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Horumersiel, Ende April 2010
Tomke
»Bist du dir sicher?«
Gisa hält zweifelnd eine Strähne der rotbraunen Haarmähne hoch.
»Ganz sicher«, antwortet Tomke entschieden.
»Aber gleich raspelkurz? Nicht, dass du es hinterher bereust.«
»Ich neige nicht zur Reue. Nun schnack nicht lange. Fang an. Ich habe heute noch was anderes vor.«
Die hübsche Blondine wirft ihrer Kundin einen prüfenden Blick durch ihren asymmetrisch geschnittenen Pony zu.
»Also, Tomke, wenn du's nicht wärst«, jetzt muss sie kichern, »dann würde ich bei diesem Radikalschnitt auf Liebeskummer tippen.«
Sie reißt sich sichtlich zusammen, um nicht laut loszuprusten, und beginnt zu schneiden. Die ersten Strähnen werden leise knirschend Opfer ihrer Schere. Wie Federn segeln sie hinab auf den Fußboden. Tomke sieht ihnen ohne Trauer hinterher und denkt: Stell dir vor, liebe Gisa: Es ist Liebeskummer!
Nachmittags
»Und mit dir ist wirklich alles okay?«
Juliane ist im Türrahmen stehen geblieben und blickt skeptisch zu ihrer Mutter herunter. Die antwortet nicht und bearbeitet weiter auf allen Vieren kniend mit der Wurzelbürste den Teppichboden. Mit einer inbrünstigen Konzentration, als gelte es für sie, in der Disziplin einen Wettbewerb zu gewinnen.
»Mama! Hast du mich überhaupt gehört?"
Tomke hält in der kreisenden Bewegung inne und sieht zu ihrer Tochter hoch. »Ja, alles klar. Was soll denn sein?«
Juliane schüttelt verärgert den Kopf. Ja, alles klar, wiederholt sie in Gedanken. Natürlich. Deshalb hast du dir auch dein Haar auf Streichholzlänge schneiden lassen. Über solche Frisuren hast du bislang nur gelästert. Man müsse am Haarschnitt Frau und Mann unterscheiden können. Das war deine Einstellung, Tomke Heinrich. Seit ich denken kann, trägst du einen erste Sahne getönten und geföhnten Bobschnitt. Und nun diese grauen Stoppeln.
Die andere Merkwürdigkeit ist der schlabberige Trainingsanzug in undefinierbarer Farbe. Juliane hätte gewettet, dass ihre Mutter so ein Kleidungsstück überhaupt nicht im Schrank liegen hat. Geschweige denn, dass sie es jemals tragen würde. Nicht einmal beim Putzen. Ihre Mutter ist für ihren extravaganten Kleidungsstil bekannt. Äußerst farbenfroh, figurbetont und eigenwillig. Nicht gerade der gängigen Mode entsprechend. Und nun dieser Sinneswandel!
Von dem befremdenden Outfit ihrer Mutter abgesehen, irritiert auch ihr Verhalten. Wie eine Kehrtwende um einhundertachtzig Grad. Als hätte sie ihre sämtlichen Vorsätze über Bord geworfen. Angefangen mit der Frühstückspension. Die hat sie frisch renovieren lassen. In einer halsbrecherischen Geschwindigkeit. Wo auch immer sie auf die Schnelle die Handwerker aufgetrieben hat. Dabei hat sie noch vor kurzem herumposaunt: Nie wieder Pensionsbetrieb. Das Thema wäre für sie endgültig abgeschlossen.
