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Der graue Puma, wie der Schriftsteller Erich Maria Remarque seinen geliebten Lancia nannte, spuckte und stotterte bereits hinter Cannes. Es war ein herrlicher Sommertag, tiefblau und durchsichtig wie eine Flasche Evian, der 20.August 1939.
Ein Tag, um das Tempo rauszunehmen, ruhig durchzuatmen und das majestätische Licht Südfrankreichs Ende August zu genießen.
Aber Remarque hatte es eilig.
Auf dem Beifahrersitz saß ein Teenager, die vierzehn Jahre alte Maria Sieber, einzige Tochter der deutschen Schauspielerin Marlene Dietrich. Die Diva war die Geliebte Remarques, von ihm ebenfalls zärtlich »Puma« genannt. Damit es nicht zu Verwechslungen kam, unterschied Remarque die Pumas nach Farbe. Der graue Puma, das war der Lancia. Das goldene Puma, das war der Kosename für den größten deutschsprachigen Filmstar des 20. Jahrhunderts.
Dietrich drehte gerade in Hollywood ihren ersten Western, aber ihre Gedanken kreisten um ihre Tochter und Remarque in Frankreich, die sie beide in Sicherheit bringen wollte. Die Diva hatte Tickets für die beiden auf der Queen Mary buchen lassen, einem jener Luxusdampfer mit Tanzsaal, Swimmingpool, Orchester und weißen gestärkten Tischdecken. In zehn Tagen, am 30.August, sollte die Queen Mary ablegen - von Cherbourg.
Aber jetzt spuckte und stotterte der graue Puma, und bis Paris, dem Etappenziel des folgenden Tages, waren es noch gut 900Kilometer.
Remarque versuchte, die Contenance zu wahren. Fluchen verbot sich. Was sollte Marlenes Tochter, der Teenager auf dem Beifahrersitz, denken? Die Nachrichten waren schlimm genug, die Gerüchte noch schlimmer.
Hitler war vor anderthalb Jahren in Österreich einmarschiert, vor sechs Monaten in Prag. Das Münchener Abkommen, der Höhepunkt des Wegduckens der Westmächte, war mit deutschen Panzern auf dem Wenzelsplatz obsolet. Remarque war radikaler Pazifist, aber München war Irrsinn gewesen. Dazu die aggressive Hochrüstung in Deutschland, die Umstellung der Wirtschaft in Richtung eines großen Krieges. Ein Land in Uniform, voller Wut und Fackeln. Schließlich der Nichtangriffspakt zwischen Hitler und Stalin. Die beiden Diktatoren beschlossen darin in einem geheimen Zusatzabkommen, die Landkarte Polens in Stücke zu reißen. Es war wie ein Countdown. In die falsche Richtung. In die Katastrophe.
Neulich hatte der Autor des Weltbestsellers und Antikriegsromans »Im Westen nichts Neues« noch gesagt: »Als ich vor 20 Jahren im Krieg dies schrieb, wollte ich die Welt retten. Vor ein paar Wochen in Porto Ronco sah ich wieder einen Krieg heraufziehen, aber ich dachte nur daran, meine Gemäldesammlung zu retten.«
Remarque rang mit sich hinterm Steuer. Die Gemäldesammlung, bestehend auch aus all dem, was die Nazis als entartet verhöhnten und bekämpften - seinen van Gogh, den Cézanne, den Picasso -, sollte auf dem Weg nach Amerika sein, aber Maria Sieber, von Marlene »das Kind« oder »Kater« genannt, saß mit ihm in einem Auto, das den Geist aufzugeben drohte.
Um sich selbst hatte Remarque im Gegensatz zu vielen anderen Exilanten, die sich nun erneut aufmachen mussten, keine Angst. Wäre es nach ihm gegangen, wäre er noch in Europa geblieben, wäre er noch nicht nach Amerika geflüchtet. Gleich nach der Machtübernahme, 1933, war sein Haus im Tessin eine Anlaufstelle für jene geworden, die versuchten, sich vor Hitler in Sicherheit zu bringen. Einer davon, der jüdische Journalist Felix Manuel Mendelssohn, wurde in Remarques Garten getötet. Eine Verwechslung, hieß es sofort. Mit ihm, dem Hausherren. Remarque hatte weiter Flüchtlinge unterstützt. Liebe deinen Nächsten. Gerade, wenn denen das Leben um die Ohren fliegt.
Remarque schraubte am Vergaser, suchte eine Werkstatt auf, aber das Stottern und Spucken des Lancias hielt an. Schließlich hob er die Haube des Motors an der Seite an, damit der mehr Luft bekam. Die Sicht durch die Windschutzscheibe war nun schwierig, aber Remarque klagte nicht.
Übernachtung in einem Notquartier. »Dicke gestickte Puffs auf der Erde«, schrieb er befremdet und amüsiert in sein Tagebuch, »eine etwas bucklige Besitzerin. Blumentapete. Ein Kimono. Die Toilette gezeigt. Verschwunden.« Am nächsten Tag ging es weiter Richtung Paris, das Land in einer finsteren Choreografie Richtung Abgrund. »Überall Eingezogene mit ihren Köfferchen. Viele Pferdetransporte. Farbige Soldaten. Abends fast gespenstisch. Wildere Nachrichten . Im Lichte der Scheinwerfer die dunklen Kolonnen. Die unruhig ergebenen Pferde in der Nacht. An der Straßenkreuzung von Fontainebleau ein riesiges weißes Kreuz - ein kreidig weißer Schimmel im Scheinwerferlicht. Die stillen Wälder. Der Mond fast voll unter den Ebenen, Matthias Claudius. Viele Gedanken.« So beschrieb Remarque die surreale Szenerie.
