Schweitzer Fachinformationen
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Erik wurde nicht von Sonnenstrahlen geweckt. Nicht von Janno, der mit seinem Spielzeug um sich warf, und nicht von Drago, der sich breitmachte, sondern vom Horn des Kriegers Arndis.
Erik lag auf der Seite, wie er es die ganze Nacht getan hatte. Fjäders Rücken an seiner Brust, ihr Gesäß zwischen seinen Beinen.
Der Klang des Horns erschallte weit über den Wall der Burg, weit über den Oberuckersee. Es war nicht der Ruf eines Mannes, der zu einem Fest, sondern der eines Kriegers, der zum Aufbruch in die Schlacht rief.
Erik fragte sich, wer jenseits der Ringburg lauerte, jetzt das Horn Arndis’ hörte und ebenso vor Anspannung erstarrte wie er selbst. Die Siedlung seines Volkes am jenseitigen Ufer des Oberuckersees lag verlassen da. Sie waren vor Tagen dem Ruf des Ukranenfürsten Kn?z Luka? gefolgt. Es waren wenige Tage gewesen, die sich wie Monate anfühlten.
Janno begann zu schreien. Jurena setzte sich auf. Ihre müden Augen begegneten Eriks Blick. Sie schaute zu Fjäder, ihrer Tochter, und wieder zu Erik. Fjäder rührte sich nicht. Erik sah, dass sie vor sich hinstarrte.
Jurena legte den weinenden Jungen an die Brust. Er beruhigte sich sofort. Fjäder, Bronja, Sybila, Drago und Fran räkelten sich, aber niemand in der Hütte sagte etwas. Arndis’ Horn ertönte abermals. Wie eine Stele lag Fjäder da. Ihr Gesicht war blass wie Birkenrinde. Sie hatte es geahnt. Nun war es so weit.
Zwischen den Hütten des inneren Zirkels versammelten sich die Menschen. Die waffenfähigen Männer legten ihre Rüstungen an, schnallten die Wehrgehänge um ihre Hüften, schulterten Äxte, ließen ihre Faustschilde neben ihren Beinen baumeln. Sie hielten die Schlachtenhammer und Streitkolben umklammert, nicht kampfbereit, sondern müde. Die Kriegsfahnen der vier Himmelsrichtungen zuckten aufgeregt auf dem Wehrgang der Burg. Živas1 auf Leinen gemaltes Gesicht war zerknittert.
Drago, Eriks jüngerer Bruder, wich ihm nicht von der Seite, während Erik in dem Getümmel nach Wladock oder irgendeiner Seele suchte, die Nachtwache gehalten hatte und ihm etwas würde sagen können. Er fand ihn auch. Auf Wladocks Hüfte saß die plärrende Wanja. In Wladocks Arm lag Bronja, Eriks Schwester. Sie weinte leise und zerrte den neunjährigen Drago an sich, der ganz verunsichert dreinschaute.
Hier wusste niemand nichts und alle dasselbe. Bronja fand in Fjäder eine verständnisvolle Trösterin. In einem Arm die krakeelende Wanja, im anderen die schluchzende Bronja machte Fjäder nicht den Eindruck, als dächte sie viel über ihren eigenen Schmerz nach.
Arndis’ röhrendes Horn und die dröhnende Pauke des Potzlower Helmslaw zogen jetzt die Aufmerksamkeit der Menschen auf sich. Erik sah Kasimir, den Späher, beim Fürsten Kn?z Luca?, dem Priester Attala und dem Krieger Arndis stehen. Sie warteten auf Stille im kreisrunden Burghof.
„Malchow am Tollensesee ging vergangene Nacht in Flammen auf.” Der Fürst hatte eine Ehrfurcht gebietende Stimme.
Das Holz des Ringwalls, an dem sie widerhallte, verlieh ihr etwas Dunkles, beinahe Furchteinflößendes. „Es hat sich keine einzige Tollenser Seele retten können.”
Erik spürte Fjäders Hand in der seinen.
„Der Tempel des Radigast2 ist entehrt und dem Erdboden gleichgemacht.”
Fjäders Finger, die zwischen die seinen glitten.
„Das Kreuzfahrerheer hat sich geteilt, und ein Zug von etwa dreitausend Christen ist auf dem Weg nach Brenszla.”
Ihr Daumen, der seine Handfläche streichelte.
„Wir, das heißt Arndis, Helmslaw und ich, werden nun die Truppen derer zusammenstellen, die mit hinausgehen, und derer, die hier Wache halten.”
Aber bevor Kn?z Luca? und die Krieger Arndis und Helmslaw das taten, verlangten sie von den Frauen, Kindern und Greisen, sich in die Hütten zurückzuziehen. Niemand rührte sich vom Fleck. Fjäders Händedruck wurde fester. Nicht eine Ehefrau, Tochter, Schwester oder Mutter, nicht einer der alten Menschen, die mehr gesehen hatten als Kn?z Luca?, Helmslaw oder Arndis mit seinen fünfunddreißig Jahren. Niemand wich von der Stelle. Eriks Finger knackten.
Arndis begann nun die Männer aufzurufen, die sich in den verschiedenen Himmelsrichtungen in bestimmte Stellungen begeben sollten. Man nannte Namen, auf deren Klang erstickte Ausrufe, verhaltenes Schluchzen und gedämpfte Worte des Trostes folgten.
Die Fischersoldaten und Bauernkrieger packten ihre Streitäxte, ihre Speere, ihre Lanzen, ihre Schilde und stellten sich auf. Als sie vollzählig waren, stapften sie drauflos, durch das südliche Burgtor und weiter, bis sie im Krieg angekommen sein würden.