Im letzten Jahr war Tomke äußerst reiselustig und strahlender Laune. Juliane war sich sicher: Ihre Mutter hat sich verliebt. Das hätte sie ihr von Herzen gegönnt. Ihr Vater ist seit knapp drei Jahren tot und die ganz große Liebe war es zwischen ihren Eltern nicht. Ihre Mutter kam ihr wie befreit vor. Und nun dieser Umschwung. Aber es ist ja alles in bester Ordnung. Juliane atmet tief durch. Gut, da kann man nichts machen. Ihre Mutter neigt dazu, sich zurückzuziehen, wenn es ihr schlecht geht. Doch so viel Vertrauen sollte sie mittlerweile zu ihrer Tochter haben. Sie ist schließlich kein kleines Kind mehr, dem man mit Pastelltönen das Leben schöner malen muss. Sie ist dreißig, hat selbst eine Tochter und würde ihrer Mutter gerne zur Seite stehen.
»Na gut, wie du meinst. Dann ist eben alles in Ordnung.« Juliane kann sich einen schnippischen Unterton nicht verkneifen. Sie geht und lässt die Haustür hinter sich eine Spur zu hart ins Schloss fallen.
Tomke schaut ihr hinterher und seufzt. Das hat ihr gerade noch gefehlt. Ihre Tochter ist beleidigt, weil sie sich nicht bei ihr ausweint. Ganz toll. Sie pfeffert die Bürste in die Ecke und steht mühsam auf. Die letzten zwei Wochen waren ein Härtetest. Ihr tut jeder Knochen einzeln weh.
Ungewollt schießen ihr Tränen in die Augen. Dabei ist sie absolut nicht der Typ, der dicht am Wasser gebaut hat. Aber dass Juliane nun auch noch Stress macht, ist der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Sie kramt ein Taschentuch aus ihrer Hosentasche und schnäuzt sich kräftig.
Dann biegt sie ihren Rücken durch und pendelt vorsichtig mit den Hüften. Alles verspannt. Sie muss dringend eine Pause machen. Erst einmal durchatmen und einen Tee trinken.
Es sind ja nur noch ein paar Handgriffe, und die Frühstückspension ist wieder einzugsbereit. »Kunststück, wenn man nachts durcharbeitet«, brummt sie zynisch und geht am Flurspiegel vorbei, ohne sich eines Blickes zu würdigen. Dabei hat sie zurzeit ihr absolutes Traumgewicht. Es interessiert sie nicht.
Die Küche ist schmal geschnitten. Ein großes Fenster, darunter ein Tisch und zwei Stühle. Alles angenehm frei gehalten. Kein unnötiger Tand. Bis vor drei Jahren war hier jedes Regal, jede mögliche Fläche vollgestellt gewesen. Ihre gesamte Wohnung hatte an einen gutsortierten Geschenkartikelladen erinnert. Herzen, Schleifen, Vasen, Tonfiguren und Teddys. Teddys in allen erdenklichen Größen. Nachdem Gerold gestorben war, hatte sie angefangen, aufzuräumen und wegzuwerfen. Tomke kann sich nicht mehr vorstellen, wie sie die ganzen Nippes staubfrei gehalten hat.
Sie setzt Wasser für Tee auf. Am liebsten würde sie einen Grog trinken. Sie schüttelt streng den Kopf. Nee, das lass mal lieber sein, Tomke. Alkohol hatte sie die ersten Tage in sich hineingeschüttet, um dun zu bleiben. Gott sei Dank haben sich in der Zeit weder Juliane noch ihr Sohn Torben blicken lassen. Dann hatte ihr Magen verrückt gespielt. Tomke musste sich zusammenreißen und den Rum weglassen. Bevor sie in dem schwarzen Loch verschwand, das ihr schon bedrohlich entgegengrinste, hatte sie sich in Arbeit gerettet. Sie beschloss: Die Frühstückspension wird renoviert. Sie würde wieder Gäste aufnehmen. Leben ins Haus holen. Ganz davon abgesehen braucht sie das Geld. Mit ihrer Witwenrente kann sie keine großen Sprünge machen und eine Berufsausbildung hat sie nun einmal nicht. Sich irgendwo einen Aushilfsjob suchen, dafür ist sie verdorben. Sie war immer selbstständig.
