Schweitzer Fachinformationen
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»Sie wollen den Menschen befrei-en? Nun, das behaup-ten Sie. Ich behaupte: der Spiegel der Selbster-kenntnis ist eine Lü-ge. Eine Lüge, die dazu dient, den Menschen um seine Freiheit zu betrü-gen.« Wir saßen am alten Marktbrunnen, einer unscheinbaren Rotunde aus rotem Sandstein. Gelangweilt tropfte das Wasser aus gusseisernen Wasserspeiern in das halbleere Becken. Über uns ragte in schwarzer Gleichgültigkeit der achteckige Turm der Marktkirche in die Höhe. Die Stadtbeleuchtung war längst abgeschaltet. Vor dem Brunnen wanderte Julian Fleig gestikulierend auf und ab, wie ein Nachtwächter, der seine Schutzbefohlenen, statt sie ins Bett zu schicken, in wirre Gedankengänge verstrickt. Die anderen saßen auf steinernen Bänken rings um den Brunnen, gegenüber der Artillerist, entgegen seinen sonstigen Gewohnheiten nahezu verstummt. Immer wieder fiel sein Kopf nach vorn. Kaum dass er allerdings einzuschlafen drohte, ruckte er mit dem Kopf, schnaufte und begab sich wieder in eine aufrechte Position. Zu meiner Linken hockten Hinrich Giers und der Anwalt, der Professor mit der Gelassenheit des Klassenersten, hin und wieder freundlich nickend, der Anwalt mit dem Eifer eines ungeduldigen Besserwissers. Ich selbst hatte mich auf die dritte Bank gesetzt, im Rücken von Julian Fleig, und einen zaghaften Versuch unternommen, das Gespräch aufzuzeichnen. Der Fernsehphilosoph hatte mich umgehend mit einer scharfen Bemerkung zurechtgewiesen. Infolgedessen notierte ich Stichworte auf meinem Notizblock, hatte allerdings Mühe, Julian Fleig zu folgen, der in hohem Tempo die Liste seiner philosophischen Vorhaltungen herunterspulte.
»Mit einem Wort: Der Spie-gel lügt. Warum lügt er? Weil er falsch konstru-iert ist. Die Behaup-tung unseres verehrten Meisters lautet: Wir alle könnten in diesem Spiegel blicken und darin die leitenden I-deen unserer Zeit erkennen. Eine der größten Lügen der Philo-sophie.« Julian Fleig fixierte den Professor und holte bedeutsam Luft. »Die Lüge vom großen Wir.« Als ob es erforderlich sei, diese Erkenntnis tief in unser Bewusstsein zu senken, machte er eine weitere Pause. »Immer wir«, lamentierte er schließlich, »immer heißt es wir.« - »Wäre es nicht besser, wir würden dieses Gespräch bei anderer Gelegenheit fortführen?«, verlangte der Anwalt zu wissen. »Vielleicht wäre das für alle Beteiligten . angenehmer.« Julian Fleig würdigte ihn keines Blickes. Unter dem Eindruck der neuerlichen Verwendung des Wortes »wir« verzog er lediglich kurz das Gesicht.
»Ihr Kultura-lismus«, schmetterte er Hinrich Giers entgegen, »bedeutet, das Wir zum Maß-stab aller Dinge zu erheben.« Und als quäle ihn so viel Dummheit, fuhr er fort: »Natürlich kann sich niemand artikulie-ren, ohne zuvor in die Ge-sellschaft hin-einsozialisiert worden zu sein. Natürlich kann er sich nicht anders ausdrücken als in der gemeinsamen Spra-che. Natürlich kann er nicht Klavier spielen wollen, wenn seine Kultur kein Klavier kennt. Aber« - er warf den Kopf zurück und begann mit einer neuen Exerzierrunde vor dem tröpfelnden Brunnen - »das sind Selbstver-ständlichkeiten. Es ist selbstver-ständlich, dass niemand Ich sagen kann, bevor das große Wir nicht ex-istiert. Es ist selbstverständlich, dass niemand sich artiku-lieren kann, bevor er der Gesellschaft nicht ange-hört. Doch was hilft ihm das« - er exerzierte in die andere Richtung - »wenn sich das Wir im Irr-tum befindet? Wenn das Wir sein Ich in Irr-tümer verstrickt?« Julian Fleig schaute triumphierend in die Runde. »Wo bleibt die Ge-wissheit des einzelnen? Wo sein Recht, sich Gewissheit zu ver-schaffen? Die Wahrheit zu erringen - ge-gen die anderen? Ich je-denfalls verlange Gewissheit für mich. Zur Not auch ge-gen die anderen.«
Während Julian Fleig selbstzufrieden in die Runde blickte, schaute ich verstohlen zu Hinrich Giers hinüber. Das sollte alles sein? Der große Angriff von Julian Fleig auf das Theoriegebäude seines Lehrers? Waren das die Ergebnisse der jahrelangen Anstrengungen, von denen Lou so gereizt berichtet hatte? Wenn der Fernsehphilosoph mehr nicht zu bieten hatte, ließen sich seine Argumente mit ein paar müden Handbewegungen vom Tisch befördern. Hinrich Giers würde diesem Unfug mit wenigen Sätzen ein Ende bereiten. Ich kann nicht verhehlen, dass ich mich mit einer gewissen Vorfreude darauf einzurichten begann. Vorerst allerdings machte der Gelehrte keinerlei Anstalten zu einer Entgegnung. Er nickte Julian Fleig sogar aufmunternd zu, veranlasste ihn, seine Vorführung fortzusetzen.
