Schweitzer Fachinformationen
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Als Emery das erste Mal stirbt, ist sie erst fünf Jahre alt. Sie spielt in einem Garten, ihrem eigenen, wie ich annehme. Es ist ein ziemlich unkonventioneller Garten, liebevoll instand gehalten und voller Kletterpflanzen, die sich an Holzgerüsten emporranken. Ein Plattenweg schlängelt sich durch das Gras bis zum Teich im hinteren Teil des Grundstücks, wo Insekten um die Lilien surren. Der Duft von frisch gemähtem Gras liegt in der Luft - allerdings nicht aus diesem Garten, der gepflegt verwahrlost ist, sondern von einem der Nachbargrundstücke, diskret verborgen hinter Hecken in der Illusion, man wäre ganz allein auf der Welt. Leise Musik dudelt aus dem leicht knisternden Radio in der Küche. Die Hintertür steht weit offen, um die Sommerbrise hereinzulocken.
Emerys Vater kümmert sich auf der Terrasse um den Grill. Die Würstchen zischen, als er sie auf den Rost legt. Ihre Mutter sitzt ein paar Meter daneben, den Sonnenhut tief ins Gesicht gezogen, ein volles Glas Rosé neben sich auf dem Beistelltisch. Kondenswasser perlt am Rand des Glases ab. Es scheint unberührt, denn all ihre Aufmerksamkeit gilt dem ausgedruckten Dokument auf ihrem Schoß.
Da ist auch noch ein zweites Mädchen, am Rand der Terrasse, nicht weit von der Stelle entfernt, wo Emery spielt. Sie ist schon älter, schätzungsweise zehn. Außerdem ist sie ziemlich groß und wirkt ein wenig schlaksig und unbeholfen. Den Teint und die Haarfarbe hat sie offenbar von Emerys Mum: olivfarbene Haut und dazu dichtes braunes Haar, das ihr wie ein Vorhang ums Gesicht schwingt. Sie liest in einem abgegriffenen Buch mit dem Titel Bist du da, Gott? Ich bin's, Margaret. Allerdings blickt sie ständig auf und zu Emery hinüber, als wolle sie nach ihrer kleinen Schwester schauen, obwohl sie nicht ahnen kann, was gleich geschehen wird.
Widerstrebend wende ich mich Emery zu. Ich kann es nicht länger vor mir herschieben. Natürlich weiß ich, dass ich ihretwegen hier bin. Doch das Grauen liegt mir diesmal schwerer als sonst im Magen. Denn sie ist ja noch ein Kind.
Sie ist barfuß, kauert im Gras und betrachtet etwas auf dem Boden. In der einen Hand hält sie ein Stöckchen, mit der anderen stützt sie sich auf dem Boden ab. Eigentlich ist sie beinahe reglos, starrt nur vor sich hin, und auf ihrer kleinen Stirn entsteht eine Falte, als dächte sie über ein Problem nach, das sie nicht lösen kann. Dunkle Locken fallen ihr über die Schultern und umrahmen das herzförmige Gesicht. Bei seinem Anblick und der Unschuld, die sich darin spiegelt, krampft sich etwas in mir zusammen. Es ist ein schmerzhafter Stich, obwohl ich dachte, ich hätte dieses Gefühl längst in mir abgeschaltet. Aus reiner Notwendigkeit.
Mit plötzlicher Entschlossenheit springt sie auf, das Stöckchen noch immer umklammernd. Ich erkenne Grasflecken auf ihrer Latzhose, über deren Hosenbeine sie immer wieder stolpert, weil sie ihr ein bisschen zu lang sind.
»Emery?« Das ist ihr Vater. Mit zweifelnder Miene schaut er zu ihr hinüber, die Grillzange in der Hand. »Wo willst du hin?«
Das Gesicht ihrer Mutter ist halb im Schatten des Sonnenhuts verborgen, als sie aufblickt. »Lass sie doch, James.« In diesem Satz schwingt ein Seufzer mit, und ich kenne den Grund dafür. Es sollte keine Rolle spielen, wo Emery hingeht oder was sie tut. Schließlich kann ihr hier in ihrem Garten eigentlich nichts passieren. James sieht zwischen seiner Frau und seiner Tochter hin und her.
