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Einleitung Harlem und der Gospel-Spirit
In diesem Buch möchte ich in Geschichten von der wilden, uferlosen Welt der Gospelmusik erzählen - und mit einer persönlichen Geschichte beginnen:
An einem Sonntagmorgen im Oktober 2012 bin ich mit meiner 14-jährigen Tochter in der Metro Linie 2 auf dem Weg nach Harlem. Auf unserer Vater-Tochter-Reise haben wir die klassischen Sehenswürdigkeiten New Yorks bereits weitgehend geschafft. Mit dem Besuch eines Gospel-Gottesdienstes möchte der Vater jetzt einen kleinen eigenen Akzent einbringen.
Also entfernen wir uns etwas aus dem touristischen Zentrum und fahren nach Harlem. Der Stadtteil im Nordosten Manhattans ist einer der magischen Orte afroamerikanischer Kultur. Nach dem Ende der Sklaverei leeren sich die Baumwollfelder. In der »Great Migration« strömen Anfang des 20. Jahrhunderts die ExSklaven vom Land in die Städte: Memphis, Detroit, Chicago - und eben New York, Harlem. Rund um den Jazz blüht afroamerikanische Kultur auf. Harlem gibt dem Ganzen den Namen: die »Harlem Renaissance«.
Die Abyssinian Baptist Church ist die erste Adresse in Harlem für Gospelmusik. Hier hat Nat King Cole geheiratet, hier fand die Trauerfeier für den »Vater des Blues«, W. C. Handy, statt. Hier lernte Dietrich Bonhoeffer die Gospelmusik kennen, als er 1930 ein Jahr in New York studierte. Ein afroamerikanischer Freund nahm ihn mit in die Abyssinian Church. Hier lernte er ein Christentum kennen, das gegen soziale Ungerechtigkeit und rassistische Diskriminierung aufsteht, mit Jesus auf der Seite der Unterdrückten. Neben neuen Einsichten und einer veränderten Haltung bringt Dietrich Bonhoeffer auch die Gospelplatten mit nach Deutschland, die er auf Streifzügen in Harlem gekauft hat.
Die Kirche ist kein Fall für irgendwelche New-York-Top-Ten-Listen, aber doch eine Touristenattraktion. Es gibt ein Touristenkontingent für den Gottesdienst. Wir sind wirklich früh aufgestanden und eine Stunde vorher vor Ort. Aber die Schlange ist lang, wir werden es wohl nicht schaffen. Mein Programmpunkt droht zum Flop zu werden. Ich bin ganz schlecht darin, meinen Kindern Enttäuschungen zuzumuten, ich weigere mich, aufzugeben und zurückzufahren. Wir verlassen die Schlange und suchen in den Nebenstraßen nach der nächstbesten nichtberühmten Kirche. Wir landen in der St. Charles Borromeo Church und erleben einen Gottesdienst, der meinen Blick auf Gospel-Gottesdienste heilsam einnordet.
Ein Bild von Johannes Paul II. im Eingang widerlegt das erste Vorurteil: Offensichtlich gibt es auch katholische afroamerikanische Gemeinden. Die meisten afroamerikanischen Christen sind Baptisten, Methodisten oder Mitglieder von Holiness-Kirchen, aber auch alle anderen Denominationen finden Gläubige, oft aus der Mittelschicht.
Wir haben uns rechtzeitig aus der Schlange verabschiedet, noch strömt die Gemeinde in die Kirche, und wir fallen nicht unnötig auf. Die Reihen sind bereits gut besetzt, aber weiter hinten macht meine Tochter noch zwei Plätze aus. Ich atme einmal durch mit einem kurzen Erfolgsgefühl: Papa hat geliefert. Dann falle ich in ein tiefes selbstreflexives Loch: Was tue ich hier? Meine Tochter zählt nicht wirklich, Kinder gehen immer, also: Was tue ich hier als einziger Weißer unter Schwarzen? Wie dreist ist es von mir, hier als Voyeur einzudringen?
Während ich reflektiere, schaue ich offensichtlich so starr geradeaus, dass es meine Banknachbarin irritiert. Sie ist um die 50, also etwa mein Alter, moderater Chic mit Sonntagsgottesdienst-Hut. Ich bin froh, dass ich nicht ganz touristisch gekleidet bin, ich trage zwar Jeans, aber immerhin auch Hemd, Jackett und schwarzen Mantel. Die Dame wendet sich mir zu, schaut mir offen in die Augen, gibt mir die Hand und wünscht mir Gottes Segen.
An den Moment kann ich mich heute noch lebhaft erinnern. Auf der Kirchenbank fühle ich, wie im gemeinsamen Glauben Grenzen fallen: Hier sitzen zwei Kinder Gottes, um ihn gemeinsam anzubeten. »Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus« schreibt der Apostel Paulus an die Galater. In amerikanischen Songs heißt es gern: »Unser aller Knochen sind weiß und das Blut ist rot.«
Ich erlebe dort auf der Kirchenbank etwas von dem Himmelreich, von dem Jesus spricht. Das liegt nicht nur in der Zukunft, es kann jederzeit temporär in unser Leben einbrechen und Grenzen sprengen.
Dabei sind Grenzen in der Alltagswelt völlig in Ordnung. Als Reporter bleibe ich auch weiterhin afroamerikanischen Gesprächspartnern gegenüber noch etwas defensiver und respektvoller, als es für einen Journalisten ohnehin sinnvoll ist. Ich beginne nicht damit, irgendjemandem nassforsch »unter Christen« auf die Schulter zu klopfen. Aber der Moment begleitet mich bei meiner weiteren Beschäftigung mit afroamerikanischer Geschichte und Gospelmusik.
