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Professor Hestermann saß in seinem lila Pyjama auf der Bettkante und rieb sich den Schlaf aus den Augen.
Durch das offene Fenster hörte er die Züge unten in der Victoria Station rumpeln. Und oben, über den Dächern Londons, sah er zwischen zwei Kaminen den Bogen der aufgehenden Sonne. Die Sonne hatte die Farbe einer Apfelsine und blendete stark, Hestermann drehte sich dem Raum zu, wo das Licht in sanftem Perlenrosa von den Wänden zurückgeworfen wurde. Er griff nach seiner Hose, die eine Armlänge entfernt über eine Frisierkommode aus dem Holz des Narrabaums geworfen lag, schob seine Finger in die rechte Gesäßtasche und zog einen Kamm aus vanillebraunem Horn hervor. Einige Zinken am Kamm fehlten, aber nicht so viele, dass der Professor den Kamm für nutzlos empfunden hätte, und diesen Kamm zog er sich nun durch das weiße Haar, scheitelte erst von links nach rechts, dann von rechts nach links und schließlich wieder zurück.
Es war Freitag, der 25. Februar 1938, und einen Tag zuvor hatte er am University College of London einen Vortrag über allgemeine Satzlehre in der sumerischen Keilschrift gehalten, mit einem Schwerpunkt auf der Verwendung des Verbs im dritten Jahrtausend vor Christus. Ihm war gewesen, als hätte er seine Theorie zum hundertsten, nein, tausendsten Mal erklärt und als wären die Sätze in seinem Mund ganz und gar leblos gewesen. Entsprechend zaghaft war der Applaus gekommen, und Hestermann hatte darüber nur abwesend genickt.
Unter den Zuhörern war ein Kollege gewesen, der kürzlich ein bahnbrechendes Wörterbuch über britischen Slang veröffentlicht hatte und gegenwärtig an einer Etymologie der Sprache von Dieben, Mördern und Prostituierten arbeitete. Für den heutigen Tag hatten sie sich zu einem Besuch im botanischen Garten verabredet, um gemeinsam eine wichtige Sache zu besprechen, über die Hestermann bereits in einem Brief geschrieben hatte. Danach würde Hestermann zurück nach Deutschland fahren, mit dem Drei-Uhr-Zug, über Dover, Calais, Brüssel, Lüttich, Aachen, Köln, bis Münster.
Der Völker- und Sprachkundler Ferdinand Hestermann, Angestellter der Universität Münster, war an diesem sonnigen Februarmorgen sechzig Jahre alt, und er schaute voller Sorge in die Zukunft. Ihm war, als kreiste ihn etwas Bedrohliches ein. Aber wenn es ihm doch gelang, einen optimistischen Blick auf die kommenden Jahre zu werfen, so sah er sich in seinem Büro sitzen, wo die Bücherstapel zur Decke reichten, er würde sich über bedruckte Seiten beugen, bis zu jenem Tag, da ihm der Bleistift aus den Fingern glitt und das Licht in ihm erlosch.
Hestermann war ein groß gewachsener Mann, sehr schlank, mit Handgelenken wie ein Mädchen, und hätte man jetzt unter diesem lila Pyjama seine Ellbogen gesehen, so wäre man erstaunt gewesen, dass die Ellbogen nicht viel dicker waren als die Handgelenke. Seine Finger waren lang und dünn, und der Zeigefinger seiner rechten Hand hatte stets einen Gelbstich; der Geruch, den der Professor ausströmte, hatte seine Studenten dazu veranlasst, ein Gerücht in die Welt zu setzen, wonach Hestermann in der Asche seiner Zigaretten schlafe, und dies wiederum hatte ihm den Übernamen Aschenputtel eingebracht, aber keiner der Studenten hatte sich jemals getraut, dies dem Professor gegenüber laut auszusprechen, und es ist fraglich, ob Hestermann je von seinem Spitznamen erfahren hat.
Bemerkenswert, oder geradezu irritierend, waren seine Augen, genauer gesagt, sein Blick, in dem man eine seltsame Art von Wut vermutete, oder allenfalls das Nachhallen eines längst vergangenen Schreckens. Dieser Eindruck wurde verstärkt durch senkrechte Furchen, die zwischen seinen Augenbrauen begannen und bis zum Haaransatz reichten. Die Furchen hätten auch das Ergebnis von jahrelangem angestrengtem Nachdenken sein können, aber beim genauen Hinschauen zeigten sie sich als das, was sie wirklich waren: Narben.
Während er sich den Kamm von der Schläfe in Richtung rechtes Ohr zog, ließ er den Kopf im Nacken kreisen, dann griff er nach einer Schachtel Zigaretten, und im nächsten Moment erinnerte er sich daran, dass er sich zu seinem sechzigsten Geburtstag vorgenommen hatte, am Morgen als Erstes zu frühstücken.
Mit einem Seufzer bückte er sich und tastete in seiner Reisetasche nach einer Packung aus braunem Wachspapier, auf das mit roter Farbe ein fröhliches Kindergesicht gedruckt war, und aus dieser Packung zog er eine Scheibe Zwieback.