»Der Spiegel der Selbster-kenntnis«, erklärte der Fernsehphilosoph, der sich nicht lange bitten ließ, »ist ein Trugge-bilde. Ein Mittel der kollektiven Selbst-täuschung.« Hinrich Giers hob kaum die Augen. »Der Mensch sieht nur, was er längst kennt: das leere Wir-glauben. Und was wird damit zur Quelle seiner Selbster-kenntnis? Das leere Ge-rede über die Welt!« Julian Fleig fixierte den Professor provozierend. Dann verfiel er in einen freundlichen Flüsterton, als wollte er ihm die Angst vor dem Schuldeingeständnis nehmen. »Ist es so schlimm, das einzuse-hen? Die Lee-re in diesem Spiegel? Sie reden den Menschen ein, sie könnten nur denken, was andere schon ge-dacht haben.« Hinrich Giers begann den Kopf zu schütteln, sagte aber nichts. »Sie verge-waltigen den einzelnen. Belehren ihn, sein Gehirn sei nur ein Durchlaufer-hitzer. Ein Zwischenspeicher für Ideen, in denen die Zeit sich formt. Sie wollen den Menschen groß ma-chen. Dabei machen Sie ihn kleiner, als er ist.« Das sagte Julian Fleig in einem Ton milden Erstaunens, als könne er so viel Dummheit gar nicht fassen. Mit hochgezogenen Schultern schaute er auf seinen alten Lehrer hinunter, die Hände von den Hüften seitlich abgespreizt, als müsse alle Aufmerksamkeit der Frage gelten, wie sich solche Versäumnisse erklären ließen. Hinrich Giers reagierte nicht. Nur der Artillerist schreckte aus dem Halbschlaf hoch und ließ einen Grunzlaut hören, der in einer freundlichen Atmosphäre als Signal zur Vertagung der kleinen Runde verstanden worden wäre.
Julian Fleig bemerkte, dass ihm die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer zu entgleiten drohte. Also begann er uns plötzlich anzuschreien. »Sind es die Mühen der Philosophen wert, so verraten zu wer-den?! Wollen Sie diese Anstrengungen mit der Bequemlichkeit Ihrer Theorie vergessen ma-chen?! Ist das Ihr Ziel?!« Theatralisch bohrte er die gespreizten Finger in den Nachthimmel. »Wer hat sich nicht gewehrt gegen diesen Verrat an der Philosophie? Wer hat nicht alles versucht, die Selbster-kenntnis zu verteidigen gegen die Aus-lieferung des Ich. Scho-penhauer zum Beispiel«, rief er im Ton höchster Entrüstung, »hat gegen die Irrtümer der Welt den Vorrang der eigenen Vor-stellung verteidigt. Zuerst muss ich meinen ei-genen Willen, mein ei-genes Wollen verstehen, um die Welt zu ver-stehen.« Hinrich Giers schüttelte immer stärker den Kopf. Der Anwalt machte eine wegwerfende Handbewegung und erhob sich gravitätisch von der Bank. »Marx zum Beispiel!«, deklamierte der Fernsehphilosoph in nahezu unveränderter Lautstärke. »Keiner war küh-ner in seinem Verdacht, dass sich der kollekti-ve Geist von der Welt ein fal-sches Bild gemacht hat.« Diesmal war es der Artillerist, der ein hämisches Kichern hören ließ. Der Anwalt schlurfte zu Schlierer hinüber und brummte irgendetwas von Zeit zum Schlafengehen. »Nietz-sche zum Beispiel«, rief Julian Fleig, der die Unruhe mit einer weiteren Steigerung seiner Lautstärke zu bekämpfen suchte, »hat festgestellt, dass der einzelne nicht länger das Sprachrohr eines tönenden Gei-stes ist - eines ausgedachten Got-tes!« Seine Stimme überschlug sich. »Der Mensch lebt in einer sozialen Hülle, ja. Aber nicht als Befehlsemp-fänger. Nicht als Sprachrohr einer höheren Ver-nunft. Sondern als ihr Ge-hirn, als krea-tiver Mit-telpunkt! Er allein kann den tanzenden Stern ge-bären. Lasst ihn sich selbst erkennen! Sich selbst, nicht die leeren Ge-bilde, von denen er umgeben ist! Nicht den Unsinn, den die Welt in ihn hin-einstopfen will, das vermeintliche Wissen, die sinnlosen Zer-streuungen! Das alles droht ihn zu ersticken, seine Selbster-kenntnis zu zerstö-ren!«
Julian Fleig hielt inne. Sogar er schien jetzt erschöpft. Er blieb vor der Bank von Hinrich Giers stehen und senkte den Kopf. Für einen Moment war es still. Nur der Brunnen tröpfelte gleichgültig. Der Anwalt war zurück auf die Bank gesunken, diesmal neben den Artilleristen. Beide regten sich nicht mehr. Es war, als sei ein toter Punkt erreicht, als würde schiere Erschöpfung diesem Treffen ein Ende bereiten. Auch ich fühlte mich außerstande, den Ungereimtheiten des Fernsehphilosophen länger zu folgen. Die...
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