Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
In diesem Buch analysiere ich die sehr kleinräumig aufgeschlüsselten Wahlergebnisse von Bundestagswahlen: einen riesigen Datenschatz, der bisher nur selten analysiert worden ist. Die Ergebnisse der Bundestagswahlen werden seit 1983 separat für alle Stimmbezirke veröffentlicht.97 Die Analysen dieses Buchs fokussieren auf die Wahl 2021, bei der es über 66.000 Stimmbezirke für die Urnenwahl und fast 28.000 Stimmbezirke für die Briefwahl gab.
Wie bei aller räumlichen Forschung, die amtliche Daten verwendet, gilt auch hier: Die räumliche Abgrenzung der einzelnen Stimmbezirke richtet sich nach administrativ-praktischen Kriterien und nicht danach, was sich am besten für soziologische Auswertungen eignen würde. Jede Gemeinde kann selbst entscheiden, wie sie ihre Stimmbezirke für die Urnen- und Briefwahl zuschneidet, und es gibt kein bundesweites Register all dieser Zuschnitte. Manche größeren Städte veröffentlichen die genauen geografischen Abgrenzungen ihrer Stimmbezirke, beispielsweise Köln, Leipzig und Berlin. Diese Informationen nutze ich, um in Kapitel 9 detaillierte Wahlkarten zu zeigen. Für manche Gemeinden findet man die Adressen der jeweiligen Wahllokale online, aber auch hierzu gibt es kein bundesweites Register. Einzelne Gemeinden hatte ich angeschrieben, um mehr über die Abgrenzung einzelner Stimmbezirke zu erfahren, und als Antwort hatte ich unter anderem eine Liste mit Straßenzügen sowie den Scan eines per Hand ausgemalten Stadtplans erhalten.
Bei dieser Datenlage ist es nicht möglich, Stimmbezirke für die Urnen- und Briefwahl einander eindeutig zuzuordnen.98 Das hat auch zur Folge, dass ich die Wahlbeteiligung nicht auf Ebene der Stimmbezirke berechnen kann. Ich sehe in den Daten zwar, wie viele wahlberechtigte Menschen in einem Urnenwahlbezirk wohnen und wie viele davon per Urne gewählt haben; bei den »fehlenden« Stimmen weiß ich aber nicht, ob die Wahlberechtigten per Brief abgestimmt oder nicht gewählt haben. Für Einschätzungen der Wahlbeteiligung greife ich daher auf höhere geografische Ebenen zurück. In jedem Fall kann ich die Wahlbeteiligung auf Ebene der Gemeinden berechnen und in manchen Fällen auch auf Ebene der Stadtteile.
In den Fällen, in denen ich einzelne Nachbarschaften heraushebe und beschreibe, beziehe ich mich auf Stimmbezirke für die Urnenwahl. Diese sind feingliedriger und von der Größe her zwischen Gemeinden eher vergleichbar. Auch die detaillierten Wahlkarten für Köln, Leipzig und Berlin basieren auf den Urnenwahlergebnissen. Für zusammenfassende Analysen, wie Vergleiche zwischen Gemeinden unterschiedlicher Größe oder zwischen Bundesländern, analysiere ich den gesamten Datensatz, der sowohl die Stimmbezirke der Urnenwahl als auch der Briefwahl enthält.99
Hier ein Vergleich, um die Zahl der Stimmbezirke für die Urnenwahl besser einschätzen zu können: In Deutschland gibt es ungefähr 15.000 Grundschulen und 60.000 Kindergärten. Grob gesagt ist ein Stimmbezirk für die Urnenwahl also deutlich kleiner als das Einzugsgebiet einer Grundschule und etwa so groß wie das Einzugsgebiet eines Kindergartens. In Berlin gibt es über 2.200 solcher Stimmbezirke, in Köln über 500 und in Leipzig über 400. Kleine Dörfer mit weniger als 500 Einwohnerinnen und Einwohnern bestehen in der Regel nur aus einem einzigen Urnenwahl-Stimmbezirk. In Städten sind Stimmbezirke deutlich kleiner als Stadtteile, in Köln enthält der durchschnittliche Stadtteil zum Beispiel sechs Stimmbezirke. Diese Stimmbezirke sind die Einheit, die ich in diesem Buch als Nachbarschaft bezeichne.100
Mit diesen Wahldaten können wir etwas über die Menschen in den verschiedenen Nachbarschaften erfahren. Generell ist es für die Sozialwissenschaften oft interessant zu wissen, was Menschen denken, welche Meinungen und Einstellungen sie haben. Will man etwas darüber herausfinden, wie sich solche Haltungen zwischen Regionen, Städten oder gar Ortsteilen unterscheiden, läuft man aber schnell gegen eine Wand der praktischen Unmöglichkeit. Nehmen wir als Beispiel den großen und für die Sozialwissenschaften essenziellen Datensatz Sozio-oekonomisches Panel. Hierfür werden pro Jahr ca. 30.000 Menschen befragt. Selbst aus einer Großstadt mit 100.000 Einwohnern wären dann im Durchschnitt weniger als 40 Befragte dabei - viel zu wenig, um auch nur annähernd verlässliche Aussagen über die Einstellungsverteilung in einer bestimmten Stadt zu treffen. Aussagen über kleine Städte oder Unterschiede zwischen Ortsteilen sind ausgeschlossen.
