Schweitzer Fachinformationen
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Die Schicht hatte um 19 Uhr gewechselt. Zielke und Tanja Hohmann hatten noch bis gegen 22 Uhr gearbeitet. Als sie gingen, waren ihre Gesichter grau und ihre Bewegungen müde. Das lag nicht nur daran, dass sie ohne Pause durchgearbeitet hatten, es lag auch an der Erfolglosigkeit ihrer Bemühungen. So hatte es sich zum Beispiel schnell erwiesen, dass das Perückenhaar, das Gächter bei Madlung mitgenommen hatte, nicht zu jenem passte, das Schober bei der Kinderleiche gefunden hatte. Gächter bestand dennoch darauf, den Musiklehrer weiter im Auge zu behalten.
Auch die anderen Ermittlungen hatten sie noch keinen Schritt weitergebracht. Immer mehr Hinweise aus der Bevölkerung waren eingegangen. Manche schienen etwas zu versprechen und entpuppten sich dann doch als Fehlspur. Andere waren so abstrus, dass kein Beamter ihnen nachgegangen wäre, wenn Bienzle nicht darauf bestanden hätte.
Bienzle hatte gegen 23 Uhr den Raum der Sonderkommission verlassen und gesagt, er werde in seinem Büro noch weiterarbeiten.
Dort saß er nun. Nur eine Schreibtischlampe brannte und zeichnete einen hellen Lichtkreis auf die Tischplatte. Bienzle war unruhig. Er schob fahrig die Berichte seiner Mitarbeiter auf dem Schreibtisch hin und her, nahm einen in die Hand, las die ersten Sätze und legte das Papier wieder weg. »Trostlos«, stieß er plötzlich hervor, und er wusste selber nicht, ob er die Ermittlungen meinte oder seine eigene Situation. Bienzle stand auf, ging zum Fenster und riss es auf. Aber es drang nur schwere schwüle Luft herein. Der Kommissar lief im Zimmer auf und ab wie ein gefangenes Tier in seinem Käfig. Er trat mit dem Fuß gegen ein Stuhlbein. »Wenn man wenigstens einen Anfang hätte, irgendetwas, irgendeinen Punkt, von dem aus man weiterdenken könnte.« Er blieb stehen und drückte die Handballen in die Augenhöhlen. »Jetzt schwätz i scho mit mir selber!«
Natürlich konnte es Kai Anschütz gewesen sein. Bienzle ärgerte es, dass er selbst nicht daran glauben konnte. Grossmann hatte ja womöglich Recht.
Bienzle schloss das Fenster wieder, nahm seinen Hut vom Haken und wollte gerade das Zimmer verlassen, als Gächter hereinkam. »Grossmann hat Anschütz verfolgt«, sagte der Kollege.