Für die Vorhut im Nordosten wurden Eriks Vater, Danilo, und Fjäders Vater, Bogdan, abgestellt. Erik spürte Fjäders kurzes Schaudern, als ihr Vater sich von ihr verabschiedete.
Erik wusste in dem Moment, da Bogdan seiner ältesten Tochter einen Kuss auf die Stirn gab und ihm selbst freundschaftlich die Hand auf die Schulter legte, dass er ihn nie wiedersehen würde. Er sagte nichts, sah nur zu, wie Bogdan mit den anderen den Burghof verließ.
Arndis war noch lange nicht fertig: „Im Osten werde ich selbst vorstehen. Mit mir ziehen der Fischer Bogomir, Janno der Potzlower, … Petter von Potzlow, Borislaw, Erik …”
Eriks Herz stolperte. Fjäders Händedruck schmerzte. Sie hielt den Atem an.
„… der Potzlower.”
Fjäder atmete langsam aus.
Arndis zählte weiter: „Miloslaw, Nikla? der Potzlower, … Erik … vom Oberuckersee.”
Jetzt war Erik es, der den Atem anhielt. Fjäders Hand sank schlaff hinab. Sie starrte vor sich hin. Keine Träne.
Erik beugte sich zu ihr hinunter und bedeckte ihre Lippen mit den seinen. Sie war wie versteinert. Sie rührte sich nicht.
„Sag was”, flüsterte er. Er wollte nicht so gehen. Er wollte ihre Stimme hören. Nur ein Wort.
Das Mädchen löste sich aus ihrer Starre und kramte in der Rocktasche nach etwas. Es war ein Stück Holz, das an einem Lederband baumelte. Erik erkannte einen dreiköpfigen Jarovit3, geschnitzt in ein Stück Eichenholz. „Siehst du …”, sie fischte unter dem Ausschnitt ihres Kleides den kleinen Anhänger mit der Mokoš?4 hervor, den Erik ihr vor Jahren geschenkt hatte, „…wir werden beschützt.” Ihr Blick ruhte traurig in dem seinen. „Komm zurück auf deinen eigenen Füßen!” Der Klang ihrer Worte passte nicht zu dem Blick ihrer Augen.
Erik nickte. Als Nächstes spürte er ihre Lippen auf seiner Wange. Und dann Wladock, der ihm den Kolben der mit Schlangen und Stierköpfen verzierten Axt gegen die Brust drückte. Dass Wladocks Name gefallen war, hatte Erik nicht mitbekommen. Bronja klammerte sich an Fjäder. Fjäder starrte Erik an. Erik wurde von Wladock zu Arndis gezogen. Er nahm die Ereignisse auf wie die aus dem Leben eines anderen. Im Vorbeigehen wuschelte er seinem kleinen Bruder über den Schopf.
Erik hatte kein Ohr für das Weinen der Frauen, für die ermutigenden Worte der Männer. Er sah sich nicht um, als er seine Axt schulterte. Den Schild schleifte er mit und trottete hinter Arndis, seinem Kriegsführer, her.
Er würde zurückkommen, da war er sich sicher: Entweder zu Fuß und lebendig oder als Toter auf dem Karren, den Arndis jetzt durchs nördliche Burgtor lenkte.
Die Deutschen brauchten höchstens zwei Tage von Malchow bis Brenszla, das wusste Erik. Er hatte die Handelsstraße, die bis nach Magdeburg führte, viele Male befahren. Er zählte die Stunden, die vergingen, während sie mit nichts als ihren Gedanken im Sumpf lauerten, versuchten zu essen und zu schlafen und sich bemühten, nicht vor Anspannung zu bersten.
„Bolek ist der beste Bogenschütze aller Ukranen.” Wladock ließ sich neben Erik ins Moos plumpsen und lehnte sich gegen die ausgespülten Wurzeln einer Linde. „Wirst schon sehen, mein kleiner Bruder passt auf unsere Mädels auf.” Boleslaw durfte auf dem Ringwall der Burg wachen. Erik beneidete den jungen, ernsten Burschen beinah.
Wladock reichte ihm einen Wasserkrug. Erik wusste nicht, ob sie den ersten Tag oder den zweiten, vielleicht schon den dritten am Rande des Moores dicht an der Straße nach Seehausen die Stellung hielten. Irgendwann hatte er jedes Zeitgefühl verloren. Die Späher, die in die östlichen Sümpfe ausgesandt worden waren, hatten nichts von sich hören lassen.
Sie waren ein ordentlicher Haufen wacher Krieger. Erik wusste, dass Arndis so junge Burschen wie ihn und Wladock in seine Truppe genommen hatte, damit er auf sie achtgeben konnte. Er hatte die unerfahrenen Krieger in die Osttruppe genommen, weil der Späher Kasimir von einem Angriff von Westen her gesprochen hatte, weil es nicht sicher war, ob die Ukranen von Osten her etwas zu befürchten hatten. Und während sein Vater Danilo und Fjäders Vater Bogdan die gefährlichen Wachposten am Brückenkopf übernahmen, verkrochen sich die Jungen im östlichen Sumpf, verschanzten sich in den Wäldern vor Seehausen, das verlassen und vereinsamt in der Landschaft lag.
Die Zeit hatte die schmale Sichel des Mondes mit hellem Weiß ausgefüllt. Der Halbmond prangte in der Sternenkonstellation des Fischernetzes über dem Sumpfland, als Petter von Potzlow schwer atmend zum wartenden Haufen gerannt kam. Er war verschwitzt von oben bis unten, keuchte und seine Augen blitzten, als er Arndis...
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