Als sie Paris erreichten, wurde die Stimmung nicht besser. Gerade noch die hängenden Köpfe der Bauern, die ihre Tiere an Stricken zogen, als ginge es ins Schlachthaus. Die Agonie der ausgelieferten Provinz lag jetzt hinter ihnen. Aber auch in Paris gingen die Lichter aus. Nicht allmählich, sondern auf Befehl und plötzlich.
In der ewigen Stadt des Lichts war wegen der Kriegsgefahr Verdunklung angeordnet. Remarque versuchte Maria auf dem Beifahrersitz zu trösten. »Noch nie in der neueren Geschichte hat Paris ihre Pracht verstecken müssen. Wir werden auf sie trinken und ihr alles Gute wünschen«, sagte Remarque. Er wollte in das Künstlerlokal Fouqet's am Champs-Élysées und dort seiner geliebten Stadt Adieu sagen. Hinter den knallroten Markisen wurden seit Jahrzehnten die Berühmtheiten jener Moderne hofiert, die die Nazis in Berlin hassten und bisweilen heimlich beneideten. Das Fouqet's war eine Zentrale des guten Lebens, des Charmes und der Ausgelassenheit, aber auch der Melancholie, der begüterten Flüchtlinge und manchmal jener, die wenig hatten. Es war ein Ort der Liebe und der Affären. Ein riesiges Durcheinander mit einem der besten Champagnerkeller der Stadt.
Remarque genoss die Weltläufigkeit des Orts - die entschlossene Grazie, mit der sich das Restaurant dem Schicksal entgegenstemmte. Fouqet's - das war sein Europa, ein funkelnder Platz jener Zivilisation, die nun vielleicht bald von Barbaren in feldgrauen und schwarzen Uniformen niedergewalzt werden könnte.
»Dies ist kein Friedensvertrag, es ist ein Waffenstillstand auf 20 Jahre«, hatte der Oberbefehlshaber der alliierten Truppen an der Westfront, General Foch, über den Deutschland demütigenden Vertrag von Versailles im Jahr 1919 gesagt. Nun sah es so aus, als ob er recht behalten sollte.
Auf das Jahr genau.
Ausgerechnet Foch, der 1929 im Alter von 77 Jahren eines natürlichen Todes in Paris verstorben war, nachdem auch er Hunderttausende von jungen Männern in sinnlosen Massenangriffen an der festgefahrenen Westfront des Ersten Weltkriegs geopfert hatte.
Ausgerechnet Foch, einer jener arroganten und knallharten Generäle auf beiden Seiten, gegen deren eitle Gewissenlosigkeit Remarque im Jahr 1928 »Im Westen nichts Neues« geschrieben hatte - jenen Roman, dessen Erstausgabe der Verlag mit dem Satz »Remarques Buch ist das Denkmal unseres unbekannten Soldaten - von allen Toten geschrieben« beworben hatte.
Als sie mit dem lahmenden Lancia entlang der abgeernteten Äcker in Richtung Paris gefahren waren, hatte Maria die Resignation in den Gesichtern der Landbewohner bemerkt und Remarque gefragt: »Wissen sie schon, dass sie geschlagen werden?«
»Ja, sie sind alt genug, um sich an den letzten Krieg zu erinnern«, antwortete Remarque. »Schau dir die Gesichter an, Kater. Denk daran: Der Krieg kennt keinen Ruhm, nur den klagenden Ton weinender Mütter.«
Remarque trug die Melancholie jenes Künstlers in sich, der den Ersten Weltkrieg, die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, als einer der Ersten jenseits von jeder verfälschenden Ideologie beschrieben hatte. Der blutgetränkte Boden der Westfront, die Fleischfetzen der Toten im Stacheldraht, die lauten und stummen Schreie der Schwerverletzten, deren bestmögliches Schicksal es war, den Rest des Lebens als Krüppel zu verbringen. Die Ohnmacht des Einzelnen, wenn er denn tatsächlich des Ruhmes wegen gekommen war, angesichts eines Krieges, der industriell geführt wurde.
All das erlebt und beschrieben zu haben, war bitter, gewiss. Noch bitterer aber war, dass trotz des Welterfolges seines Romans die Menschen nichts daraus gelernt hatten.
Am wenigstens, so schien es, seine Landsleute, die Deutschen. Und sollte es noch eine Steigerung von bitterer geben, dann vielleicht diese: In den Ersten Weltkrieg, argumentierten viele, seien die Deutschen noch schlafwandlerisch hineingestolpert. Aber was Hitler und seine Bande jetzt planten, war etwas ganz anderes: Nun sah es so aus, als hätte man es mit einem brutalen Überfall auf all jene fortschrittlichen Werte zu tun, die Europa in seiner Geschichte hervorgebracht hatte.
An deren Stelle sollte heimtückische Gewalt treten, für all jene, die nicht die Gnade genossen, als Deutsche oder wenigstens Arier eingeordnet zu werden. Für sie gab es nur eine Zukunft als Vasallen der Deutschen oder als deren Sklaven.
Oder den Tod.
Remarque hatte während der Monate zuvor in Paris immer wieder das Elend und die Not der Menschen gesehen (und später in seinem Roman »Arc de Triomphe« genau beschrieben), die bereits im Nachfrieden und Vorkrieg vor Hitler hatten die Flucht antreten müssen. Die Verzweiflung, in billigen Hotels mit abgelaufenen Visa auf ein Wunder zu hoffen, das einen doch noch mit einem Schiffsticket Richtung Nord- oder...
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