Schweitzer Fachinformationen
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1981
Grüner Sandstein. Sieben Kirchen. Rosenstöcke. Gräfte, Wall. Palmsonntag, weiße Kleider, Kommunion. Heißluftballons. Steigen in der Ferne auf, und mit ihnen die Embleme der regionalen Gebräue. Wimpel baumeln zwischen Häuserwänden, flappen hier und da unter den milden Frühlingsböen, und durch die von Rüschen gesäumten Tischreihen der Lokale jagen manisch Kleinkindtruppen, auf und ab.
Willi sitzt vorm Wilden Mann. Kaut Hirschleber, stemmt den schimmernden Krug. Frisch aus dem Zapfhahn vom alten Seeberg. Schützen ziehen vorbei, Flöte, Pauke, Schelle. Ihm noch immer zu viele Debütanten im Bild. Zetern und lärmen, keiner geht gerade. Die Marschmusik davon schon ganz beschädigt. Das gibt einen Rüffel.
Er lehnt sich zurück, lässt den weiten Platz auf sich wirken. Den Platz, auf dem er aufwuchs, auf dem er heute erster Mann ist. Oder zumindest zweiter. Seine kleinen, achtsamen Augen wandern. Wenigstens der Takt stimmt. Wie oft hat er das mit denen geübt, im Gleichschritt. Angebölkt hat er sie, bis es passte. Dabei ist er ein so höflicher Mensch. Nun ziehen sie an ihm vorüber, und er mustert ihre Bewegungen genau, die synchronen Schritte, das Einsetzen der Bleche und den aufrechten Gang. Fällt alles auf einen zurück.
Auf dem Markt stehen die Menschen Spalier. Weiße Hüte, getönte Brillen, die Oberflächen des Fachwerks glühen wie Hochschnee im Mittagslicht. Früher ist Willi noch selbst mitgezogen, aber dann kam der zweite leichte Infarkt, und nun nimmt er sich ein wenig zurück. Pils muss trotzdem sein, und es beruhigt ihn, dass er unter den Zuschauern immer mehr vertraute Gesichter entdeckt. Doch längst kennt er sie nicht mehr alle, und etwas daran stört ihn. Selbst, wenn er den Zug näher betrachtet, sind es immer weniger echte Originale. Meine Güte, denkt er, wo sind sie nur alle hin.
Neben ihm der Vorstand, die alten Schützenbrüder. Heben die Krüge zum Stoß, schwätzen, schunkeln, starren. Er sitzt neben Maurer, der kaum zum Luftholen kommt vor lauter Gewäsch. Das teppichartige Gesicht rot und blau vom Saufen, pulsieren in seinem Hals mächtige Blutgefäße, Schweiß treibt aus ihm hervor und verbrutzelt im Sonnenschein.
Willi setzt abermals an, lässt das kühle Bier in seine Mundhöhle strömen. So muss ein Sonntag sein. Er schließt beim Trinken genussvoll die Augen und öffnet sie auch gleich wieder, schließt und öffnet, sodass er fast tranceartig zu blinzeln anfängt. Diese Momente sind die reine Wonne, dafür schuftet er die ganze Woche. Hart. Ohne Rücksicht auf sich und andere. Was auch sonst. Die Sonne scheint so mächtig, so verheißend. Er spürt ihre Wärme auf seinen Lidern.
