Schweitzer Fachinformationen
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Am Tag des Mauerfalls war ich zehn Jahre alt, und über die Bildschirme der ganzen Welt zogen Bilder von Umarmungen, Freudentränen, ausgebreiteten Armen zum Zeichen des Triumphs, Trauben von laut jubelnden Männern und Frauen, im Hintergrund Steinhaufen, Geröllhaufen, Staubwolken, während wir, die Franzosen, dieses historische Ereignis hinter dem strengen Gesicht des Sprechers der 20-Uhr-Nachrichten eingeblendet erlebten, die der Anlass dafür waren, dass wir uns stillschweigend zum Abendessen an den Tisch gesetzt hatten - für alle, die zu Abend aßen, das heißt alle, die einem Familienritual folgten und für die die Nachrichten das Tischgebet ersetzten oder eine Art republikanisches Gebet darstellten, ein jahrhundertealter Ritus, gemäß dem unauslöschlichen Laizismus unseres Vaterlandes -, und ich war sprachlos, die Augen auf den Fernseher geheftet, entsetzt angesichts dieses Chaos, dessen geopolitische Tragweite mir trotz der pädagogischen Bemühungen des Sprechers total entging - von seiner Stimme konnte man auf die Bedeutsamkeit der Neuigkeiten schließen: je tiefer, desto ernster die Lage, und ganz hoch, wenn er sonntagsabends den Zuschauern, die die ganze Woche lang gewartet hatten, die Wiederholung einer Komödie oder eines Abenteuerfilms ankündigte - nein, worum es hier eigentlich ging, wurde mir überhaupt nicht bewusst, dennoch war ich ergriffen, in den Bann gezogen von diesen Berichten, und verschwommen wie durch eine Glasscheibe, durch Transparenzpapier, glaubte ich Mamans Spuren wahrzunehmen, ihr verherrlichtes Bild inmitten der Ruinen, ihr unter den Trümmern verborgener Körper, ihr Gesicht unter dem Schutt, vielleicht ihre Asche. Bisher hatte ich für Maman blendend schwärmerische Bewunderung empfunden, und der Abglanz ihrer Gegenwart war noch frisch, noch nicht von meinen Kleinmädchentränen getrübt. Sie war auf einmal verschwunden, versunken in einer so schrecklichen Depression, dass sie für einige Monate zwangseingewiesen werden musste. Nachdem ich mir selbst wegen der Gründe ihres plötzlichen Verschwindens lange etwas vorgemacht hatte, sagte man mir, Maman sei manisch-depressiv. Der Satz hatte sich mir eingebrannt - deine Mutter ist manisch-depressiv -, ein Satz, den irgendein Erwachsener ausgesprochen hatte, so ein Erwachsenensatz, der zu nichts anderem gut war, als mich durcheinanderzubringen oder mich zu verfolgen. Sein Echo wurde das Leitmotiv meiner Qual, meine Zunge wickelte seine Vokabeln ein und wieder aus und löste damit das bisschen Sinn, das ich darin erkannte, auf. Zuerst sagte manisch-depressiv mir gar nichts. Oder doch, das bedeutete, dass Maman explodieren, die Wände hochgehen konnte, und ich stellte mir vor, sie raste an den Außenwänden von Burgtürmen, an Bergfrieden hoch, ich sah Maman in einem Höllentempo bis zu deren Spitze klettern und mit einem Satz in den hintersten Winkel der Kerker oder der Katakomben hechten, endlich dorthin, wo es kalt und klamm war, dorthin, wo es nach Tod stank. Maman war also von heute auf morgen verschwunden. Meine Erinnerungen an das, was vorher passiert war, waren wahrscheinlich zu verworren, um daraus einen zusammenhängenden Bericht zu weben, aber die Erklärungsversuche, die sich anboten, waren genauso unglaubwürdig wie unannehmbar. Letzten Endes erinnerte sich niemand besser an meine Kindheit als ich, mit Ausnahme meiner Schwester, die andere Episoden unserer Geschichte im Gedächtnis behalten hatte, und mir manchmal Stichworte zuflüstern konnte, um meine Erinnerungslücken zu schließen. Aber ein Baustein fehlte uns: der Moment ihres Zusammenbruchs. Diesen Zwischenfall, sollte es ihn überhaupt gegeben haben, hatten wir beide vergessen, doch diese Leerstelle war mit dem vagen Gefühl verbunden, dass wir fast dabei draufgegangen wären. Ja, die Angst war immer noch da. Wir stützten unsere Hypothese dazu auf eine Anekdote, die bestimmt nicht der Auslöser war, doch da wir einen solchen nicht mit Sicherheit bestimmen konnten, nahmen wir eben diese: den Autounfall auf dem Weg zur Schule oder auf dem Heimweg von der Schule, meine Schwester vorn, auf dem Todessitz, ich hinten, nie ohne Gurt, und Maman, die an der roten Ampel der Avenue George V auf einmal Gas gab und mit quietschenden Reifen aus der Querstraße auf die Avenue des Champs-Élysées schoss. Unmöglich, sich zu erinnern, wie viele Autos uns gerammt haben, aber jedenfalls genug, um unseren kleinen Opel zu schrotten.