Meine Tochter und ich sind dann doch nicht die einzigen Weißen in der Kirche. Den Gottesdienst hält ein afroamerikanischer Priester gemeinsam mit einem irisch wirkenden Priester im Rentenalter. Und ich entdecke eine Empore mit eigenem Zugang. Die füllt sich während des Gottesdienstes für eine Viertelstunde, offensichtlich mit einer Stadtrundfahrtgruppe. Ob die Gruppe den Besuch in einer Harlemer Gospelkirche für eine gelungene Station hält, hängt wohl sehr davon ab, welche Viertelstunde sie mitbekommen hat. Klar, auch ich bin nicht hier, um ausgedehnte Lesungen aus der King James-Bibel zu hören. Ich erwarte einen schick-ekstatischen Gottesdienst mit Gospel-Gassenhauern mit viel Handclapping.
Die Erwartung wird nicht vollkommen enttäuscht, nur weitgehend. Ja, die Messdiener laufen etwas beschwingter als in Deutschland üblich und schwenken auch mal die Weihrauchfässer rhythmusbetont. Die Predigt ist effektvoller und lässt Luft für Zwischenrufe. Aber dafür sind die Abkündigungen deutlich länger, als wir es in meiner Gemeinde den Besuchern zumuten. Mit diversen Berichten aus verschiedenen Gruppen zieht sich das Ganze an die zwei Stunden.
Und, nein, dieser Gemeindegottesdienst bietet musikalisch kein Best of Gospel zwischen »When the Saints Go Marching In« und »Amazing Grace.« Dabei fängt es ganz gut an, die Gemeinde singt »Wade in the Water«, den alten Gospelsong, der vielleicht etwas mit der Flucht von Sklaven durch Flüsse zu tun hat. Dann aber geht es wenig aufregend weiter mit »Blessed Assurance«, einer Hymne aus dem 19. Jahrhundert im gemächlichen Walzertakt. »I Give Myself Away« aber begeistert mich. Der Song, mit dem William McDowell, ein singender Pastor aus Orlando, ein Jahr vorher an der Spitze der Gospelsong-Charts stand. Ein Song, der sowohl als Contemporary Gospel wie als Loblied durchgeht, einer der Höhepunkte des Albums As We Worship. Der Song trifft bei mir einen Nerv; mich vertrauensvoll in die Hände von Jesus zu geben, ist nicht meine Stärke. Und die Gemeinde bewältigt die hymnische Größe des Songs. Sie singen mit dem Schwung, den ein Lied haben kann, wenn die Gemeinde es gerade schon draufhat, ohne dass es bereits allzu routiniert klingt oder leiert.
Ich weiß nicht, was sie an diesem Morgen in der Abyssinian Baptist Church gesungen haben. Aber es war naiv zu erwarten, dass mir die Gemeinde in einer nichtberühmten Kirche den Gefallen tut, ausgerechnet die alten Gospelsongs zu singen, die ich kenne. Das afroamerikanische Verhältnis zum Erbe ist naheliegenderweise ambivalent, hinten liegen immer auch die Schrecken der Sklaverei, die es zu überwinden gilt. Mit der afroamerikanischen Autorin und Nobelpreisträgerin Toni Morrison gesprochen, ist Sklaverei »keine Geschichte, die man weitergeben sollte.« Für den Musikmanager Ahmet Ertegun ist afroamerikanische Musik die konstante Flucht vor dem Status Quo.1 Es gibt so etwas wie Traditionspflege, viel stärker aber ist Hang zum Trend, so hat es Bluesman B. B. King erlebt:
»Was die Musik angeht, waren schwarze Musikfans schon immer modebewusst. Wir lieben immer das Neuste vom Neuen. Und das Neuste ist in der Regel cool.«2
Wie überall auf der Welt singen auch afroamerikanische Gemeinden einfach das, was für sie im Hier und Jetzt tauglich ist, mit großen Unterschieden zwischen konservativen ländlichen Gemeinden und modernen städtischen. In Harlem, das sich immer als Motor kultureller afroamerikanischer Innovation verstand, hat das Neue einen leichten Standortvorteil. Und »Wade in the Water« und »I Give Myself Away« gehören zusammen. Die Welt der Gospelmusik ist immer in Bewegung, nichts bleibt, wie es war. Die traditionellen Songs sind Repertoire, mehr noch aber inspirieren sie und treiben Neues hervor.
Gerade weil ich den Gottesdienst um einige Illusionen ärmer und um einige Fragen reicher verlasse, hat er mein Interesse an Gospelmusik dauerhaft entfacht. Einige meiner Sichtweisen haben sich seitdem verändert. Der Faszination von Gospelmusik kommt man nicht wirklich nahe, wenn man die alten Gospelsongs darauf befragt, wie sie Sklaven-Elend dokumentieren.
Sie sind Kunst, und damit geht es nicht um das reine Erleben, sondern darum, was die Songs kreativ daraus machen. Und ich bin überzeugt, dass die besondere künstlerische Kraft und spirituelle Energie der Gospelmusik aus einer einzigartigen Umwandlung stammen: Die afroamerikanischen Sklaven verwandeln die Religion ihrer Unterdrücker in eine Religion der Armen, Unterdrückten, Entrechteten. Davon zeugen die alten Gospelsongs nicht nur, sie findet in ihnen statt. Das ist das Beste, was dem Christentum passieren konnte. Dieser Neustart des christlichen Glaubens hat Auswirkungen...
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