Tomke schaut aus dem Fenster. Juliane fährt den Wagen temperamentvoll aus der Einfahrt auf die Deichstraße. Sie sieht nicht mehr zur Seite. Tomke lächelt unfroh. Nee, mein Mädchen. Es ist absolut nicht alles in Ordnung. Aber was hätte sie ihrer Tochter erzählen sollen? Etwa: In ein paar Tagen beginnt der Wonnemonat Mai, und am zweiten wollte ich heiraten! Ganz romantisch im Pilsumer Leuchtturm. Es sollte eine Überraschung werden. Eine richtig große Feier. Ihr hättet mich schon verstanden, auch wenn euer Vater noch nicht so lange unter der Erde liegt. Da bin ich sicher.
Sie gießt das kochende Wasser in die Kanne und stellt sie auf das Stövchen.
Es ist gut, dass sie es geheim gehalten hat. Es ist gut. Es ist gut, wiederholt Tomke den Satz wie ein Mantra. Nur Teresa aus Hannover hat sie ins Vertrauen gezogen. Aber die wohnt weit genug weg und wird sie nicht mit unnötigen Fragen quälen. Auch nicht mit Vorwürfen. Sonst weiß niemand von Paul. Tomke schluckt hart gegen die neu aufkommenden Tränen an. Ja, das ist gut so. Niemand weiß von ihm, niemand fragt nach ihm. Als hätte es ihn nie gegeben.
Aber es gab ihn. Zehn Jahre lang. Sie war zehn Jahre lang mit einem verheirateten Mann zusammen. Hätte sie das ihrer Tochter erzählen können? Nee, bestimmt nicht. Tomke kann sich gut vorstellen, was dann käme: Verheiratet? Aber Mama! Wie konntest du so naiv sein? Oder vielleicht: Wie konntest du so etwas seiner Frau antun? Und zehn Jahre? Du bist doch erst seit drei Jahren Witwe! Was ist mit Papa? Richtig gerechnet, liebe Tochter, müsste sie dann antworten. Paul und ich haben uns schon zu Gerolds Zeiten regelmäßig getroffen. Dein Vater war nämlich - wie soll ich mich da ausdrücken? Nun, ich will nicht um den heißen Brei herumreden: Er war impotent. Und er wollte über das Thema nicht sprechen. Auch nichts dagegen unternehmen. Wie ich damit klarkomme, hat ihn nicht interessiert. Irgendwann fiel mir eine Zeitungsanzeige in die Hände. Ein Mann suchte eine Frau, um Sex mit ihr zu haben. Nur Sex. Keinen bezahlten. Auf der Basis gegenseitigen Genusses ohne Verpflichtung. Ich weiß noch, wie ich die Zeitung mit der Annonce empört in den Papierkorb geschmissen habe. Nachmittags habe ich ihn wieder herausgesucht und die Nummer angerufen. So habe ich Paul kennengelernt. Er hatte ein Apartment in Wilhelmshaven. Dort haben wir uns einmal in der Woche getroffen. Wir wollten unser Privatleben draußen lassen. Jede Verantwortung. Das hat ein paar Jahre lang funktioniert. Erstaunlich gut. Aber wir sind uns immer näher gekommen. Vielleicht näher, als es in einer Ehe mit Routinegesprächen über den nächsten Tapetenwechsel oder die Zensuren der Kinder möglich gewesen wäre.
Dann ist Gerold gestorben, und ich dachte, dass ich mich von Paul auch trennen müsste. Unsere spezielle Beziehung basierte auf dem gegenseitigen Akzeptieren unserer Ehen und duldete keinerlei Grenzüberschreitungen. Unsere Gefühle hielten sich nur in Waage, solange jeder von uns verheiratet war, so habe ich gedacht. Ich wollte Schluss machen. Teresa war damals hier in der Pension der einzige Gast, und wir haben eine Nacht lang miteinander geredet. Sie war der erste...
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