schwer, über Henry zu reden. Generell fiel es ihr schwer, sich mit Worten auszudrücken. Das war nicht ihr Talent. Rowena konnte das viel besser. Sie schrieb Gedichte und Kurzgeschichten. Hatte viele schriftstellerische Vorbilder und träumte davon, ein Buch zu schreiben.
»Du hast Angst, es Vater und Mutter zu sagen, oder?«, bemerkte Rowena scharfsinnig und lehnte sich zurück. Sie schloss die Augen und genoss die warmen Strahlen der Frühlingssonne.
Luisa zuckte unwillkürlich zusammen und fühlte sich ertappt. Natürlich hatte sie Angst. Henry war ein Fremder in der Welt ihrer Eltern. Zudem stammte sein Großvater ursprünglich aus England. Natürlich war seine Familie seit Jahrzehnten in Deutschland eingebürgert, und sein Großvater hatte sogar für die Deutschen im Krieg gekämpft, aber dennoch: Der Makel des Fremden haftete immer noch an ihm und war nicht fortzuwischen.
»Natürlich habe ich Angst«, erwiderte Luisa und spürte, wie sich Tränen in ihren Augen sammelten, die sie hastig fortwischte.
Ihre Eltern waren im Gegensatz zu den Eltern ihrer Freundinnen ziemlich streng und erzogen ihre Töchter recht konservativ. Sie legten Wert darauf, dass ihre Töchter jeden Sonntag brav in die Kirche gingen, und waren beide immer noch der Meinung, dass es für eine Frau genügte, zu heiraten und sich um den Haushalt zu kümmern. Obwohl ihr Vater, Stephan Linde, viel Zeit und Mühe in ihre Schulbildung investiert hatte, so wünschte er sich doch, dass Luisa und Rowena einmal standesgemäß heirateten und ein gesittetes Leben führten.
Genau aus dem Grund hatte Luisa Angst. Ihr Vater war nie jähzornig gewesen, er hatte die Mädchen mit liebevoller Strenge erzogen und ihnen die Konsequenzen ihrer Handlungen gezeigt. Aber nie war er so wütend gewesen, dass sie Angst vor ihm gehabt hatten. Und doch glaubte sie, dass er Henry niemals akzeptieren würde.
Das war es, was Luisa jetzt bedrückte. Sie hatte Angst davor, wie ihre Eltern reagieren würden.
Sie war eine junge Frau, die auf ihren eigenen Beinen stehen wollte, die ihren Schulabschluss mit Bravour gemeistert hatte. Der doch eigentlich jetzt, über ein Jahrzehnt nach dem Krieg, alle Türen dieser Welt offenstehen müssten. Aber ob sie jemals ihre eigenen Entscheidungen würde treffen können, war fraglich. So oft hatte sie sich heimlich mit Henry getroffen. So viele Liebesschwüre waren über ihre Lippen gekommen. Seine Berührungen verursachten ein wohliges Gewitter in ihrer Seele. Seine Hände waren zart und sein Blick sanft. Sie hatte sich in ihn verliebt wie der Sturm in die raue See. Es war ihr größter Wunsch, Henry zu heiraten.
»Wovor hast du so große Angst?« Rowena rückte ein Stück an ihre Schwester heran und ergriff ihre Hände.
Das hatten sie früher immer gemacht. Als kleine Mädchen hatten sie zusammen in einem Bett geschlafen. Eng aneinandergeschmiegt. Die Hände verschränkt in der Finsternis, während die Angst vor dem nächsten Bombenalarm sie bedrückte.
Wenn es irgendjemanden gab, dem Luisa jederzeit ihr Herz ausschütten konnte, dann war es Rowena.
Niemals hatte Rowena ein Geheimnis von Luisa ausgeplaudert, sie tratschte gerne über andere Menschen, aber nicht über ihre...
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