Dann setzt er langsam wieder ab. Sein Blick weitet sich, über den Glasrand hinweg sieht er schon in die Ferne. Und muss sich gleich fürchterlich ärgern. Am anderen Ende des Zuges, noch am Rand der für seinen Geschmack elendig neumodisch geratenen Fußgängerzone, erspäht er niemand Geringeres als seine erste Schneiderin, wie sie mit einem riesigen Beutel voller Felle um die Ecke schleicht. Der Beutel ist kurz vorm Platzen, oben quillt alles heraus. Auch Frau Doubek selbst sieht nicht gerade nach Feiertag aus, unter ihrem Mantel lugt der gelbe Arbeitskittel hervor, und er ahnt, dass es sich bei dem, was sie da an diesem heiligen Tag in die Tüte gestopft hat und nun durch die halbe Stadt schlört, um nicht weniger handelt als die ausgesuchtesten Stücke, die die Kleiderschränke der hier anwesenden Bürgerschaft hergeben. Wintermäntel, die Willi schulterklopfend anvertraut wurden; um sie zu hüten, um sie zu retten. Er weiß, wie sehr er sie unter Druck gesetzt hat, alles bald fertig zu bekommen. Aber so? Er betet, dass niemand sie sieht. Und wenn doch, dann vielleicht mit einem wohlwollenden Auge oder sogar mit ein wenig Mitleid, dass sie auch heute ackern muss und nicht den Probezug verfolgen kann. Aber es bleibt eine Schmach. Niemand hier hat sich im Griff. Davon wird er irgendwann noch irre.
Doch dann sieht er etwas, das ihn Frau Doubek schlagartig vergessen lässt. Seine Augen weiten sich jäh vor stillem Entsetzen, er merkt sofort, wie er ganz starr wird vor Angst, jemand von den Schützenbrüdern könne es . könne sie ebenfalls sehen. Könne sie erkennen. Er will es ja selbst nicht glauben, nicht wissen, nicht mitbekommen. Der Vorstand darf es auf keinen Fall bemerken. Aber es ist schon zu spät.
- Ist das da vorne nicht dein Töchterlein?
- Was, wo denn?
Willi stutzt, zaudert, grämt sich. Natürlich ist sie es, und an ihrer Seite, er will es nicht wahrhaben, ein bärtiger Orientale. Dabei hat sie schon ein Kind von einem Ausländer, diesem flüchtigen Rumänen, für den sie Kopf und Kragen riskiert und alle Hebel der Welt in Bewegung gesetzt hat, um ihn aus dem Sozialismus loszueisen, und alles bloß, um sich nach ein paar Jahren wieder von ihm zu trennen. Dabei war er doch zumindest Zahnarzt, also ein Arzt, der auch etwas vom Handwerk versteht.
Ab einem gewissen Zeitpunkt hatte er ihn sogar gemocht, denn der Rumäne war fleißig und wollte hoch hinaus, zudem ist ihm sein erstes Enkelkind ein wahrer Segen. Die kleine Sheva ist so süß und lebensfroh, dass Willi gar nicht umhinkommt, ihr jeden Tag aufs Neue eine hübsche Aufmerksamkeit ins Haus zu tragen, und im Erdgeschoss gibt es für seine Anschaffungen neuerdings einen eigenen Raum, einen Spielraum. Puppenhäuser, Holzpferde, Kaufmannsläden, Kinderküchen. Eigentlich sollte aus dem Zimmer eine moderne Heimwerkstatt werden, um immer spontan zu sein für die ganz besondere Kundschaft. Auch am Abend noch auf spezielle Wünsche reagieren zu können, das war sein großer, unerfüllter Traum. Doch nun hat er ihn endgültig aufgegeben, der kleinen Sheva zuliebe. Endlich ein Kind, das seine Aufmerksamkeiten wertzuschätzen weiß. Nur für ihren Namen, sagt er immer, kann er nichts.
Willis Stolz darauf, dass er sich das alles problemlos leisten kann und die Dinge so eine rasante Entwicklung genommen haben, ist beträchtlich. Willi selbst hat alles von der Pike auf gelernt, das Ändern und Füttern, Stopfen und Zwecken, bis er das Unternehmen von seinen Eltern übernahm, so wie sein Vater und sein Großvater von ihren. In guten und in stürmischen Zeiten hielt er die Stellung, etwa als sein dämlicher Schwager wieder einmal zu viele Empfänge gab und auch ganz allgemein über seine Verhältnisse lebte, Willi daraufhin wiederholt für ein Familienmitglied bürgte und im Handumdrehen der Kuckuck auf sämtlichen Möbeln der Geschäftsräume, schnell auch des Privathaushalts klebte. Weil aber das ganze Land ohnehin nichts als ackerte, ackerte auch Willi, und manchmal ahnt er, dass er ohne den Schuldenberg nicht der geworden wäre, der er ist.