»Sie hat keine Schuhe an«, stellt er fest.
»Das macht doch nichts.«
»Am Teich gibt es Brennnesseln.«
»Tja, wenn sie sich verbrennt, wird sie lernen, in Zukunft nicht mehr barfuß draufzutreten, richtig?« Da Emerys Mutter sich wieder über ihr Dokument beugt, bemerkt sie die wortlose Missbilligung in den Augen ihres Mannes nicht.
Außerdem ist Emery sowieso schon losgelaufen. Sie rennt durch den Garten in Richtung Teich. Der Teich - vielleicht droht dort ja die Gefahr. Ich weiß nie genau, wie es passieren wird, nur dass es ganz bestimmt geschieht. Manchmal ist es offensichtlich: ein Krankenhausbett oder ein Auto, das zu schnell fährt. Aber oft tappe ich im Dunkeln. So wie heute. Da ist nichts als das Wissen, dass es bevorsteht. Unmittelbar. Ich sehe nur die kurzen Momente, ehe jemand stirbt, und kann mir so ein Bild von diesem Menschen in diesem Augenblick machen. Um den Zusammenhang zu verstehen. Glaube ich wenigstens, auch wenn ich nicht sicher sein kann. Schließlich hat mir ja nie jemand ein Regelwerk ausgehändigt.
Obwohl ich all das weiß, kann ich nicht verhindern, dass ich einen Satz auf sie zumache, versuche, sie festzuhalten und zu verhindern, dass sie sich dem Teich nähert. Denn ich will nicht mit ansehen müssen, wie dieses von Licht und Tatendrang strotzende kleine Mädchen nach Atem ringt, während Wasser in ihre Lunge dringt. Aber natürlich ist es zwecklos. Ich spüre den Ruck um die Taille, als mich etwas packt und zur Untätigkeit verdammt. Ich darf mich dem Schicksal nicht entgegenstellen.
Doch wie sich letztlich herausstellt, ist Ertrinken nicht das Problem.
»Autsch!« Wut liegt in ihrem Aufschrei, nicht Angst, nicht Schmerzen. Doch noch während sie erbost den Dorn in ihrem Fuß betrachtet, bemerke ich, dass sie blass wird. Es ist kein besonders großer Dorn. Nur ein winziges, stecknadelkopfgroßes Blutströpfchen quillt aus der Wunde. Kein Weltuntergang. Etwas, das Mami mit einer Pinzette herausholen und mit einem Küsschen heilen kann.
Doch in der Sekunde bevor sie zu Boden fällt, weiß ich es. Wie ich es immer weiß. Es ist vorbei. Einfach so. Ihr Herz hat aufgehört zu schlagen. Denn dieser winzige Dorn, dieser kaum sichtbare Einstich, hat genügt, um das Herz dieses kleinen Mädchens zum Stillstand zu bringen.
Sie stürzt und landet mit einem leisen Plumps auf dem sommerverdorrten Boden. Die Locken ergießen sich um ihr Gesicht. Nur wenige Zentimeter von ihren pummeligen schlaffen Fingern bleibt das Stöckchen liegen.
»Emery!« Der erste Schrei kommt von ihrer Schwester. Sie rennt durch den Garten. Ihre langen Beine überwinden mühelos die Strecke.
Ein Klappern ertönt, als die Grillzange auf der Terrasse landet und James ebenfalls losstürzt. Seine Frau ist dicht hinter ihm. Ihre Miene ist entschlossen, beinahe geschäftsmäßig, als sie sich an ihrem Mann vorbeischiebt. »Was ist los?«, fragt sie. »Emery?« Ihr Tonfall ist ein wenig barsch, so als rechne sie damit, dass die Kleine gleich wieder aufsteht. So als wolle sie ihnen nur einen Streich spielen. Dennoch höre ich die Panik, die in ihren Worten mitschwingt.
