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Sechzehnter April 1815
Misericordias Domini
Cornelius Waldecks Magenknurren wurde vom Dröhnen der größten und am tiefsten klingenden Kirchenglocke übertönt. Er kam vom Krankenbesuch der Gräfin zu Gersdorf, die gar nicht krank war, sondern der es an Zuneigung mangelte. Ihre Schwermut konnte er nicht heilen. Wer nicht an Schwermut litt, galt nicht als zeitgemäß. Cornelius schüttelte den Kopf. Er begriff den Adel nicht, dessen einziges Leid darin bestand, adelig zu sein, wo doch das Bürgertum in Mode kam! Nein, ihr war nicht zu helfen. Eine Aufgabe brauchte sie. Cornelius hatte der Gräfin versprochen, sich ein Therapeutikum zu überlegen. In Therapie zu sein, war ebenso modern, wie die Schwermut. Aber Cornelius wusste, dass es nicht seine Aufgabe war, die Gräfin zu heilen, sondern die des Grafen.
Cornelius konnte sich gar nicht aufs Nachdenken konzentrieren, weil er ein Loch im Magen hatte. Der dünne Tee, den man auf dem Schloss anbot, füllte seine Blase, nicht seinen Bauch. Und es war reichlich unverfroren, dass der Schulze jetzt am frühen Nachmittag sein Wirtshaus noch immer nicht geöffnet hatte. Alles, was das verriegelte Gasthaus zu bieten hatte, als Cornelius daran vorbeikutschierte, war ein reichlich abgerissener Geselle, der auf der Bank davor lungerte und nicht den Eindruck machte, sich eine Mahlzeit leisten zu können.
Derweil überlegte sich Cornelius, womit seine Dienstmagd ihm wohl aufwarten würde. Die Ahnung des würzigen Duftes von mit Nelken bespicktem Schmorbraten ließ ihm das Wasser im Munde zusammenlaufen und er hätte wohlig vor sich hin gebrummt, wenn nicht nach einer scharfen Linksbiegung der Blick auf den Gottesacker freigeworden wäre.
»Armes Mädchen«, murmelte Cornelius. Er zog seinen breitkrempigen Hut vom Kopf, während er sich in gemäßigtem Tempo der Trauergemeinde näherte.
Nicht wenige Leute verrenkten sich den Hals nach ihm. Es war Cornelius unangenehm, für Aufsehen zu sorgen. Das entsprach nicht seinem Naturell. Eine Erinnerung, ein unangenehmes Dunkel in seinen Hirnwindungen hüllte seine Sinne ein. Er seufzte. Kein Schmorbraten vorerst, sondern die Beisetzung der Henriette Müller. Die hatte er glatt vergessen.
Das war eine unschöne Geschichte mit der Henriette Müllerin gewesen. Selbst soll sie es getan haben. Das war zumindest die einhellige Meinung. Nach der des Arztes hatte man nicht gefragt, nachdem man das Mädchen unter dem Wasserrad aus dem Kropf der Mühle, dem Mühlradbecken, geborgen hatte. Und Cornelius hatte in den letzten Tagen auch so viel mit der Gräfin von Gersdorf zu tun gehabt, dass er weder beim Pfarrer nachgefragt noch bei den Angehörigen der armen Müllerstochter vorbeigeschaut hatte. Und jetzt, sieh an, war sie schon unter der Erde. Oder zumindest demnächst. Müllers Vermögen sei Dank, durfte Tochter Henriette auf dem Gottesacker und nicht auf dem Schandacker ihre letzte Ruhe finden. Müllers Vermögen sei Dank schwieg man sich im Dorf geflissentlich darüber aus oder tuschelte allenfalls hinter vorgehaltener Hand darüber.
Cornelius stellte seinen Einspänner neben den Leichenkarren des Totengräbers ab und sprang behände vom Bock. Bemüht, dem lockeren Sand auf dem Vorplatz kein unanständiges Scharren zu entlocken, betrat er den Friedhof. Zweihundert Schritt über schüchtern sprießendes Gras führten ihn zwischen den Grabstätten entlang hin zur Menschenansammlung. Hier stellte er sich als Hausarzt der Toten in die hinterste Reihe.
Sie waren bereits bei der Fürbitte angelangt, murmelten das Vaterunser. Also hatte Cornelius das meiste verpasst. Ein Blick in die Runde sagte ihm, dass dem Mädchen beinahe das gesamte Dorf - eine Hundertfünfzigseelengemeinde - das letzte Geleit gab.
Einige bestimmt aus purer Gaffsucht und aus Langeweile - Hochzeiten waren zu selten, Geburten weniger aufregend als Beerdigungen. Einige andere aber waren aus tiefster Anteilnahme hierhergekommen. Doch mit Sicherheit waren die meisten in Gedanken bereits beim Leichenschmaus im Wirtshaus, das wegen der Beerdigung noch geschlossen war. Jetzt fügten sich die Zusammenhänge in Cornelius' Hinterstübchen und er seufzte abermals. Daraufhin drehte sich die Mälzerin Juliane nach ihm um, musterte ihn abschätzig unter ihrer tiefschwarzen Trachtenhaube von oben bis unten, murmelte eine Begrüßung, die der Arzt erwiderte, und wandte sich wieder nach vorn.
Cornelius folgte deren Blick und blieb verzückt an der kerzengeraden Gestalt der Magd Mathilde hängen. Kastanienbraune Locken waren ihrer Mädchenhaube entfleucht und wehten im auffrischenden Aprilwind, dessen Kälte an ihren Wangen kratzte, dass sie ganz rosig aussahen. Der volle Mund . »Und vergib uns unsere Schuld.« Ihr würde Cornelius alles vergeben! Er verbat sich solch unsittliche Gedanken in Anbetracht der Situation, in der man sich befand.