Wir waren ihre sportliche Fahrweise gewöhnt. Immer und überall zu spät, fuhr sie manchmal über den Bürgersteig, wenn es nicht voranging - eine bewährte Methode, Staus zu umgehen. Mit der Zigarette in der linken Hand beschimpfte sie die Gaffer. Aus dem Weg! Wir haben es eilig! Nur auf dem Autobahn-Standstreifen traute sie sich nicht zu fahren, besonders, wenn Polizei da war - Achtung, Bullen! -, und für den Fall, dass wir auf dem Bürgersteig, gegen die Einbahnstraße bretternd, angehalten wurden, nachdem wir mehrere Ampeln und einige Stoppschilder überfahren und dazu zahllose Autofahrer, Fahrradfahrer oder andere Idioten auf unserem Weg lauthals angepöbelt hatten, hatten meine Schwester und ich die Anweisung, Sterbenskranke zu mimen. Sie erklärte dann, ihre beiden Töchter oder eine von uns - in diesem Fall musste die andere ein betroffenes Gesicht machen - seien schwerkrank und sie bringe uns ins Krankenhaus, es ginge um Leben und Tod. Das klappte manchmal, aber es schien, dass die Charmenummer, die darauf folgte, als Strategie bei weitem genauso erfolgreich war. Maman war eine der schönsten Frauen der Welt. Das sagten alle, die sie zu ihren Glanzzeiten erlebt hatten, und ihre Schönheit war für sie selbst mindestens genauso fatal wie für die Männer und Frauen, die ihr verfielen. Wir wunderten uns nicht, wenn Maman fuhr wie ein Rowdy und die Straßenverkehrsordnung für reine Theorie hielt, die in die Praxis umzusetzen grotesk wäre, aber bevor sie jemanden beim Überholen schnitt und einen Lastwagen auf sich zurasen sah, wurde sie normalerweise etwas kleinlaut: O là là, der ist aber ziemlich groß! Deshalb waren wir etwas verblüfft, als wir sahen, wie sie, entschlossen, sich eine Ladung Stoßstangenrempler abzuholen, die Avenue des Champs-Élysées hinunterschleuderte. Wie durch ein Wunder haben wir es alle drei heil überstanden.
Nachdem Maman eingewiesen worden war, landeten wir zuerst bei Freunden. Unsere Eltern lebten seit vielen Jahren getrennt - wegen einer dubiosen Sexgeschichte, wie Maman sagte - und sie hatte inzwischen wieder geheiratet. Später sollte sie erklären, dass dieser verstörende letzte Einschnitt ihren Ausraster ausgelöst hatte. Weil unser Vater bei dem Gedanken, sich um seine Töchter kümmern zu müssen, nicht gerade vor Freude an die Decke gesprungen war, mussten erst sämtliche Alternativen ausprobiert werden, bevor sie zu dem unvermeidlichen Schluss kamen, dass sie diese Kinder nicht ewig zu irgendwem abschieben konnten. Wir fanden es gar nicht schlecht, bei unseren Klassenkameraden zu wohnen - wenigstens ein Aspekt unseres Schicksals, der nicht so schlecht war, ansonsten waren wir völlig verzweifelt. Unsere Freunde waren seit jeher unsere Ersatzfamilien gewesen, unsere Familienkits zum Selbstzusammenbauen, und würden es für immer sein. Meine Schwester und ich mit unseren zwölf und zehn Jahren würden allein zurechtkommen müssen, ohne Maman, und unsere Patchworkfamilien stellten sich als sicherer Halt heraus.
Seht zu, wie ihr zurechtkommt!, das war der ewige Refrain ihrer Litaneien, sie sagte, wir sollten uns verpissen und nicht dauernd angeschissen kommen, wir sollten mal damit aufhören, auf die ganze Welt zu scheißen, wir sollten endlich kapieren, dass sie sich einen Scheiß für die Fragen und Sorgen verhätschelter fauler Gören interessierte. Seht zu, wie ihr zurechtkommt, ihr kotzt mich an mit euren bescheuerten Problemen! Das war aber nicht das Ende von Mamans Beschimpfungen, in der Regel fingen sie so erst an. Wir mussten ihre albtraumhaften Tiraden so oft über uns ergehen lassen, dass meine Schwester und ich es vermieden, uns anzusehen, wenn sie sich ankündigten. Stattdessen fixierten wir unsere Füße. Unsere Parole war, sie reden zu lassen, bloß nicht hochschauen. Sie auch nicht auslachen, selbst wenn ihre Predigten so verrückt waren, dass sie beinahe lustig wurden, sich zur Not kneifen, um nicht zu lachen. Ein schuldbewusstes Gesicht machen, voller Reue, selbst wenn sie uns neben den wahnwitzigsten Dingen ihren großen Satz präsentierte: Seid ihr euch darüber im Klaren, dass ich euch jahrelang den Hintern abgewischt habe! Dieser Satz, ein Klassiker aus Mamans Repertoire, ragte auf wie der unwiderlegbare Beweis, dass diese Frau eine Spinnerin war, total kaputt, die Alte! Wie sollte man so eine Aussage ernst nehmen? Wir haben sie um nichts gebeten, schon gar nicht darum, bei solchen Irren geboren zu werden! Der Satz erinnerte uns aber zum Glück auch daran, dass wir nicht für alles verantwortlich waren. Ihre Monologe, im Ton formgerechte Donnerwetter, begannen etwa so: Arme kleine Kröte, wenn du wüsstest, was ich alles für dich getan habe! Wie kann man so undankbar sein! Du kannst dir nicht einmal einen Bruchteil der Opfer vorstellen, die ich für deine Schwester und dich gebracht habe. Wie kommt ihr dazu, mich zu verurteilen, weil ich schwache Momente habe? Wer kann schon von sich behaupten, perfekt zu sein? Wer? Wofür haltet ihr euch, ihr armseligen, dummen kleinen Rotznasen? Seid ihr euch darüber im Klaren, dass ich euch jahrelang den Hintern abgewischt habe? Natürlich nicht. Meine Güte, ihr kotzt mich so an mit...
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