Soweit mir bekannt ist, sind die Wahldaten, die ich für dieses Buch analysiere, die einzige der Wissenschaft zugängliche Quelle, um auf derart kleinräumiger Ebene einen gewissen Blick in die Köpfe der Menschen zu ermöglichen. Umso erstaunlicher ist es, dass dieser Datenschatz bisher nur selten ausgewertet wurde.
Gehen wir noch mal zu dem Gedankenspiel der Einleitung zurück. Stellen wir uns die deutsche Wahlbevölkerung als Nachbarschaft mit 100 Wählerinnen und Wählern vor. 26 davon wählen die SPD, 24 die Union, 15 die Grünen und so weiter. Würde es diese Nachbarschaft tatsächlich geben, dann wäre sie maximal typisch. Würden von den 100 Wählerinnen und Wählern etwa 100 Stimmen an die SPD gehen, dann wäre das eine ziemlich untypische Nachbarschaft; würden die 100 Stimmen alle an eine kleinere Partei wie die 1%-Partei »dieBasis« gehen, dann wäre diese Nachbarschaft noch mal deutlich untypischer und weiter vom Bundestrend entfernt. Das ergibt auch intuitiv Sinn: Um eine 100%-SPD-Nachbarschaft in eine politisch typische Nachbarschaft umzuwandeln, müssten 74 Wählerinnen und Wähler umziehen; 26 könnten dortbleiben. Um die 100 % »dieBasis«-Nachbarschaft zur typischen Nachbarschaft umzuwandeln, könnte nur eine Wählerin oder ein Wähler dortbleiben - der Rest müsste umziehen.
Das statistische Maß für typisch und untypisch, das ich verwende, ist ein sogenannter lokaler Segregationsindex, der Mutual Information Index.101 Lokal heißt, dass ich nicht eine Zahl berechne, um das Niveau an Segregation in Deutschland insgesamt zu beschreiben, sondern ich berechne für jede Nachbarschaft einen eigenen Wert. Am niedrigsten ist die lokale Abweichung vom Bundestrend dann, wenn die Stimmanteile aller Parteien in der Nachbarschaft und im Bund insgesamt identisch sind. Am höchsten wäre die lokale Abweichung dann, wenn die Partei, die national den geringsten Stimmenanteil hat, in der Nachbarschaft 100 % der Stimmen erhält.
Unter den Nachbarschaften mit geringer Abweichung haben alle ein sehr ähnliches Wahlverhalten, weil alle das Bundeswahlergebnis widerspiegeln. Unter den Nachbarschaften mit mittlerer oder hoher Abweichung könnten sich aber ganz unterschiedliche Wahlmuster verstecken. Die eine Nachbarschaft weicht dann vom Bundestrend ab, weil die Linke oder die Grünen dort außergewöhnlich groß sind, die andere, weil dort die AfD oder eine unter »Sonstige« zusammengefasste Kleinpartei außergewöhnlich viele Stimmen bekommt.
Für die Berechnung der Abweichung werden alle Parteien, die in der jeweiligen Wahl bundesweit mindestens 1 % der Stimmen erhalten haben, als eigenständige Parteien analysiert. Alle Parteien, die weniger als 1 % der Stimmen bekommen haben, werden unter »Sonstige« zusammengefasst. Durch die Struktur des Segregationsmaßes würden Abweichungen bei extrem kleinen Parteien sonst übermäßig ins Gewicht fallen. Hier eine Grenze zu ziehen und sehr kleine Gruppen zusammenzufassen, entspricht also der typischen Herangehensweise.
Ich habe verschiedene Versionen durchgerechnet und verglichen. Die Frage, ob und wo man diese Grenze setzt - nimmt man die 5%-Bundestagsgrenze, 1 % oder etwa nur 0,1 %? -, beeinflusst Details der Ergebnisse. Was würde sich also ändern, wenn man auch Kleinstparteien ...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.