Schweitzer Fachinformationen
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Auf dem Bahnsteig umfing sie eine warme, feuchte Dunkelheit. Sie sog die Luft tief ein. Dieser Duft, den sie nicht beschreiben konnte und doch so gut kannte, war für sie der Süden. Die anderen Reisenden drängten an ihr vorbei. Paare liefen aufeinander zu. Großfamilien hoben Berge von Gepäck und Kinderwagen aus dem Zug, Großmütter nahmen ihre Enkel in den Arm. Nur Maria war nirgends zu sehen. Lilli wurde von einer Seite auf die andere geschubst, bis sie sich ebenfalls zum Ausgang schob. Auf dem Bahnhofsvorplatz blieb sie in einem Chaos von Taxis und Bussen und hupenden Autos stehen und versuchte, Maria anzurufen, vertippte sich vor Aufregung, probierte es noch mal, aber ihr Akku war endgültig leer. Maria konnte noch nicht da sein, sie hatte ja eben erst angerufen, sie stand sicher noch im Stau. Dennoch stieg mit einem Mal Panik in Lilli auf.
Ein kurioser dreirädriger Lieferwagen hupte schon eine ganze Weile. Lilli bemerkte ihn erst, als er ihr beinahe auf die Füße fuhr. Sie wich zurück, fluchte, bis sie den dunklen Haarschopf erkannte und ihre Cousine, die von innen die Beifahrertür aufstieß. »Steig ein, ich kann hier nicht halten!«
Lilli sprang auf den Beifahrersitz. Ihr Kleid war zu eng für den großen Schritt, sie stolperte, fing sich gerade noch, als sie sich neben Maria setzte, vielmehr quetschte. Das Fahrzeug war eine Art Motorrad mit Ladefläche und Verdeck, und es war definitiv nicht für zwei gedacht.
Maria warf Lilli einen schnellen, fragenden Blick zu. »Und dein Gepäck?«
Lilli tippte auf ihre Handtasche, einen Beutel aus zerknautschtem Leder.
»Guarda! Die Signora trägt Botega Veneta.« Maria hatte es mit einem Blick erkannt.
»Die hat mir Mama zum Bachelor geschenkt«, verteidigte Lilli sich.
»Gratuliere. Dann hast du es also geschafft. Wie war denn die Party?«
»Beschissen«, entfuhr es Lilli.
Maria lachte. Lilli hätte Maria am liebsten umarmt für dieses Lachen, für die Vertrautheit, die darin lag.
»Ich vertrage einfach keine Feiern, weißt du, Diplome, Hochzeiten, Beerdigungen.«
Es war wie immer nach demselben Muster abgelaufen: Lilli hatte von allen Absolventinnen das teuerste Kleid getragen, natürlich aus Mamas Boutique. Der einzige Schönheitsfehler an der Feier war, dass Lillis Vater nicht gekommen war. Aber damit hatte auch niemand ernsthaft gerechnet. Schließlich hatte er sich in ihren vergangenen 22 Lebensjahren auch nie blicken lassen. Lilli war umringt von ihren Freundinnen. Ihre Mutter platzte vor Stolz. Nur Lilli fühlte sich nicht wohl. Nichts an ihr stimmte. Nicht ihr Kleid, nicht ihr gequältes Lächeln, nicht der stolze Blick ihrer Mutter, der auf ihr ruhte, als sei Lilli ein besonders teures Produkt aus ihrer Boutique. Sie fühlte sich wie eine Statistin, wie in einem fremden Leben. Und deshalb hatte Lilli ein Glas Wein nach dem anderen hinuntergestürzt.
Hinter ihnen hupte es schon eine ganze Weile. Eine Schlange hatte sich gebildet und blockierte den Taxistand. Maria gab Gas. Das erzeugte zwar keine große Beschleunigung, dafür aber Lärm. Auf der Ringstraße herrschte dichter Verkehr. Die italienischen Autos erhöhten flexibel die Anzahl der Spuren. Maria aber schlängelte sich in die Lücken, die eine Hand auf der Hupe, die andere am Lenkrad, mit derselben Bestimmtheit, die sie schon als Kind in jede ihrer Bewegungen gelegt hatte. Eine Stechpalme, die auf der Ladefläche festgebunden war, schwankte in jeder Kurve gefährlich mit. Nur einmal hielt Maria kurz an.
»Ich muss noch schnell bei einem Kunden vorbei.«
»Kann ich dir helfen?«, fragte Lilli, aber Maria war schon ausgestiegen, hob die Palme von der Ladefläche und verschwand in einer der erleuchteten Boutiquen an der Hauptstraße.
Lilli sah sich neugierig um. Sie hatte diese Stadt schon immer gemocht, die roten und ockergelben Fassaden, die die Wärme des Tages abstrahlten, die erleuchteten Arkadengänge, das Gedränge der Flaneure, Mopeds, Autos, die Lichter, den Lärm, das Leben, das zwischen den Mauern widerhallte. Ab und zu streiften sie neugierige Blicke der Passanten. Kein Wunder, sie musste in ihrem Businesskostüm in diesem klapprigen Fahrzeug ziemlich merkwürdig aussehen.
»Wie eine Nachrichtensprecherin, die gerade in einem Blumenwagen entführt wird«, lachte Maria, als hätte sie ihre Gedanken erraten. Sie setzte sich mit Schwung wieder neben sie.
