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»Wozu tue ich mir das alles eigentlich an?«
Diese Frage dürfte fast jeder kennen. Früher oder später stellt sie sich. Irgendwann kommt ihr Moment. Und nicht selten ist dieser Moment schmerzhaft.
»Wozu das alles?« Es ist eine Frage, die aus dem Gefühl entsteht, dass alles längst zu viel ist, dass aus dem eigenen Leben ein Dauerzustand der Überforderung oder Überlastung geworden ist.
»Wozu tue ich mir das an?« Diese Frage ist ein Befund: das Eingeständnis, nicht mehr so richtig zu wissen, was das alles soll und weshalb ich mich ursprünglich darauf eingelassen habe. Was, wenn ich mein wahres Leben gerade verpasse? Wenn das, was ich tun möchte, in Wirklichkeit etwas ganz anderes ist?
Es ist eine erstaunliche Tatsache des modernen Lebens: Wir denken sehr wenig darüber nach, weshalb wir uns in konkrete Lebensverhältnisse hineinbegeben. Weshalb lassen wir uns auf bestimmte Menschen, bestimmte soziale Konstellationen, Rollen und Tätigkeiten ein? Warum nicht auf andere? Welches sind die Gründe, sich zu entscheiden: Hier mache ich mit, dort nicht?
Eines steht außer Frage: Es geht dabei um Hingabe, um eine mehr oder minder bewusst getroffene Entscheidung, sich auf eine Sache, eine Aufgabe, eine Rolle, einen Menschen einzulassen, um das Wagnis, dabei zu sein, mitzumachen, mitzugestalten, gemeinsam etwas zu tun. Dafür ist es noch nicht einmal erforderlich, etwas mit voller Hingabe zu tun, also mit besonders großer Leidenschaft oder Freude. Es gibt viele verschiedene Formen, sich einer Sache hinzugeben, sich auf die Welt einzulassen. Oft ist man nur mit halbem Herzen dabei, fragt sich vielleicht, weshalb man irgendeiner Aufgabe so viel Aufmerksamkeit widmet. Hingabe kann sogar zu einem stumpfen Pflichtprogramm mutieren, das scheinbar von selbst abläuft. Oft ist uns gar nicht bewusst, dass weitreichende Lebensentscheidungen dahinter [10]verborgen sind - und vor allem, weshalb wir diese Entscheidungen getroffen haben. Unser Verhältnis zur eigenen Hingabe ist nicht selten völlig unaufgeklärt.
Das hat mit dem modernen Glauben zu tun, wir würden bei solchen Entscheidungen lediglich den eigenen subjektiven Wünschen, Sehnsüchten oder Zielen folgen. Oft bleibt unterbelichtet, dass wir zugleich soziale Personen sind, nicht nur subjektiven Neigungen und Interessen folgen, sondern zugleich darüber entscheiden, in welchen Partnerschaften, Freundschaften, Bündnissen, Institutionen und Unternehmungen wir uns mit anderen zusammenschließen. Immer wieder geht es um die Entscheidung, irgendwo mitzumachen, zu partizipieren, zusammenzuleben, etwas gemeinsam zu entwickeln. Immer setzt eine solche Entscheidung auch Bereitschaft zur Hingabe voraus. Und oft genug ist uns keineswegs klar, was es eigentlich ist, worauf wir uns da einlassen.
Auf dieses Problem hat bereits die Philosophin Hannah Arendt hingewiesen. Kurz vor ihrem Tod, im Dezember 1975, stößt sie einen sentimentalen Seufzer aus, als sie einer alten Freundin, der Verlegerin Helen Wolff, begegnet. Die beiden Frauen treffen sich in einem New Yorker Restaurant. Beide blicken auf ein hochproduktives und erfülltes Leben zurück. Sie vertrauen sich, teilen einander auch intime Gedanken mit. »Wenn du und ich einmal tot sind«, fragt die Philosophin plötzlich, »weiß dann überhaupt noch jemand, was Liebe ist?«1 Was Helen Wolff erwidert hat, ist nicht bekannt. Doch als Hannah Arendt bald darauf tatsächlich stirbt, erinnert sich die Verlegerin an dieses letzte Treffen. »Ich wusste damals [.] ganz genau, was sie meinte«, notiert sie wenige Tage später in einem Brief an den Schriftsteller Uwe Johnson.2 Noch Jahre danach spricht sie in einem Interview darüber. Stets habe Hannah Arendt über den Begriff der Liebe nachgedacht. Gemeint habe sie die Fähigkeit zur Hingabe, »the capacity for devotion«3 - nicht zu einer bestimmten Person, sondern überhaupt zum Leben: »what you do with your life«.4
[11]Die Sorge von Hannah Arendt galt einer modernen Lebenswelt der Innerlichkeit. Sie kritisierte den Glauben, Lebensentscheidungen ganz mit sich selbst abmachen zu können, in einer inneren Projektion von Wünschen, Sehnsüchten, Erwartungen und Zielen. Aus Sicht der Philosophin ist das eine naive Vorstellung. Denn was sollte das bedeuten? Dass sich der Rest von selbst erledigt, man wie durch ein Wunder auch die passenden Menschen und Institutionen findet, mit denen man die eigenen Pläne in die Tat umsetzt?