Das ist vermutlich das Schlimmste daran, obwohl ich meine Meinung dahingehend oft wieder ändere. Dennoch gehören die Schreie der Überlebenden, ihr Flehen, ihr Schluchzen - oder auch das gelähmte Schweigen, eine Leere, die sich über sie senkt - zu den Dingen, die ich am meisten verabscheue. Manchmal ist auch niemand da, wenn es zu Ende geht. Das ist genauso schwer.
Den Rest brauche ich nicht mehr mit anzusehen. Ich beobachte, wie die Mutter sich hinkauert und das Mädchen berührt. Ganz sanft, trotz ihrer entschlossenen Miene. Ich höre das Wimmern der Schwester, die über ihre Schulter späht. Und dann bin ich plötzlich an einem ganz anderen Ort. Und Emery ist es auch.
Erstaunt starrt sie mich aus ihren großen braunen Augen an. Sie trägt noch dieselbe Latzhose, die jetzt keine Grasflecke mehr hat und ihr auch nicht mehr zu groß ist. Offenbar sind ihr diese beiden Dinge im Garten nicht aufgefallen.
Unwillkürlich frage ich mich, wie ich wohl für sie aussehen mag. Ich bin ich, jedes Mal, und einige Details an mir sind konstant. Die Menschen können ihre Vorstellung von mir nicht komplett verändern. So behält zum Beispiel mein Haar stets seine Farbe - Braun wie eine Baumrinde -, und ich bin auch immer etwa gleich groß und schwer. Doch genauso wie sich meine Wahrnehmung äußerlicher Einzelheiten meiner Besucher hier verändert, gilt das, wie ich inzwischen feststellen konnte, auch umgekehrt.
»Wer bist du?« In ihrem Tonfall schwingt keine Angst mit, nur eine gesunde Portion Misstrauen.
Ich hole Luft. Eigentlich sollte ich diesen Teil des Ablaufs inzwischen aus dem Effeff beherrschen. »Ich bin hier, um dir zu helfen.« Ich bemühe mich, Ruhe und Selbstvertrauen in meine Stimme zu legen und nicht daran zu denken, wie klein sie noch ist. Daran, wie unfair es ist, dass ein Dorn ihr das Leben genommen hat. Manchmal ist dieser Punkt rasch abgehakt, zumindest bei denen, die mit dem Tod rechnen mussten und die Zeit hatten, sich damit abzufinden und Abschied zu nehmen. Diese Menschen brauchen oft nicht mehr als etwas Trost und ein paar aufmunternde Worte. Einige sind auch wütend. In diesen Fällen kann es ein wenig länger dauern. Wie wird es bei Emery sein? Was braucht sie, um ihren Tod besser akzeptieren zu können? Wie soll ich einem Kind helfen, seinen Frieden damit zu machen?
Ich spüre, wie mir etwas Saures in der Kehle aufsteigt, ein bitterer Geschmack. Vielleicht musste ich deshalb noch nie einem Kind helfen. Ich war einfach noch nicht so weit. Obwohl ich offen gestanden auch jetzt nicht das Gefühl habe, so weit zu sein. Allerdings ist es zwecklos, einen höheren Sinn in das Ganze hineingeheimnissen zu wollen. Das habe ich inzwischen aufgegeben. Zumindest habe ich es versucht.
Emery betrachtet mich mit schief gelegtem Kopf. Es ist eine sonderbare Geste, allerdings erscheint sie mir nicht vertraut, sondern vermittelt mir eher das eigenartige Gefühl, dass sie mir irgendwann vertraut werden wird. Jedenfalls bewirkt sie, dass sich meine Nackenhärchen aufstellen. »Wobei denn helfen?«, fragt sie.
Mein Mund wird trocken. Normalerweise ist meinen Besuchern...
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