Schweitzer Fachinformationen
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Nach weiteren 914 Schritten erreiche ich die Schule. Erste Stunde Physik bei Frau Popov. Frau Popov ist meine Klassenlehrerin. Niemand weiß genau, wie alt sie ist. Sie hat jeden Tag dasselbe an: Kordhosen und weiße, zerknitterte Blusen, dazu grobe Lederschuhe. In meiner Vorstellung hängen in ihrem Kleiderschrank sieben identische Kordhosen und sieben identische knittrige Blusen nebeneinander. Ihre Frisur nennt man Topfschnitt. Weil wenn man Frau Popov einen Topf über den Kopf stülpen (nicht, dass ich das jemals vorhätte) und alle Haare abschneiden würde, die unten rausgucken, dann bekäme man eben diese Frisur. Sie gibt nie Hausaufgaben auf. Und statt das Physikbuch durchzuarbeiten, arbeiten wir an wissenschaftlichen Projekten. So richtig leicht hat es Frau Popov nicht, vor allem wegen ihrem Namen. Ihr könnt euch denken, wie sie von einigen Schülern genannt wird. Aber ich finde, sie ist das Beste, was die Einstein-Schule zu bieten hat.
Bisher fiel es mir nicht schwer, bei Frau Popov aufzupassen. Aber bisher habe ich auch noch keine seltsamen Briefe ohne Absender bekommen. Statt zuzuhören betrachte ich die Worte auf dem blassblauen Papier.
Du wurdest ausgewählt. Komm zum Treffpunkt.
Offenbar habe ich mich mit meiner Vermutung über Briefe geirrt. Es gibt drei Arten. Den offiziellen Brief. Den persönlichen Brief. Und den rätselhaften Brief.
Wofür wurde ich ausgewählt? Von wem? Und zu welchem Treffpunkt soll ich kommen? Zum ersten Mal in meiner Zeit als Schüler der fünften Klasse der Einstein-Schule kann ich dem Unterricht nicht folgen. Stattdessen schaue ich auf den Brief und dann aus dem Fenster. Vom Fenster aus sieht man direkt auf den Parkplatz hinter der Schule. Ich schaue gerne auf den Parkplatz. Weil der Hausmeister dort jeden Tag mindestens dreimal mit seinem Hund spazieren geht, wenn der mal muss. Der Hund ist groß und flauschig und heißt Balu. Ich mag Balu. Aber ich streichle ihn nie. Schließlich mag ich es auch nicht, wenn mich jemand einfach so anfasst. Heute sehe ich weder den Hausmeister noch Balu. Dafür sehe ich einen gelben VW-Bus. Der ist da schon seit einer Woche. Er ist schief eingeparkt und hat einen Kratzer an der rechten Seite. Außerdem steht auf einem Aufkleber neben dem Kratzer Punkrock since 1976. Was in dem Bus drinnen ist, kann man nicht erkennen, weil zugezogene Gardinen vor den Fenstern hängen. Ob er einem Rocker gehört? Und was hat ein Rocker an der Einstein-Schule zu suchen? Während ich noch überlege, ob es einen Zusammenhang zwischen dem rätselhaften VW-Bus und dem rätselhaften Brief geben könnte, schrillt die Klingel.
Den nächsten blauen Brief sehe ich schon von Weitem. Er ist mit Klebestreifen an meinem Spind befestigt. Ich schiebe mich durch die Schüler und Schülerinnen der Einstein-Schule, den Blick geradeaus auf meinen Spind gerichtet und den blauen Brief mit meinem Namen drauf. Genauso wie den letzten Umschlag ratsche ich auch diesen mit meinem Schlüssel auf und ziehe ein blassblaues Blatt heraus. Diesmal steht da noch weniger. Genau genommen nur das: Ne / Cu / Au.
Könnte es sein? Ganz vielleicht? Dass das ein Spiel ist, das sich Marek ausgedacht hat? Aber wie? Schließlich ist er 1.121 Kilometer entfernt. Ich schaue mich um, ganz so, als suchte ich nach versteckten Kameras. Aber da ist nichts. Nur die Schulklingel, die zur nächsten Stunde läutet.
An meinem Platz halte ich beide Umschläge nebeneinander. Dieselbe Handschrift. Dasselbe Papier. Weder auf dem ersten noch auf dem zweiten Umschlag klebt eine Briefmarke. Und das kann nur eins bedeuten: Die Person, die hinter den Briefen steckt, weiß nicht nur, wo ich wohne. Sie weiß auch, in welche Schule ich gehe und welcher mein Spind ist. Das ist schon ein wenig gruselig.
Sollte ich Nancy davon erzählen? Ne / Cu / Au. Das sind Abkürzungen. Aber Abkürzungen wofür?
In Deutsch bei Herrn Steiner sollen wir einen Aufsatz darüber schreiben, warum das Dach der Turnhalle dringend repariert werden sollte. Schnell kritzle ich einige Sätze runter, um mich dann wieder heimlich den Briefumschlägen zu widmen. In den letzten fünf Minuten der Deutschstunde macht es plötzlich Klick. Ich habe eine Idee, was es mit dem zweiten Umschlag auf sich hat. Zum Glück hat es gerade zur großen Pause geläutet.