Vielmehr überlegte er, ob die Mathilde und die verstorbene Henriette Müllerin gute Freundinnen gewesen waren. Er kannte die eine wie die andere nur flüchtig als Arzt und Interessierter des dörfischen Geschehens. Er wusste nicht einmal Mathildes Nachnamen und als Patientin hatte er das Mädchen auch noch nicht begrüßen dürfen. Erst seit Jahresbeginn war sie im Dienste des Erdmann Schulze. So viel wusste er. Und beim Schulze dürfte es eine jede Magd nicht gerade leicht haben. Wo war eigentlich die andere Magd, Gertrude? So sehr Cornelius seine nicht gerade hochgeschossene Gestalt auch reckte, Gertrude Baumert befand sich nicht unter den Trauernden.
». und wenn dein Glaube tief und inniglich war«, schwappte nach vollendetem Gebet die sonore Stimme des Pfarrers zu Cornelius herüber, »wenn du treulich dem Gottessohn in Sinnen und Taten zugetan, so wird dir die himmlische Gnade ewiglich sicher sein. Erster Johannes, fünf, dreizehn.« Pfarrer Lichtenloh hielt kurz inne und fügte in etwas kecker Manier hinzu: »Nichts kann einen ehrlichen Christenmenschen von der Liebe Gottes trennen, nicht einmal der Selbstentleibung.« Das erstarkende Murmeln ringsum übertönte er mit dem Abschluss der Exequien: »Wer an mich glaubt, wird leben, sprach Jesus«, und gab Erde zu Erde, Asche zu Asche auf den Sarg.
Seit man nicht mehr des Nachts, sondern am helllichten Tag beerdigte, war es eine sündhaft teure Angelegenheit geworden, überlegte Cornelius, während er beobachtete, wie Gustav Müller an die Grube trat und eine Schaufel Erde auf seine Tochter rieseln ließ. Sprachlos. Keine Worte. Das Schluchzen der Müllerin Elsa sprach für ihn mit.
Cornelius schüttelte sachte, aber ehrlich mitfühlend den Kopf über das Unbegreifliche: Selbsttötung eines so behüteten Mädchens?
*
Das Wirtshaus fand Jakub verschlossen vor. Nicht einmal die Schiebeläden waren geöffnet worden, obwohl es bereits Mittag war. Seine Füße schmerzten entsetzlich und sein Magen knurrte. Sein Magen knurrte so laut, dass er gar nicht an die Tür zu klopfen brauchte. Er tat es aber trotzdem. Nichts rührte sich. Jakub trat einen Schritt zurück, um die Fenster im Obergeschoss besser sehen zu können. Auch da war alles verrammelt. Er erschrak fürchterlich, weil plötzlich eine sehr tiefe Glocke zu läuten begann. Das konnte nur die Totenglocke sein, überlegte er, weil das Geläut mehrere Minuten anhielt und der Gottesdienst eigentlich längst vorbei sein müsste.
Jakub war absichtlich zu dieser Tageszeit im Dorf erschienen: nach dem Gottesdienst, pünktlich zum Mittagsmahl. Aber hier gab es kein Mittagsmahl. Wo waren bloß alle? Jakub sah sich abermals um. Die Haustür trennte den Schankraum zur einen Seite von den Stallungen auf der anderen, wie es üblich war und wie es Jakub aus seiner Heimat kannte.
Und mit einem Male wurde ihm bewusst, dass er nach zweieinhalb Jahren der Wanderung endlich wieder ganz nahe seiner Heimat angelangt war. Er ließ den Blick schweifen. Dort hinter dem Lausitzer Gebirge lag das Böhmische Niederland, sein Sluknovský výbezek, seine Heimat. Jakubs Herz machte einen Satz. Noch sechs Monate, dann war die Muth vorbei und er konnte dieses wendische Land mit all seinen Merkwürdigkeiten verlassen und endlich ins Böhmische Niederland heimkehren. Er schaute sich um. Ihm war es nicht gleich aufgefallen, doch sah hier alles schon sehr nach zu Hause aus: die Bohlenstuben zur Linken, die Ställe zur Rechten; und auch der mit Lehmstumpfwerk eingefasste Türsturz mit der Jahreszahl und den Initialen des Erbauers.
Entschlossen zu warten, dass jemand die Schenke öffnete, nahm Jakub auf einer Bank zwischen den Rähmbohlen Platz. Irgendwer musste ja hier sein, immerhin standen die Fenster der Stallungen weit offen und ließen den beißenden Dunggeruch in die Welt hinaus. Durch die Löcher seines Wamses pfiff der scharfe Aprilwind, dem die kargen Sonnenstrahlen noch nichts entgegnen konnten.
Nachdem die Totenglocke verstummt war, die Vögel zum Gottgefallen zwitscherten, musste Jakub eingenickt sein, denn das Knirschen von Wagenrädern auf dem lockeren Sand der Schankauffahrt weckte ihn auf.
Ein Einspänner zog seinen Kreis vor dem Gasthof, ein verdrießlich dreinblickender Bürgerlicher, mit feinstem waidblauem Zwirn auf den schmalen Schultern und unverschämt breitem Krempenhut über den langen Koteletten auf dem blassen Männergesicht, schaute unter mitleiderregend schrägen Augenbrauen zum Wirtshaus herüber. Der Mensch hatte recht viele Silberknöpfe an seiner Sonntagstracht, überlegte Jakub. Er selbst hatte nicht einen! Und dementsprechend wurde er vom anderen gemustert - teils neugierig, teils abschätzig -, bevor der seinen Einspänner wendete und wieder von dannen zog.
»Ts!«, grinste...
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