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Achtzig Jahre ist ein gesegnetes Alter«, sagte Bienzle und rechnete im Stillen aus, wie lange es bei ihm noch dauern würde, bis er diese Zahl an Lebensjahren erreichen würde.
Hannelore, die am Steuer des Wagens saß, warf einen Blick zu ihm hinüber, als ob sie wüsste, was in seinem Kopf vorging. »Zum Glück ist das bei uns noch eine Weile hin.«
»Bei dir sowieso«, antwortete Bienzle. »Noch dreißig Jahre. Das ist ein halbes Leben.«
»Trotzdem«, sagte Hannelore, ohne näher zu erklären, was sie damit meinte.
Das Dorf lag in einer Senke, hingekuschelt zwischen Feldern, Wäldern und Wiesen, die sich an sanften Hügeln hinzogen. Im Hintergrund sah man einen kegelförmigen bewaldeten Berg. Bienzle erinnerte sich, dass man ihn hier in Felsenbronn »Backofen« nannte. Wenn dort im Frühjahr oder Herbst die Morgennebel aufstiegen oder wenn die Erde nach heftigem Regen im Sommer dampfte, erzählte seine Tante Gerlinde dem kleinen Ernst: »Jetzt backet d' Hase Pfannekuche.« Und natürlich glaubte er ihr.
»Woran denkst du?«, fragte Hannelore, und Bienzle erzählte es ihr.
Hannelore lächelte: »Ich liebe solche Geschichten!«
»Leider gibt's hier auch ganz andere«, sagte Bienzle ernst.
»Aber jetzt feiern wir erst amal der Tante Gerlinde ihren Geburtstag, machen eine schöne Wanderung und fahren dann gemütlich wieder heim.«
Hannelore und Bienzle waren im Gasthof Adler untergebracht. Dort sollte auch das Geburtstagsfest stattfinden. Als die beiden ankamen, war schon fast die ganze Gesellschaft versammelt. Hannelore, die sich nie besonders um Bienzles Verwandtschaft gekümmert hatte, was im Übrigen durchaus auf Gegenseitigkeit beruhte, wunderte sich über die Ähnlichkeit einiger Männer mit ihrem Bienzle. Sie hatten alle diese rundlichen Gesichter und diesen listigen Blick.
Bienzle hatte ihr schon öfter erklärt, dass dieser Ausdruck nicht listig, sondern knitz sei, und in knitz stecke eben nicht nur List, sondern auch Witz und Hintersinn. Jedenfalls hatte Ernst Bienzle mindestens vier Cousins oder Neffen, die runde Gesichter, knitze Augen, kurze Hälse und erstaunlich schmale Hände hatten wie er.
Und von allen ging etwas Kraftvolles und sehr Selbstbewusstes aus. Wahrscheinlich verwendeten auch alle diesen Spruch: »Egal wo i am Tisch sitz, da wo ich sitz, ischt auf jeden Fall oben!«, den sie von Bienzle kannte.
Die Wiedersehensfreude schien echt zu sein. Man umarmte sich zwar nicht, dazu waren sie wohl alle zu protestantisch erzogen. Aber sie hielten die Hand des anderen lang in ihren Händen, schauten sich in die Augen, schlugen sich auch schon mal herzhaft auf die Schulter oder den Rücken, und sie lachten viel.
Die Frauen bildeten sofort eine eigene kleine Gruppe. Da gab es keine langen Vorreden. »Wie geht's dei'm Vadder, ischer emmer no so unleidlich?«, war zum Beispiel so ein Begrüßungssatz. Oder: »Was macht dei Rheuma, also i ben letztes Jahr in Abano Therme gwesa. Kann i dir nur empfehla.«
Die Angesprochene fasste sich ins Kreuz und sagte: »I han doch koi Zeit.«
»Ha, jetzt komm, deine Kinder sind doch ausem Haus!«
»Dafür hab i jetzt vier Enkel!«
»Dann wissen wir wenigstens, wer amal unsere Rente zahlt«, warf Bienzle ein.
