Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Alles neu. Alles modern. Alle frei. Alles geht. Die 1990er waren ein ganz besonderes Jahrzehnt voller Versprechen von Fortschritt und Moderne. Wirtschaftlich, politisch und vor allem auch gesellschaftlich. Modisch und musikalisch durchaus fragwürdig, aber im Großen und Ganzen war man sich einig, dass eine neue Zeit angebrochen sei. Eine gute neue Zeit. Der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama sprach damals sogar vom Ende der Geschichte.15 Damit meinte er, dass der Wettbewerb der Systeme, der die Jahrzehnte davor geformt hatte, nun ein Ende hatte. Der Wettbewerb zwischen der Sowjetunion und den USA hatte nicht nur die politischen Entwicklungen geprägt, sondern auch die gesellschaftlichen. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion hatte nun also der Westen gesiegt. Der American Way of Life. Freiheit und Fortschritt. So ging eine verbreitete und häufig als Selbstverständlichkeit akzeptierte Sicht der Dinge. Doch ganz so war es selbstverständlich nicht. Selbstverständlich hat der Sieg des Kapitalismus über den Kommunismus für viele Menschen sehr viele Freiheiten gebracht. Aber eben nicht nur.
Der Liberalismus hatte immer zwei Stränge - den politischen und den wirtschaftlichen. Zu unterschiedlichen Zeiten zeigte sich jeweils der eine oder der andere Strang dominanter und trug stärker zur politischen und gesellschaftlichen Prägung bei. Der Liberalismus hat insofern zur Entwicklung moderner Demokratien beigetragen und die Bedeutung von Menschenrechten, Meinungsfreiheit und sozialem Fortschritt betont. Politisch setzte der Liberalismus auf die Begrenzung staatlicher Macht durch Rechtsstaatlichkeit und die Garantie von Grundrechten. Insbesondere das deutsche Grundgesetz formuliert die Grundrechte als bürgerliche Abwehrrechte gegenüber der Staatsmacht, eben um diese zu begrenzen. Der klassische Liberalismus, wie er von Denkern wie John Locke, Adam Smith und John Stuart Mill formuliert wurde, stellt den Einzelnen in den Mittelpunkt. Freiheit, Gleichheit und die Idee der Selbstverwirklichung durch Vernunft und moralische Autonomie bilden die Grundlage. Auf das Wirtschaftsleben angewandt bedeutete dies die Ablehnung von Feudalismus und absolutistischer Herrschaft zugunsten eines freien Marktes.
Im 20. Jahrhundert entstand dann mit dem Neoliberalismus eine spezifische Variante des Liberalismus. Der Neoliberalismus betont theoretisch die Werte der Freiheit und des Marktes und hat dabei vor allem einen starken Fokus auf Deregulierung, Privatisierung und die Zurückdrängung staatlicher Interventionen. Er entstand als Reaktion auf den wachsenden Einfluss des Wohlfahrtsstaates und keynesianischer Wirtschaftspolitiken, die nach dem Zweiten Weltkrieg den Westen dominierten. Der Neoliberalismus verschiebt den Fokus von der moralischen und politischen Freiheit des Einzelnen hin zu einer Überbetonung des Marktes. Alles wird in einer Logik des Marktes gedacht. Während der klassische Liberalismus die Möglichkeit sozialer Gleichheit und den Wert kollektiver Institutionen in Betracht zog, sieht der Neoliberalismus diese oft als Hindernisse für die individuelle Selbstverwirklichung durch Wettbewerb.16
Die Neoliberalisierung der Gesellschaft und der damit einhergehende Fokus auf das Individuum haben auch in Deutschland und Österreich zu einer tiefgreifenden Transformation geführt. In Deutschland und Österreich führte dieser Paradigmenwechsel, wie auch in vielen anderen Ländern, zu tiefgreifenden Veränderungen im Sozialstaat, der Organisation von Arbeit und dem Verhältnis des Einzelnen zur Gesellschaft. Während neoliberale Reformen zu wirtschaftlicher Flexibilität und Wachstum geführt haben mögen, hat die Betonung individueller Verantwortung zugleich soziale Ungleichheit und Unsicherheit verstärkt. Freiheit heißt eben nicht nur Erfolg. Freiheit heißt auch Scheitern. Und während sich die 1990er für viele als eine Zeit des Aufschwungs und Aufbruchs erwiesen hatten, so war das doch bei weitem nicht für alle Menschen der Fall. Gerade am Beispiel der ehemaligen DDR, aber auch am Beispiel vieler anderer mittel- und osteuropäischer Länder, lässt sich das sehr eindrücklich beobachten. Von einem Tag auf den anderen war man zwar "frei", aber was auch immer das heißen sollte, das war nicht so ganz klar. Vieles musste von Grund auf neu eingeübt oder probiert werden, denn so gut wie alle Regeln des Alltags waren schlagartig neu zu lernen. Vormals war so gut wie alles vom dominanten politischen System geregelt, jetzt umgekehrt das meiste vom Wirtschaftssystem, das im Sozialismus der Politik völlig unterworfen war. Die neuen bürgerlichen und ökonomischen Freiheiten brachten nicht nur ein neues politisches System mit sich, sondern auch eine Abwertung von vielem davor gewesenen. Plötzlich zählte vieles