Professor Hestermann hatte stets alles dabei, was er zum Leben brauchte, egal ob er nun eine Vorlesung in Münster hielt oder einen Vortrag in London. Seine Tasche war aus Rindsleder gefertigt, sie hatte die Größe eines Aktenordners und war etwas abgewetzt; eingeklemmt neben der Packung Zwieback lagen zuunterst ein Hemd, eine Unterhose und ein Paar schwarzer Socken, dazwischen ein Tütchen besonders schonenden Seifenpulvers - eine eigens hergestellte Mischung aus Natriumcarbonat und geraspelter Kernseife; in einem rotgegerbten Schreibetui bewahrte er Zahnbürste, Zahnpasta, zwei Bleistifte und einen Anspitzer aus silbernem Metall auf; ein schmales Fach auf der Innenseite der Tasche enthielt ein Tagebuch und den Reisepass. Nun, in London, hatte er noch einen Stapel Papiere dabei, mit allerlei Stempeln, Siegeln, Hakenkreuzen.
Er knabberte am Zwieback und zog sich den Kamm über den Hinterkopf, dabei stieß er ein wohliges Stöhnen aus.
Er schob sich den Rest des Zwiebacks in den breiten Mund und tat schließlich, was er in den vergangenen sechsundzwanzig Jahren jeden Morgen getan hatte: Er widmete sich dem Buch mit dem blau-rot marmorierten Einband.
Das Buch war ein handschriftliches Exemplar. Es war ein Wörterbuch der Sprache eines Eingeborenenvolkes namens Yamana, die am südlichsten Zipfel Südamerikas gelebt hatten, in Patagonien, in Tierra del Fuego, dem Land des Feuers. Diese Informationen standen in englischer Sprache auf der Innenseite des Buchdeckels, auch die Übersetzungen der Yamana-Wörter waren auf Englisch verfasst.
Durch die Seiten schimmerten blassrosa die vertikalen Striche eines Kassenbuches. Der erste Eintrag lautete ammbj'a, oder a'mimbj'a oder anambja; das Wort war schwer entzifferbar, da es etliche Male durchgestrichen und neu geschrieben worden war. Der Verfasser hatte mit blauer Tinte Gewürz, Unkraut dahinter geschrieben und mit stärkerer schwarzer Tinte Gemüse ähnlich wie Chicorée. Der zweite Eintrag musste jüngeren Datums sein, hatte Hestermann nach langen Stunden der Analyse entschieden, denn die Tinte sah frischer aus. Was ihn allerdings befremdete, waren die beiden Definitionen des Wortes: Zwischen Unkraut und Chicorée schien ihm ein erheblicher Unterschied zu liegen. Diese Kontraste zogen sich durch das ganze Buch, mal waren sie stärker, mal schwächer. Unter mulahana stand als Erklärung Den Mund verschließen, und später war angefügt worden: Mit dem Kopf unter Wasser schwimmen.
Viele Nächte hatte Hestermann wach gelegen und in seinem Geist diese fremde Welt auferstehen lassen, diese Welt, in der die Menschen einander aus purer Eifersucht mit bloßen Händen das Genick brachen und dafür einen Begriff hatten. Er hatte die Namen ihrer Pfeilspitzen auswendig gelernt und die Namen ihrer Sterne und die Namen ihrer Götter. Er hatte ihre Verben und Adjektive bestaunt, etwa iskasinana, was Schnell zu Stärke heranwachsen wie ein kleines Kind bedeutete, oder köguraiua, was man sagte, wenn man starken Hunger hatte oder aber plötzlich sehr ungeduldig wurde.
Von dem Buch ging ein Zauber aus, dem Hestermann nur allzu gerne erlag.
Die Tatsache, dass das Buch die Sprache eines fernen Volkes dokumentierte, erschien ihm nicht weiter bemerkenswert. Aber noch heute war es ihm ein Rätsel, wie diese Worte die Berge und die Meere und die Wälder und die Menschen dermaßen scharf umrissen. Welche Technik hatte der Autor benutzt, dass dies alles lebendig, ja greifbar wurde? Was hatte er getan, um diese Bilder voller Licht und Schatten in den Kopf des Lesers zu zaubern? Wie kam es, dass alles vor Farben funkelte? In einem Wörterbuch!
Es war schlicht ein Meisterwerk.
Es hatte für sich eine ganz eigene Gattung geschaffen, es war ein Baldanders: mal Landschaftsbeschreibung, mal völkerkundliche Forschungsarbeit, mal Gemälde, mal Gedicht, und oft steckte all dies in einer einzigen Wortdefinition, respektive: in diesem Mischmasch aus Versionen, in diesem unglaublichen Reichtum an gesammelten Fetzen von Leben. Allein die Beschreibung des Otters! Das Glitzern seines Fells! Das Gefühl der Wärme bei einer Berührung - ein fast schon manisches Festhalten an Erlebtem! Dies waren keine Einträge eines Wörterbuchs, Hestermann hatte bisweilen das Gefühl, dieses Buch sei nur als Wörterbuch getarnt, in Wahrheit sei es ein Bauplan, eine Anleitung zum Erschaffen eines Teils der Welt, für den Fall, dass diese Welt einst untergehen sollte.
Es war eine Kopie der Wirklichkeit in Form von Wörtern, es war ein philosophischer Gral, nichts mehr und nichts weniger.
Einmal, in Münster, hatte er das Buch in seiner privaten Sammlung nicht mehr gefunden, augenblicklich war er nervös geworden, war kreuz und quer über das Universitätsgelände geirrt, von Hörsaal zu Hörsaal, hatte Unbekannte gefragt: »Haben Sie mein Buch gesehen?« und hatte an den Litfaßsäulen Vermisstenanzeigen aufgehängt, mit der Bitte, falls man das Buch fände, möge man es sofort in sein Büro bringen, ein Finderlohn sei garantiert. Kurz darauf aber hatte er es im Küchenschrank seiner Wohnung wiedergefunden, eingeklemmt zwischen zwei Packungen Zwieback....
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