»Ha komm«, rief einer seiner Vettern. »Du bischt doch Beamter und kriegscht Pension von unsere Steuergelder!«
»Hascht du was gege Beamte?«, fragte ein anderer Vetter. Er war Richter am Amtsgericht in Ulm.
»Was soll ich gege Beamte han, die tun doch nix!«
Das alles und noch viel mehr wurde hin und her geworfen, noch bevor sich überhaupt alle begrüßt hatten.
Hannelore sagte zu einer Frau, die neben ihr stand. »Also, wer immer behauptet hat, Schwaben seien maulfaul - der kann sie nicht gekannt haben.«
»So sind sie aber auch nur, wenn sie sich gut kennen und halbwegs vertrauen.«
»Sie sind keine Schwäbin?«, fragte Hannelore und musterte die Frau erst jetzt richtig. Sie war gut einen Kopf größer als sie selbst, trug ein rotes Kleid aus fließendem Stoff, das bis zu den Knöcheln hinabreichte und tief ausgeschnitten war.
»Nein, ich stamme aus Dresden, hört man das nicht?«
»Doch, jetzt schon.« Hannelore lächelte die Frau offen an. Sie hatte ein schönes gleichmäßiges Gesicht. Ihre roten Haare hatte sie hoch getürmt. Ihre schmalen Augen gaben ihr allerdings einen lauernden Ausdruck. Hannelore sagte: »Da sind wir ja schon zu zweit - als Nichtschwäbinnen, meine ich.«
Die Frau nickte. »Finden Sie's nicht auch komisch, dass die alle immer noch im Dialekt sprechen?«
»Nein, eigentlich nicht. Mein Bienzle spricht oft Schwäbisch, und ich hör's ganz gern.«
»Also meinem Bienzle hab ich das abgewöhnt«, sagte die Sächsin.
Es stellte sich heraus, dass sie die Frau des Ulmer Richters war, der freilich im Gespräch mit seinen Verwandten genauso schwäbelte wie alle anderen.
Bienzle kam herüber. »Sie sind dem Oskar sei Frau, gell?«
Er reichte ihr die Hand, und sein Blick blieb an ihrem Dekolleté hängen. Auf ihn wirkte es wie eine Demonstration der Tatsache, dass auch über fünfzigjährige Frauen noch einen schönen Busen haben können.
Hannelore erinnerte sich im selben Augenblick an ein paar Kleider, die im Schrank hingen und die sie schon lange nicht mehr angehabt hatte.
Gerlinde rief zu Tisch. Die zierliche Person bat um ein wenig Ruhe und begrüßte ihre Gäste mit einer kleinen Rede. Dabei erwähnte sie, dass ihre Neffen und Nichten - eigene Kinder hatte sie nicht - das Fest finanziert hatten, als gemeinsames Geburtstagsgeschenk.
Hannelore beugte sich zu Bienzle hinüber. »Schämt ihr euch eigentlich nicht? Ihr bezahlt, was ihr esst und trinkt, und gebt es dann als Geschenk aus?«
Bienzle grinste: »So semmer halt!«
Aber Hannelore musste dann doch feststellen, dass sie vorschnell geurteilt hatte. Denn jeder hatte auch noch ein persönliches Geschenk mitgebracht, und die meisten überreichten es mit einer kleinen Ansprache, oft in Gedichtform, und es war erstaunlich, wie kunstvoll manche dieser Verse waren. »Lauter kleine Mörikes, Uhlands und Schillers«, sagte Hannelore zu der Frau des Richters, die ihr gegenübersaß.