»Ja, ich hab's gesehen.«
»Aber Anschütz hat ihn abgehängt. Sein Kumpel, der ihn mit dem Motorrad abgeholt hat, ist beim Leuzebad über die Fußgängerbrücke auf den Cannstatter Wasen hinüber .«
»Mit dem Motorrad?«
»Der Typ ist Motocross-Fahrer - genau wie Anschütz.«
»Und woher wissen wir das?«
»Grossmann hat es Schreitmüller erzählt. Die beiden sind gute Freunde.«
Bienzle nickte. Das wusste er. Aber er hatte es nie verstanden. Grossmann war ein emsiger Arbeiter, zielorientiert, stur und darin Bienzle gar nicht so unähnlich. Niederlagen konnte er nicht akzeptieren. Das unterschied ihn freilich von Bienzle. Aber Grossmann war ein guter Ermittler. Schreitmüller dagegen war über den Rang des Oberkommissars nie hinausgekommen. Das lag vor allem daran, dass man sich auf das, was er sagte, nie verlassen konnte. Schreitmüller, gut 1,90 Meter groß und viel zu schwer, musste sich immer in Szene setzen. Für einen guten Spruch, der ihm die Aufmerksamkeit der Kollegen einbrachte, nahm der Schwadroneur jede Lüge in Kauf. Kaum hatte jemand begonnen, etwas zu erzählen, nahm Schreitmüller ihm das Wort aus dem Mund und trumpfte mit eigenen Erlebnissen auf. Als Gächter zum Beispiel nach einer Kuba-Reise erzählt hatte, wie viel Elend er dort gesehen habe, fuhr Schreitmüller dazwischen: »Son Quatsch. Die Leute dort sind immer gut drauf. Die singen und tanzen und sind vierundzwanzig Stunden am Tag fröhlich. Hab ich mit meinen eigenen Augen gesehen. Ich hab ja selber mitgetanzt.«
Tatsächlich hatte der Oberkommissar die halbe Welt bereist. Seine ganzen Ersparnisse gingen für seine touristischen Abenteuer drauf. Aber er war der lebende Beweis dafür, dass Reisen nicht unbedingt bilden muss. Schreitmüller reiste stets nur mit geführten Gruppen. Und wenn er zurückkam, wusste bald jeder Kollege, wie viel Biere er in Burma getrunken hatte oder welchen angesehenen mitreisenden Professoren er wieder einmal erklärt hatte, wie die Verhältnisse in dem Gastland wirklich waren. Dabei konnte er durchaus auch witzig sein. So erklärte er den Kollegen schon mal so ganz nebenbei: »Der Columbus, das war doch 'n Trottel, der hätte vor Madeira nur links abbiegen müssen, dann hätte er Indien gefunden. Die dort haben doch schon auf ihn gewartet.«
Dass Schreitmüller seiner Sonderkommission zugeteilt worden war, empfand Bienzle als Strafe. Bei den Besprechungen ließ er ihn bewusst links liegen. Grossmann hatte es deshalb sicher leicht, den Kollegen Schreitmüller anzuzapfen, um stets über den Stand der laufenden Ermittlungen informiert zu sein.
»Ich geh noch mal bei dem Grossmann vorbei«, sagte Bienzle zu Gächter.
»Was denn, jetzt noch?«
»Warum nicht. Der kann genauso wenig schlafen wie ich.«
Gächter sah Bienzle ins Gesicht. Dessen Augen waren von den schweren Lidern halb bedeckt. Auf seinen Wangen hatten sich tiefe Furchen eingegraben, die Gächter bisher noch nie aufgefallen waren. Auf den Jochbeinen hatten sich hektische rote Flecken gebildet.
»Du solltest heimgehen und eine Runde schlafen«, sagte Gächter.
»Schlafe kann i no, wenn i tot ben.« Bienzle legte Gächter kurz die Hand auf die Schulter und ging hinaus.
»Blöde schwäbische Sprüche«, sagte Gächter zu der Tür, als sie hinter Bienzle ins Schloss gefallen war, und ging zu seinem Schreibtisch.
Grossmann hatte sich ein Weinberghäuschen ausgebaut, das unterhalb der Wangener Höhe lag. Allerdings gab es dort schon lange keine Weinberge mehr, sondern nur Obst- und Gemüsegärten. Bienzle war früher schon einmal da gewesen. Weil er selbst ein unpraktischer Mensch war, der keinen Nagel gerade in die Wand schlagen konnte, hatte er großen Respekt vor Leuten, die handwerklich geschickt waren. Hartmut Grossmann hatte sein Häusle komplett in »Eigenleistung«, wie er das nannte, zu einem Vierzimmer-Schmuckstück mit Küche und Bad gemacht. Das war, nachdem vor drei Jahren überraschend seine Frau gestorben war. Er hatte sich damals stark verändert. Grossmann war eigentlich immer ein geselliger Mensch gewesen. Ein guter Skatspieler, ein verlässlicher Kollege. Zwar konnte er kurz angebunden sein und unwirsch reagieren, wenn es einmal nicht nach seinem Kopf ging. Aber er sprang andererseits jederzeit ein, wenn ein Kollege ihn darum bat. Und seine technischen Fertigkeiten stellte er nur zu gerne zur Verfügung. Es gab vermutlich keinen Beamten im näheren Umkreis Grossmanns, dessen Auto er nicht schon einmal repariert hatte.
