Schweitzer Fachinformationen
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Am Abend hatte es ein wenig abgekühlt. Ein Gewitter war das Neckartal hinabgezogen, ohne Stuttgart mit seinen Regengüssen zu bedenken. Aber die Luft roch nun besser, man konnte plötzlich wieder Atem holen, ohne das Gefühl zu haben, die Lungenwände mit einer grauen Staubschicht zu überziehen. Bienzle spazierte durch die unteren Schlossparkanlagen. Er ertappte sich dabei, dass er ging wie sein Vater früher - die Hände auf dem Rücken, die Finger ineinander verschränkt, den Kopf leicht vorgeschoben. Plötzlich kam ihm schwanzwedelnd ein schwarzer Hund entgegen. Schwer zu entscheiden, was für eine Rasse es war - das Gesicht glich dem eines Neufundländers, war allerdings schmaler, das Fell langhaarig und vielfach gelockt, der Körper gedrungen, die Ohren schlappten herunter, die Augen hatten einen braunroten Schimmer. Der Hund setzte sich vor Bienzle hin und legte den Kopf schief. Er war fast so groß wie ein Schäferhund.
»Na du?«, sagte Bienzle freundlich
Der Hund hob die Pfote und legte sie behutsam auf Bienzles Knie, dann drehte er plötzlich ab, lief über den Rasen auf eine Hecke zu, blieb auf halbem Weg stehen, sah sich auffordernd um, lief noch ein paar Schritte und schaute erneut nach Bienzle.
»Willst du mir was zeigen?«, fragte Bienzle.
Der Hund machte leise »Wuff« und lief wieder ein paar Schritte. Man musste kein Hundekenner sein, um ihn zu verstehen.
Hinter einer Hecke, eingeklemmt zwischen einem rostigen Drahtzaun und den dornenbewehrten Zweigen eines Schlehenbusches, lag ein Mann. Der Hund schniefte und ließ sich flach neben dem leblosen Körper nieder. Bienzle ging in die Hocke. Der Mann war erschlagen worden.
»Passt nicht ganz ins Bild«, sagte eine Stimme hinter Bienzle. Der Kommissar brauchte sich nicht umzudrehen, um zu erkennen, wem sie gehörte.
»Nein, Gächter«, sagte er zu seinem Freund und Kollegen, »diesmal haben sie ihn wenigstens nicht angezündet.«
Im Park waren außer Bienzle und Gächter noch mindestens zwei Dutzend Polizisten, teils in Uniform, teils in Zivil, ein paar von ihnen lagen auch, als Nichtsesshafte getarnt, im Gebüsch oder auf Parkbänken. Keiner hatte etwas bemerkt, und das passte nun allerdings sehr wohl ins Bild. Vier Penner waren in den letzten vier Wochen überfallen und brutal umgebracht worden. Der Täter hatte alle vier mit einer Eisenstange im Schlaf erschlagen, mit Benzin übergossen und angezündet. Bis jetzt fehlte noch jede Spur von ihm.
Ein Grüppchen der Parkbewohner hatte sich in sicherem Abstand versammelt. Bienzle schlenderte zu ihnen hinüber. Der Hund ließ keinen Blick von ihm und blieb ihm auf den Fersen. Einer der Nichtsesshaften sagte: »Da steckt nicht bloß einer dahinter, das muss eine ganze Organisation sein.«
»Ich schlafe jedenfalls nicht mehr in den Anlagen«, sagte ein anderer.
Eine Frau mit einer hässlich kratzigen Stimme rief hämisch: »Ja, wo denn sonst? Drüben im Interconti, hä? In der Fürstensuite?«
Der Penner, der zuerst gesprochen hatte, fixierte Bienzle und den schwarzen Hund.
»Der Hund hat dem Oswald gehört«, sagte der Nichtsesshafte, der wohl so etwas wie der Wortführer der kleinen Gruppe war.
»Ja, genau, du hast recht, Alfons, das ist dem Oswald sein Balu«, ließ sich ein anderer hören.
»Der Hund ist sozusagen der einzige Zeuge«, meinte jener, der mit Alfons angesprochen worden war.
Die Frau spuckte aus: »Ein feiges Vieh!«
Alfons musterte Bienzle aus schmalen Augen. »Der Balu würde den Täter vielleicht erkennen - am Geruch!«
Bienzle musste unwillkürlich lächeln. Er beugte sich zu dem Hund hinunter und kraulte ihm das Fell.
Alfons hatte wieder das Wort. »Die finden uns überall, Anna«, sagte er zu der Frau mit der krächzenden Stimme. »Die kennen sich aus.«
Bienzle war nun vollends zu den Pennern getreten. Er öffnete seine Zigarilloschachtel und bot Alfons und dem anderen Mann eines an. Aber nur Anna griff zu.
»Haben Sie den Mann gekannt?«, fragte der Kommissar freundlich.
»Ja sicher, das war der Oswald.«
»Oswald, wie weiter?«, wollte Bienzle wissen.
»Keine Ahnung.«
»Und die anderen - haben Sie die gekannt?«
»Was denn für andere?«
»Die anderen, die umgebracht worden sind.«
»Hier kennen sich alle.«
»Gibt's da irgendwelche Gemeinsamkeiten bei den Opfern?«
»Gemeinsamkeiten haben wir alle.«
»Darüber hinaus, meine ich.«
Alfons schüttelte nachdrücklich den Kopf.
»Doch, doch«, krächzte Anna, »die haben alle alleine geschlafen. Wir schlafen immer zusammen.«
»Aha«, sagte Bienzle.
Annas zerstörtes Gesicht bekam einen koketten Ausdruck. »Nicht, was Sie denken .« Sie lachte, dass es einen frieren konnte.
»Warum fragen Sie überhaupt?«, wollte Alfons wissen.