»Ja«, gab die zurück, »es gibt eben nur zwei Geniezonen in Deutschland: Sachsen und Schwaben.«
»Mei Hannelore ischt aus Königsberg«, sagte Bienzle, »und die ist ein Genie als Malerin, und der Immanuel Kant kommt ja - glaub ich - auch von dort. Ond wenn mich ned alles täuscht, war Goethe ein Frankfurter und der Beethoven stammt aus Bonn.«
»Aber Einstein war ein Ulmer«, warf der Richter ein.
»Des hat ihm bei den Nazis aber au nix g'holfe«, gab Bienzle bissig zurück. Da war die Markklößchensuppe schon verspeist, und der Sauerbraten mit Spätzle wurde aufgetragen.
Zwei Großneffen Gerlindes rappten zu ihren Gitarren: »Tante achtzig/das macht sich/Opa sechzig, das rächt sich/Tante Charlotte vierzig, ziert sich, Jeanette ischt zwanzig/ond jetzt scho ranzig .«, weiter kamen sie nicht, weil sich ihre ältere Schwester Jeanette wütend auf sie stürzte. Es dauerte etwas, bis wieder Ruhe eingekehrt war. Dann folgte die Weinschaumcreme, hierzulande auch Chaudauxsößle genannt, die es in schwäbischen Haushalten schon immer sonntags gab, wenn man den frühen Alkohol ein wenig kaschieren wollte.
Hannelore wollte wissen, wie es nun weiterginge.
»Jetzt geht man spazieren«, erläuterte Bienzle, »dann gibt's Kaffee und Kuchen, und wahrscheinlich habet die Junge ein paar Spiele vorbereitet, und fast möcht ich wetten: im Stil von >Wer wird Millionär?<. Nach dem Kaffee vertritt man sich wieder ein wenig die Beine, und dann gibt's ein wirklich kräftiges Abendessen. Vermutlich kalte Platten mit Hausmacherwurst und dazu einen wunderbaren Kartoffelsalat, wie man ihn nur hier, im Felsenbronner Adler, kriegt. Und danach kommt eine kleine Tanzkapelle, und wer will, kann dann noch a bissle tanzen.«
Aber das alles erlebte Hannelore ohne ihren Bienzle. Denn der Nachtisch war grade abgeräumt, und man wendete sich dem Verdauungsschnäpschen zu, da stand plötzlich ein kleiner dicker Mann in der Tür des Wirtshaussaales und sagte: »Herr Bienzle, da sind Sie ja!«
Bienzle kniff die Augen zusammen, schüttete den Schnaps hinunter. Dann erst sagte er: »Kurt Langlott! Was machet Sie denn hier?« Und zu seinen Verwandten am Tisch gewandt, fügte er leise hinzu: »Ich hab schon immer gesagt, wenn einer so aussieht, dürft er net Langlott heißen!«
Bienzles Vetter Oskar kannte den Mann ebenfalls: »Das kann nichts Gutes bedeuten«, sagte er und hielt der Bedienung sein Schnapsglas noch einmal hin.
»Kann ich Sie einen Moment unter vier Augen sprechen?« Kurt Langlott wirkte, als ob er auf dem Weg hierher alle seine Sätze auswendig gelernt hätte.
»Sehet Sie net, dass ich privat hier bin!«
»Der Herr Polizeipräsident sagt, er habe das sogar mit der zuständigen Abteilung im Stuttgarter Innenministerium abgesprochen.«
Um die große U-förmige Tafel herum war es plötzlich still geworden. Alle starrten auf Langlott und Bienzle.
»Was ist denn passiert?«, wollte Gerlinde wissen.
»Wir haben schon wieder einen unnatürlichen Todesfall!«, presste Langlott hervor. Er war höchstens einen Meter sechzig groß und hatte eine gedrungene Figur. Eigentlich war er nicht dick, zumindest nicht im landläufigen Sinne; denn alles an ihm war drall und fest. Die Beine glichen zwei kräftigen Säulen, auf denen ein runder praller Rumpf ruhte. Die Arme waren für den kurzen Körper viel zu...
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