»Für das Berlusconi-Fernsehen arbeite ich aber nicht.«
»Ich hatte auch eher an den Werbekanal gedacht, die Blondine, die immer den Massagegürtel vorführt.«
»Na, hör mal!«, protestierte Lilli und musste zugleich lachen. Sie erinnerte sich an die Abende, in denen sie früher im Wohnzimmer von Marias Eltern kichernd auf dem Sofa gelegen und sich durch die Kanäle gezappt hatten.
»Findest du eigentlich, Nachrichtensprecherin würde zu mir passen?«, fragte sie nach einer kurzen Pause nachdenklich. Vielleicht wäre Fernsehen ja tatsächlich eine Alternative? Musste man dafür Journalismus studieren? Oder auf eine Schauspielschule gehen?
Maria warf ihrer Cousine einen irritierten Blick zu. Statt einer Antwort drehte sie den Zündschlüssel um. Der Motor übertönte jeden weiteren Kommentar.
Am Ende der Straße tauchten zwei schiefe mittelalterliche Backsteintürme auf, hinter denen ein Dickicht schmaler Straßen begann. Bald darauf bremste Maria scharf und fuhr rückwärts in eine Gasse hinein. Ohne auch nur einmal innezuhalten, parkte sie ihr Auto zwischen einer Altglastonne und einem Einbahnstraßenschild.
Neugierig sah Lilli sich um. Sie war erst einmal hier gewesen, letzten Sommer mit Tom, kurz nachdem Maria eingezogen war. Sie waren nur kurz geblieben. Tom hatte sich nicht wohl gefühlt, vielleicht weil er kein Italienisch sprach, vielleicht weil er mit ihren Freunden sowieso nie klargekommen war. Ihre Cousine machte da keine Ausnahme. Er wollte lieber mit Lilli alleine sein.
Maria hatte schon die Straße überquert. Die Arkaden waren in diesem Viertel niedriger als im Zentrum. Von den gelb gestrichenen Mauern bröckelte der Putz. Maria schloss mit einem altmodischen, geschmiedeten Schlüssel eine Eichentür auf. Lilli erinnerte sich noch an den finsteren Flur, durch den man in einen Innenhof gelangte. Von dort führte eine steile Stiege zu Marias Wohnung im Hinterhaus. Auf dem Treppenabsatz stand diesmal eine kaputte Waschmaschine.
»Wir haben es noch nicht geschafft, sie wegzubringen«, sagte Maria entschuldigend.
Während Lilli noch über das »Wir« nachdachte, öffnete ein junger Mann die Tür. Er küsste Maria auf den Mund. Damit hatte Lilli nicht gerechnet.
Maria schien ihre Verwirrung zu bemerken.
»Antonio«, stellte sie ihn vor. »Er studiert Jura«, fügte sie noch hinzu. Als würde das irgendwas erklären.
Er war mager und blass und hielt immer noch die Wohnungstür auf. »Benvenuto!«, sagte er mit einem Lächeln, das Lilli auf Anhieb sympathisch war.
Die Wohnung war klein, sie bestand nur aus zwei Zimmern. Das größere war ein Durchgangszimmer auf die Terrasse hinaus. Dort schliefen Maria und Antonio. Am schönsten aber war die Terrasse, die größer als die ganze Wohnung war. Unter den Zweigen eines alten Rosenstocks, dessen knorriger Stamm aus dem Innenhof emporwuchs, war der Tisch schon gedeckt. Der Betonboden war immer noch warm. Gelächter hallte aus den umliegenden Wohnungen, das Klappern von Geschirr. Der Duft der Rosen mischte sich mit dem von Tomaten und Fisch. Antonio verschwand mit einer Entschuldigung in der Küche.
Kaum war er fort, platzte Lilli heraus: »Wie lange seid ihr schon zusammen? Warum hast du mir nichts gesagt?«
»Er ist erst vor zwei Wochen hier eingezogen.«
Auch das noch. Lilli hatte nicht vor, den beiden die Flitterwochen zu verderben.
»Ich kann auch woanders unterkommen. Ich find schon was.«
»Red keinen Quatsch!« Maria wischte sich die dunklen Locken aus der Stirn. Ihre Augen nahmen einen forschenden Ausdruck an. »Was ist passiert?«
»Wieso?« versuchte Lilli Zeit zu schinden.
Maria zog die Augenbrauen hoch. Sie war nicht der Typ, dem man etwas vormachen konnte. Und eigentlich wollte Lilli das auch nicht. Sie wusste bloß nicht, wo sie beginnen sollte.
»Ich habe eine Stelle als Dolmetscherin.« Das war kein guter Einstieg.
Die Antwort kam prompt: »Das ist doch toll, oder?«
Lilli schwieg. Was hätte sie auch sagen sollen? Dass dieser Job nicht das Richtige war? Sie dolmetschte gern. Sie konnte sich dabei vergessen, ganz in den Kopf der anderen hineinschlüpfen, als wüsste sie eher, was die anderen sagen würden, als diese selbst. Sie würde eines Tages Konferenzen in der Politik, Kultur oder sogar in der UNO dolmetschen, davon träumte ihre Mutter, das sagte auch Lilli sich, sagte es sich noch am Morgen, als sie auf dem Bahnsteig stand und es einfach nicht schaffte, in diese verdammte Bahn einzusteigen.
Maria räusperte sich. Kein Wunder. Minutenlang hatte Lilli in Gedanken versunken mit den Fingern einen Tropfen Rotwein auf der Tischplatte vermalt.
»Ich bin nicht hingegangen, ich...
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