Anna konnte nur den Kopf schütteln. »Riechste denn das nicht, dass das ein Kriminaler ist?«
Über den Killesberg schob sich eine schwarze Wolkenwand. Ein fahles Wetterleuchten und das dumpfe Grollen des Donners kündigten das nächste Gewitter an. Der Hund drängte sich gegen Bienzles Beine. Drüben bei dem Schlehengebüsch wurde die Leiche in einen Blechsarg gelegt.
»Gehen wir in die Unterführung«, sagte Alfons mit einem Blick zum Himmel. Die drei Nichtsesshaften bückten sich, um ihre wenigen Habseligkeiten zusammenzusuchen. Alfons richtete sich nochmal auf. »Warum tun die das?«, fragte er, ohne Bienzle anzusehen. »Warum nehmen die uns unseren allerletzten Besitz?«
Bienzle sah Alfons an. Er mochte fünfzig, vielleicht auch fünfundfünfzig Jahre alt sein, trug ein Jackett, das sicher einmal teuer gewesen war. Jetzt wirkte der Stoff dünn und fadenscheinig. Alfons' Gesicht war vom Alkohol gezeichnet, aber es war noch zu erkennen, dass dieser Mann einmal bessere Zeiten gesehen hatte. Freilich, auf wen unter den Nichtsesshaften traf das nicht zu?
»Was meinen Sie?«, fragte Bienzle.
»Ja, sie nehmen uns unseren allerletzten Besitz: unser Leben. Aber warum?«
»Wenn wir das wüssten«, sagte Bienzle und kramte seinen Geldbeutel hervor, »wenn wir das wüssten, wären wir mit der Aufklärung dieser hinterhältigen Mordserie schon ein ganzes Stück weiter, glauben Sie mir!« Er zog einen Geldschein aus dem Portemonnaie und streckte ihn Alfons hin.
»Als ob Sie sich damit loskaufen könnten«, sagte der.
»Ich weiß, dass das nicht geht.« Bienzle wendete sich ab und ging davon. Über die Schulter sagte er: »Und passet a bissle auf euch auf!« Tief in Gedanken stapfte er den Kiesweg hinunter. Ein böiger Wind kam auf und trieb dürre Blätter vor sich her. Die ersten Herbsttage kündigten sich an. >Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr<, ging's Bienzle durch den Kopf. >Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben.<
Es war nicht das erste Mal, dass er es mit Nichtsesshaften zu tun hatte. Und wieder musste er, wie damals in Erlenbach, daran denken, was wohl mit ihm hätte geschehen müssen, um zu denen zu gehören, die jetzt im Park, unter den Brücken und in den Unterführungen hausten - ohne Aussicht auf eine Rückkehr in das bürgerliche Leben, aus dem doch viele von ihnen kamen -, wie wenig wohl fehlte, um von der einen Seite des schmalen Grates auf die andere zu geraten.
Auf dem Weg lag eine zerrissene, von der Nässe ausgelaugte Zeitungsseite. Bienzle konnte einen Teil der Schlagzeile lesen, und es war nicht schwer für ihn, sie zu vervollständigen. »Jede Woche stirbt ein Penner - Die Polizei tappt im Dunkeln.«
Eine Frau kam Bienzle entgegen. Sie trug schwer an vier Plastiktaschen. Über ihrem Kopf kreisten gut zwei Dutzend Rabenkrähen, zu denen ständig neue kamen. Die Frau stellte ihre Taschen ab und griff mit beiden Händen in eine davon. Die Vögel begannen zu schreien. Mit Schwung warf die Frau Brotbrocken in die Luft und sah zu, wie sich die Krähen darum balgten. Dann streute sie das Futter aus ihren Taschen unter Büsche und Bäume - sie tat das mit ruhigen, genau abgezirkelten Bewegungen. Dabei redete sie leise vor sich hin.
Bienzle trat zu ihr. »Was machen Sie denn da?«
Die Frau sah ihn an. »Niemand kann wissen, wer die sieben sind.«
In Bienzle stieg eine Ahnung auf. »Sie meinen die sieben Raben?«
»Sieben Raben, sieben Brüder.«
Der Kommissar erinnerte sich. »Haben Sie denn auch schon angefangen, jedem von ihnen ein Hemd zu nähen?«
Die Frau nickte ernsthaft. »Vielleicht sind alle unsere Brüder«, sagte sie.
Bienzle lächelte. »Der heilige Franziskus wäre dieser Meinung gewesen.«
Die Krähen schrien aus vollem Hals. Das Futter war verbraucht. Die Frau bückte sich nach einer ihrer Taschen. Schreiend stießen die Vögel herab und flatterten gierig dicht über ihrem Kopf.
Die Frau trug einen teuren Mantel und eine Baskenmütze aus feinem Pelz. »Ich muss mich um sie kümmern«, sagte sie ernst zu Bienzle.
Der Kommissar nickte. »Man muss sich aber auch um die Menschen kümmern«, sagte er und sah zu der Gruppe der Penner zurück, die in der Unterführung verschwand.
Präsident Hauser hatte ihn zum Chef der Sonderkommission »Pennermorde« gemacht. Bienzle war das wie Spitzgras. Er hasste es, eine größere Zahl von Menschen zu kommandieren. Er trat nach dem Zeitungsblatt und traf den Hund, der aufjaulte und den Schwanz zwischen die Hinterbeine zog.
»Pass halt auf, du blöder Köter«, schimpfte Bienzle, entschuldigte sich aber sofort: »Tut mir ja leid, ich hab dich nicht g'sehen!« Und danach erst wunderte er sich: »Was tust du überhaupt noch da? Geh doch zu den anderen. Ich mein, zu dem Alfons und der Anna!«
Bienzle...
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