von dem, woran man sein Leben ausgerichtet hatte, nichts mehr. Der Politikwissenschaftler Dieter Segert analysiert das sehr eingehend.17 Er beschreibt einen tiefgreifenden gesellschaftlichen Umbruch, der bei vielen Menschen eine Krise der Identität und des Selbstverständnisses auslöste. Mit dem Ende der DDR verloren die Bürger:innen eben nicht nur ihren Staat, sondern auch ein System, das für soziale Sicherheit und Stabilität stand. Besonders ältere Generationen empfanden die Auflösung der DDR und die Abwertung ihrer Lebensleistung als tiefgreifenden Bruch, den viele bis heute nicht überwunden haben. Segert kritisiert, dass die marktwirtschaftliche Umstrukturierung zu massiven sozialen Verwerfungen führte. Hohe Arbeitslosigkeit, die Schließung zahlreicher Betriebe und eine umfassende Privatisierung schufen ein Gefühl der Marginalisierung bei vielen Ostdeutschen. Dies verstärkte die Wahrnehmung, Bürger:innen zweiter Klasse zu sein, und führte zu anhaltenden Spannungen zwischen Ost- und West. Und wo echte oder gefühlte Zurücksetzung stattfand, hat sich oft sehr viel Frust und Hass aufgestaut, der sich heute eben ganz rechts entlädt. Diese Erfahrungen wirken bis heute nach und äußern sich unter anderem im Wahlverhalten und in politischen Einstellungen, was eine Erklärung für die Stärke der AfD dort sein könnte. Das wirft die Frage auf, ob die neoliberale Politik tatsächlich alternativlos war. Aus heutiger Sicht würde man wohl eher nein sagen, aber diese Debatten wurden damals nicht geführt. Die Geschichte war ja am Ende. Der Westen, der Kapitalismus, die Freiheit hatten gesiegt. Aber eben nicht nur in Ostdeutschland, sondern in sehr vielen anderen Ländern auch.
FROMM, BRAV UND PRODUKTIV
Die Demokratisierung der europäischen Staaten vollzog sich seit dem 19. Jahrhundert parallel zur Ausbildung der Nationalstaaten. In diesem Prozess übernahmen die sich ausbildenden konservativen Parteien die ursprünglich liberale Idee des Nationalstaats und verbanden sie mit den klassischen feudalen Konzepten der staatlichen Fürsorgepflicht und leiteten daraus Recht und Pflicht staatlicher Eingriffe ins Wirtschaftssystem ab. Als Resultat ergab sich eine Programmatik konservativer Parteien, die vor allem auf Werten wie nationaler Identität, sozialer Stabilität und einer kontrollierten wirtschaftlichen Ordnung beruhte, die oft mit staatlichen Eingriffen zur Unterstützung traditioneller Industrien und nationaler Interessen einherging. Doch unter dem Einfluss des Neoliberalismus wandten sich konservative Parteien zunehmend marktorientierten und deregulierenden wirtschaftspolitischen Konzepten zu, was zu einer wesentlichen Neuorientierung und Anpassung ihrer Politik führte.
Melinda Cooper untersucht in ihrem Buch Family Values, wie sich neoliberale und sozialkonservative Ideen seit den 1970er-Jahren in den USA mehr und mehr angenähert haben und was das für konkrete Konsequenzen für die amerikanische Gesellschaft hatte.18 Cooper argumentiert, dass diese beiden ursprünglich gegensätzlichen Ideologien eine Allianz bildeten, die zur Transformation des Sozialstaates und der sozialen Sicherungssysteme führte. Dabei gilt ihre Aufmerksamkeit besonders der Rolle der Familie als soziale Institution, die zunehmend in die Verantwortung für wirtschaftliche Sicherheit und soziale Fürsorge gedrängt wurde. Im Zentrum von Coopers Analyse stehen die Reformen, die Familien in den USA seit der Regierung Reagan betroffen haben. Der Rückbau staatlicher Unterstützungssysteme (z. B. Sozialhilfe) und die Entstehung eines Arbeitsmarktes, der auf prekäre Beschäftigungsverhältnisse setzt, führten zu einer Verschiebung der sozialen Verantwortung weg vom Staat hin zur Familie. Familie, so wie sich Konservative das vorstellen: mit Vater, Mutter und möglichst vielen Kindern. Konservative Werte von Sexualität, Ehe und Moral ergänzen dabei die neoliberalen Ideale der Selbstverantwortung und Eigenständigkeit: Fromm, brav und produktiv. So stellen sich eben nicht nur Konservative, sondern auch Neoliberale die ideale Familie vor. Cooper zeigt, dass diese Allianz zwischen Neoliberalismus und Sozialkonservatismus auch eine Reaktion auf soziale Bewegungen der 1960er- und 1970er-Jahre war, etwa auf die feministische Bewegung, die sexuelle Revolution und die Bürgerrechtsbewegung. In Deutschland und Österreich war die Situation zunächst eine andere, aber viele Tendenzen dieser Entwicklungen schwappten auch zu uns über und waren gerade wegen der Verquickung der ursprünglich konservativen Idee der staatlichen Fürsorge mit dem bürgerlich-liberalen Interesse der Produktionssteigerung auch hier anschlussfähig. Und das hat auch ganz konkrete Auswirkungen darauf, wie Politik gemacht wird und vor allem darauf, wer Politik machen kann. Und wie diese Politik...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.