Wie immer ist die Schulbibliothek ganz leer. Ich fahre mit meinem Finger die Regalreihen entlang und stoppe bei einem glatten, gelben Buchrücken. Das Buch heißt Grundlegende Chemie für Dummies und ich habe schon oft darin gelesen. Dummies ist englisch und bedeutet Dumme und ich muss an dieser Stelle festhalten, dass ich mich nicht für dumm halte. Ich denke, mein Gehirn funktioniert ausgezeichnet. Es ist nur das einzige Buch über grundlegende Chemie, das es in der Schulbibliothek gibt. Warum man allerdings auf ein Buch schreiben sollte, dass es für Dumme ist, kann ich nicht verstehen.
Mit dem Buch auf dem Schoß setze ich mich zwischen die Regalreihen. Der Teppichboden ist fleckig und riecht ein wenig muffig. Aber ich brauche nicht lang. Neben mich lege ich den blauen Zettel. Ne / Cu / Au.
Ich blättere das Buch durch und mache mir Notizen. Weil ich so vertieft bin in meine Tätigkeit, bemerke ich die Person gar nicht, die an mir vorbeihuscht. Erst als jemand sich hinter den letzten Regalreihen räuspert, blicke ich auf.
Eine Jungenstimme ertönt.
»Ich bin Kadir, dein Held,
Mach nur, was mir gefällt.
Ich fackel nicht lang rum,
Bin wirklich smart, nicht dumm.«
Es knistert. Das klingt, als würde jemand in eine Chipstüte greifen und dann geräuschvoll essen. So kann ich mich unmöglich auf Grundlegende Chemie für Dummies konzentrieren.
Ich stehe auf und gehe langsam die Regalreihen entlang. Der Junge macht weiter.
»Bin dein Bro, hab den Swag.
Ich mag yellow, green und black.
Diggi, sag mal, was ist los?
Fühlst du dich etwa lost?
Los . Lost . Nee, ey. Los . Moos . bloß ... was hast du bloß? Ja, nice.
Diggi, sag, was hast du bloß?«
Knister. Knusper. Ich biege in die letzte Regalreihe ein. Da steht der Junge. Die Chipshand wandert zum Mund. Ich tippe dem Jungen auf die Schulter und der dreht sich um. Er trägt ein weites, hellgelbes T-Shirt, das ihm fast bis zu den Knien reicht, darunter eine Jeans und so weiße Turnschuhe, dass man beim Anblick fast Kopfschmerzen bekommt. Auf seinem Käppi steht mit Strasssteinchen King Kadir geschrieben. In seinen Mundwinkeln sammeln sich Chipskrümel. Kadir Özdemir geht in meine Parallelklasse. Wenn man ihn und mich in einem kartesischen Koordinatensystem einzeichnen würde, dann wären wir maximal voneinander entfernt. Wir haben keine einzige Gemeinsamkeit.
»Hast du's gehört?«, fragt Kadir, bevor ich etwas sagen kann.
Ich nicke.
»Alles?«
Ich nicke wieder.
Kadir vergräbt das Gesicht in den Händen.
»Sag, war's gut?«, nuschelt er.
Ich zucke mit den Schultern. »Kannst du das bitte woanders machen?«
Kadir starrt mich an mit seinen Chipskrümeln im Mundwinkel.
»Eine Bibliothek ist ein Ort der Stille. Ich muss mich konzentrieren.«
Kadir starrt immer noch. Dann prustet er los.
»Hab ich was verpasst? Bist du die Bibliothekspolizei? Brudi, ich mach mein Ding, du machst dein Ding. Keiner kriegt Probleme. Zisch ab.«
Vielleicht hätte ich noch hinzufügen sollen, dass ich einem rätselhaften Brief auf der Spur bin. Beziehungsweise zwei rätselhaften Briefen. Manchmal weiß ich nicht genau, wie man richtig mit anderen redet. Am besten ich sage nichts mehr.
Kadir rappt weiter, ich biege wieder in meine Regalreihe ein. Da liegt noch der blassblaue Zettel auf dem fleckigen grauen Teppichboden. Doch Grundlegende Chemie für Dummies ist verschwunden. Habe ich es zurück ins Regal gestellt? Aber nein, da ist eine Lücke. Ich hechte die Regalreihe entlang und sehe grad noch so, wie ein schwarzer Schatten aus der Schulbibliothek huscht.
Dieser Tag wird immer seltsamer. Das muss ich nachher unbedingt Marek erzählen. Also, falls er nicht hinter all dem steckt. Das gilt es noch herauszufinden.
Plötzlich erscheint Frau Popov im Türrahmen.
»Rocky, ist Kadir hier bei dir?«
Das Strasssteinchen-Käppi lugt hinter dem Regal hervor. Nur so weit, dass ich ihn sehen kann, Frau Popov aber nicht. Kadir reißt die Augen auf in meine Richtung und schüttelt den Kopf. Die Handflächen presst er vor der Brust aneinander wie bei einem Gebet.
»Warum suchen Sie ihn?«, frage ich Richtung Tür.
»Ich helfe ihm mit seinem Wissenschaftsprojekt. Ist er hier?«
Wieder ein Blick zu den hintersten Regalen. Mittlerweile kniet Kadir auf dem Boden und reckt die Hände in Gebetspose nach oben in die Luft.
Es sind Momente wie dieser, die entscheiden, ob man einen guten Charakter hat. Eigentlich widerstrebt es mir, zu lügen. Aber wenn man es ein bisschen dreht und wendet, ist...
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