Hier schlummert das Problem: Wie findet man aus der inneren Kammer von Wünschen und Bedürfnissen zum echten Leben? Was heißt es, eigene Vorstellungen in einer gemeinsamen Welt verwirklichen zu können? Dieses Buch wird zeigen, dass dafür in der Tat eine »capacity for devotion« erforderlich ist: eine Vorstellung davon, worauf ich mich einlasse, auf wen und auf was, wofür ich mich hingebe - und wofür nicht. Denn es ist gar nicht so ungefährlich, Hingabe zu üben, ohne über deren Form nachzudenken, Hingabe also einfach geschehen zu lassen. Auf einmal steckt man in Partnerschaften, Bündnissen und Kooperationen - und bemerkt viel zu spät, was es eigentlich bedeutet, sich darauf eingelassen zu haben. Die Folgen für das eigene Leben können gefährlich sein. Mit einem Wort: Man sollte Hingabe nicht geschehen lassen. Es ist erforderlich, sie zu steuern.
Was bedeutet das - die eigene Hingabe steuern? Davon handelt dieses Buch - und kann damit durchaus Missverständnisse auslösen. Das Treffen von Hannah Arendt und Helen Wolff liegt fünfzig Jahre zurück. Schon damals scheint die Frage nach der Hingabe, der »capacity for devotion«, seltsam geklungen zu haben. Ist sie etwa gegen den modernen Individualismus gerichtet? Sprechen hier zwei bedeutende Frauen des 20. Jahrhunderts über eine verborgene Sehnsucht? Dass es schön wäre, die selbstbewusste Individualität aufzugeben und sich für eine große Lebensaufgabe aufzuopfern? Stellen sie sich darunter die wahre Liebe vor - sich hinzugeben, ohne nach sich selbst zu fragen?
[12]Hingabe ist dabei eigentlich etwas Schönes. Letztlich sehnen wir uns alle danach, das, was wir tun, voller Hingabe tun zu können. Wer möchte nicht Freude haben an der Welt, auf die er sich einlässt? Wäre es nicht wunderbar, uneingeschränkt bejahen zu können, was man tut? Ebenso viel Grund gibt es jedoch zur Vorsicht. Im Deutschen hat Hingabe deshalb auch einen zweifelhaften Klang. Noch mehr gilt das für den Begriff der Devotion. Verbunden ist damit die Angst, Hingabe zu weit zu treiben, bis zur Selbstaufgabe. Es ist die Angst davor, sich einer fremden Autorität zu unterwerfen. Auch wenn Erinnerungen an Diktatur und Gewaltherrschaft langsam verblassen, reichen die Ausläufer dieser Angst bis in die Gegenwart. Sie grundieren den feministischen Kampf gegen die patriarchalische Unterdrückung. Sie manifestieren sich im Kampf gegen soziale Abhängigkeit und die wohl dunkelste Form der Erniedrigung, die sexuelle Selbstunterwerfung. Im Hintergrund steht der Verdacht, eine Tradition christlicher Demut habe zur Einübung devoter Verhaltensformen beigetragen. Die Forderung klingt an, gefälligst keine großen Worte um sich zu machen, sondern demütig zu tun, was die Gebote verlangen. »Devotio moderna« hat der Mystiker Thomas von Kempis diese Form der Selbstbeschränkung schon zu Beginn des 15. Jahrhunderts genannt.5
Es scheint nicht weiter schwer, diese Anleitung zu tiefster Demut im Denken der Moderne wiederzuentdecken. Als säkulare Spielart grüßt der Geist preußischer Pflichterfüllung: Befehle zu erhalten, Befehle auszuführen und sich von dieser stumpfen Hingebung erfüllt, ja sogar erhoben zu fühlen. Die Angst davor verwundert umso weniger, als im deutschen Sprachraum damit verstörende Erfahrungen verbunden sind. Ist Hingabe nicht auch die Grundausstattung des Untertanen, eine Bereitschaft zu bedingungslosem Gehorsam, blind am Ende sogar gegenüber Führerkult und Massenmord? Muss nicht das eigene Denken darauf ausgerichtet sein, das genaue Gegenteil solcher Anpassung zu bewirken, Selbstbehauptung an die Stelle der Hingabe zu setzen? Im Englischen mag es vertraut erscheinen, [13]»devoted to something« zu sein, sich mit Leidenschaft, mit Begeisterung einer Aufgabe zu widmen. Für deutsche Ohren wirkt das etwas zu sorglos. Denn wofür ist die Bereitschaft zur Hingabe offen, wenn nicht für ihren Missbrauch?
Keine Frage, Hingabe und Autonomie lassen sich nicht gegeneinander ausspielen. Es wäre fatal, die Bereitschaft zur Hingabe als Angebot zum Willensverzicht misszuverstehen. Doch ebenso wenig genügt es, ganz auf Selbstbehauptung zu setzen, auf die Artikulation des eigenen Willens. Denn wie wir sehen werden, ist Hingabe die grundlegende, ja unverzichtbare Fähigkeit, sich für etwas einzusetzen. In meinem Leben kann es nur um etwas gehen, wenn ich bereit bin, Rollen zu übernehmen, Aufgaben, eine Verantwortung. Wenn ich bereit bin, mich auf Formen einer zumindest minimalen Beteiligung einzulassen. Solange ich nicht involviert bin, mich zu nichts entschieden habe, mich keiner Sache widme, kann ich auch nicht beurteilen, wohin mich mein Lebensweg führen wird. In diesem Falle könnte ich gar nicht sagen, was es heißen soll, meinen eigenen Willen einzusetzen. Wie soll ich auf meinen Wünschen bestehen, wenn ich gar nicht weiß, was ich in meiner Welt tun kann, um mir diese Wünsche zu erfüllen? Wo will ich dabei sein - und wo nicht? Woran will ich mitwirken -...
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