Den Krieg im Kessel vor Smolensk überstand er seltsam unbeschadet als Fahrer eines feigen Majors, während zwei seiner drei Brüder für immer in Russland blieben. Danach baute er das Geschäft aus Schrott und Trümmern wieder auf, erweiterte allmählich das Angebot, stellte erst Kürschnerinnen, später Verkaufskräfte ein und ließ sich tagelang nicht mehr zu Hause blicken. Willi weiß, was schwere Arbeit ist.
Noch immer hatte es den Anschein, als wisse sie das auch. Eine interessierte Tochter hat er, das will er gar nicht abstreiten, zugleich treibt sie sich noch immer auffallend häufig mit Studenten herum, und das nächtelang. Dass sie ihm nicht noch eine Intellektuelle wird? Eigentlich wäre es an der Zeit, ihr den ganzen Spaß zu übergeben, doch ohne Bindung an die richtigen Leute wird das nichts. Nie lässt sie sich bei den Schützen blicken. Es ist eine Schmach.
Allmählich beginnt Willi zu glauben, es wachse ihm über die Ohren. Ist also doch etwas dran am Gerede, an den Gerüchten, die er bislang so sicher zu parieren wusste; dass bei ihr die Muselmanen Schlange stehen; dass sie schon wieder einen Neuen habe, schon wieder so einen Hallodri? War der das etwa eben? Der Herr stehe ihm bei. Und Maurer? Auch Maurer hat es gesehen. Verdammt. Und natürlich fragt er gleich nach. Wer war denn der Knilch? Hiesig sah der ja nicht gerade aus, haha. Maurer meint es nicht so, denkt Willi. Trotzdem ist er ein verdammter Trottel. Und er hat es gesehen.
Spät am Abend torkelt Willi über die Allee nach Hause. Obwohl es noch lange hin ist bis zum Schützenfest, konnten es einige der Idioten wieder nicht lassen, hinten im Park eine ganze Ladung Schüsse abzugeben. Danach zog ein Gewitter auf, woraufhin sich alles unter das Festzelt presste. Für einen Moment hätte man meinen können, der Wind würde es wegreißen, doch er pfiff bloß gespenstisch und zerrte am schwarzen Stoff, während drinnen die Gläser klirrten. Auch jetzt nieselt es noch immer leicht, die Bergamotten im Vorgarten von Frau Stein haben ihre Blüten verloren, und Willi scheitert bei seinen albernen Versuchen, über Pfützen zu springen.
Mit nassen Socken schleppt er sich die Einfahrt und die Treppe hinauf, wühlt in seiner Innentasche nach dem Schlüssel. Er bekommt ihn zwischen lauter Kleingeld zu fassen und fischt ihn umständlich heraus, kann sich kaum gerade halten, beugt sich hinunter und findet im Halbdunkel den Schlitz nicht. Beinahe kippt er, stellt die Beine breit, hantiert mit den Armen, hält sich eben so. Durch das fahle Halblicht sieht er auf seine zitternde Hand, dann gibt er auf.
Er stützt sich an der Hauswand ab und richtet sich auf, wankt hinunter zur Garage, wuchtet nach kurzem Innehalten mit Schwung das schwere Tor nach oben und produziert dadurch gerade so viel Lärm, dass beim Nachbarn kurz darauf das Erkerlicht angeht. Willi schlurft hinein, ertastet die klamme, bröcklige Wand und schiebt sich vorsichtig am Taunus vorbei, der schimmernd in der Dunkelheit steht. Doch als er die Klinke der Zwischentür zum Waschkeller...
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