Sein Häusle hatte er ganz alleine hergerichtet. Hilfsangebote hatte er barsch abgelehnt. Nur Schreitmüller durfte gelegentlich dabei sein, Mörtel anrühren, Steine schleppen und Grossmanns Bier trinken.
Als Bienzle seinen Wagen am Fuß der schmalen Treppe abstellte, die zwischen Beerensträuchern zu Grossmanns Anwesen hinaufführte, brannte noch Licht hinter einem Fenster des Weinberghäuschens. Der Kommissar öffnete das unverschlossene Gartentörchen und stapfte hinauf. Immer, wenn er eine Staffel oder Treppe erklimmen musste, zählte er die Stufen. Und wenn er meinte, sich verzählt zu haben, kehrte er um und begann noch mal ganz von vorne. Es waren exakt neunzig Stufen. Es hätte ihn auch gewundert, wenn Grossmann beim Bau der Treppe nicht darauf geachtet hätte, auf eine runde Zahl zu kommen.
Bienzle erreichte die Terrasse, die der Besitzer mit Steinplatten aus der Toskana gefliest hatte. Das erleuchtete Fenster war tief in eine dicke Sandsteinmauer eingelassen. Der Kommissar erinnerte sich, wie stolz Grossmann darauf gewesen war, dass er sie ganz alleine hochgezogen hatte. Durch das Fenster konnte man den Hausbesitzer an einem schweren Holztisch sitzen sehen. Vor sich mehrere aufgeschlagene Aktenordner. Bienzle klopfte gegen die Scheibe. Grossmanns Kopf fuhr ruckartig hoch. Dann sprang der untersetzte Mann auf, öffnete einen Fensterflügel und rief: »Wer ist das?«
»Ich bin's, der Bienzle.«
»Haben Sie sich's also doch überlegt.« Grossmann ging zur Tür und schloss auf.
Bienzle bekam ein kühles Bier. Das erste Glas trank er in wenigen Zügen aus. Als er sagte: »Das Wetter macht Durst«, klang es, als wollte er sich entschuldigen.
»Es kommt noch ein Gewitter diese Nacht!«, sagte Grossmann. Er deutete auf die Akten. »Ich hab mir damals Kopien gemacht.«
»Eigentlich net erlaubt«, meinte Bienzle.
»Wo kein Kläger ist, ist auch kein Richter.«
Bienzle sagte nichts dazu. Er wollte bestimmt nicht der Kläger sein. Der Richter noch viel weniger. Sein Blick war an drei Bildern hängen geblieben, die auf einem schmalen Brett an der Wand aufgestellt waren. »Meine Enkelkinder«, sagte Grossmann. »Drei Mädchen. Elf, acht und sieben Jahre alt.«
Bienzle hatte nicht gewusst, dass Grossmann Enkel hatte. Im Dienst interessierte man sich kaum für das Privatleben der Kollegen. Es sei denn, man war so gut befreundet wie er und Gächter.
»Wenn man sich vorstellt, eins der Kinder könnte .« Grossmann unterbrach sich.
»Ich versteh Sie«, sagte Bienzle. Er trank den nächsten Schluck Bier direkt aus der Flasche. »Trotzdem .«
»Was trotzdem?«, fuhr Grossmann auf.
»Sie haben heut' den Anschütz verfolgt.«
»Man muss an ihm dranbleiben«, Grossmann schob seinen schmalen Kopf weit vor. »Er macht einen Fehler. Den macht der hundertprozentig! Und dann muss jemand da sein.«
»Sie...
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