Schweitzer Fachinformationen
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Der Wirt schiebt den Schnaps über die Theke, an der Kilper lehnt - ein fast zwei Meter großer, breitschultriger, bärtig-bulliger Typ, der sich von den dörflichen Gästen in vielem unterscheidet. Sein kariertes Jackett mit den auffallenden Lederflecken auf den Ellbogen hat Kilper vor einem Jahr in London gekauft, dazu trägt er elegante dunkelbraune, feingerippte Kordhosen, die - völlig stilwidrig - in billigen gelben Plastikstiefeln stecken. Zwischen den Zähnen hält er eine gewichtige Pfeife und reckt das Kinn vor, als müsste er ihr zusätzlichen Halt geben.
»Sie werden nichts finden«, stellt der Wirt fest und geht mit vier Weingläsern auf einem Tablett zum Stammtisch, um die Neuigkeit weiterzutragen. »Ein Zeitungsmensch«, sagt er zu den behäbig um den weiß gescheuerten Holztisch sitzenden Einheimischen; »der sucht eine Atombombe bei uns .« Er lacht dröhnend.
»Eine Atombombe?«, ruft einer. »Wir leben im Jahr 1976 und schon lang nimmer im Krieg.«
Kilper ist dem Wirt gefolgt: »Es geht um ein bisschen was anderes«, sagt er. »Was ist, wenn bei eurem Atomkraftwerk dort unten mal ein Störfall eintritt? So sicher sind die dann auch wieder nicht.«
»Die Leut' dort passen schon auf«, sagt der Wirt. »Seit zehn Jahren machen die da drunten Strom, und bis jetzt ist alles ganz normal gewesen. Das ist doch Panikmache mit der Strahlung. Ich kann nur sagen, unser Dorf hat bis jetzt nur profitiert.«
Für den Wirt ist die Diskussion damit beendet. Er verschwindet in der Küche. Kilper steht unschlüssig mitten in der schwäbischen Wirtschaft - ein Fremdkörper in der ländlichen Idylle.
»Was suchet Sie denn?«, fragt einer der Männer am Stammtisch.
»Darf ich mich zu Ihnen setzen?«, fragt Kilper zurück.
»Des wird mr Ihne ja schlecht verbieta könna«, gibt der Weihersbronner zurück.
Dann schweigen erst einmal alle am Tisch. Kilper wird es ungemütlich. Er, der gewohnt ist, ohne großen Respekt mit jenen Leuten zu reden, von denen behauptet wird, dass sie das Sagen haben, findet hier keinen so rechten Anfang. Schließlich sagt einer der Stammtischbrüder in seinem Dialekt: »Ja, ja, so isch's no au wieder« und verfällt erneut in das Schweigen am runden Tisch. Kilper räuspert sich.
»Vor vier Wochen wurde beim Kernforschungszentrum in Karlsruhe Atommüll gefunden«, sagt er. »Auf einer ganz normalen öffentlichen Müllkippe.«
Die Männer nehmen's schweigend zur Kenntnis.
»120000 Millirem haben Leute von einer Umweltschutzgruppe gemessen. In Schlammresten, die da schon lange lagern.«
»Was ist das, Millirem?«, fragt einer der Einheimischen und nimmt einen Schluck von seinem samtroten Wein.
»Damit misst man die Strahlung radioaktiver Substanzen . Man kann Krebs davon kriegen«, sagt Kilper.
Die Tischrunde zeigt sich nicht sonderlich beeindruckt. Ein dicker Mann bestellt bei der Bedienung, einer schmalen schwarzhaarigen Jugoslawin, noch einen Wein:
»Geh, Duschankale, breng mr no en Trollinger.«
»Sind Sie Winzer?«, fragt Kilper.
»Mhm!«, bestätigt der Dicke.
»Wissen Sie schon, dass das Weihersbronner Kraftwerk vergrößert werden soll?«
»Mhm.«
»Und haben Sie sich einmal darum gekümmert, wie das die Wetterverhältnisse hier im Neckartal verändern wird?«
»Wieso, was hat das denn mit dem Wetter zu tun?«, fragt der Dicke zurück und fällt dabei in die Schriftsprache des Gastes.
»Pro Tag 960000 Kubikmeter Wasser, das aus dem Neckar genommen und zum Teil als Dampf über die Kühltürme in die Atmosphäre entlassen wird«, doziert Kilper gestelzt, »bei Inversionswetterlagen ergibt das eine enorme Zunahme des Nebels, weniger Sonneneinstrahlung, weniger Süße im Wein, oder?«
Auf einmal blicken alle am Tisch auf. Der dicke Winzer ruft das Mädchen aus Jugoslawien: »Geh, Duschankale, breng dem Herrn a Viertele Trollinger uf mei Rechnung!«
Kilper lächelt in sich hinein. Nächste Woche wird er den Kollegen in Hamburg erzählen, wie er diese verschlossenen Weingärtner und Bauern herumgekriegt hat, und seine Geschichte wird mit den Vorgängen in Weihersbronn gar nicht mehr so viel zu tun haben.
Zwei Stunden später verlässt Kilper den Goldenen Adler. Der ungewohnte Rotwein hat seine Glieder schwer gemacht.
Er stapft unschlüssig durch das schlafende Dorf. Am Nachthimmel erkennt er, nur wenig gegen den schmalen, spitzen Kirchturm versetzt, die runde Kuppel des Kernkraftwerks, die nachts von Scheinwerfern angestrahlt wird.
»Scheiße«, murmelt er vor sich hin. Ein richtiger Auftrag ist das nicht, den ihm die Redaktion da gegeben hat .
Kaum waren die Meldungen über die Atommüllfunde in Karlsruhe bekannt geworden, da hatte ihn schon sein Chef zu sich kommen lassen.
»Kilper, der Auftrag mag ein wenig seltsam klingen, aber auch die Chefredaktion hält die Idee für richtig: Sie organisieren sich einen Geigerzähler, und dann nehmen Sie sich Zeit, solange Sie wollen. Sie suchen alle Müllkippen in der Nähe unserer Atomkraftwerke ab - es muss ja leicht herauszukriegen sein, wo die jeweils ihren Dreck hinkarren. Wenn es in Karlsruhe getickt hat, ist es leicht möglich, dass auch noch woanders strahlenintensiver Müll zu finden ist.«
Kilper hatte seinen Chef ungläubig angestarrt und heftig an der erkalteten Pfeife gezogen. »Das ist doch ziemlich unsinnig!«
»Mag sein. Aber erstens haben wir sowieso Saure-Gurken-Zeit, und zweitens ist die Aktion auch dann sinnvoll, wenn die Chance, dass wir beziehungsweise Sie etwas finden, eins zu hundert steht.«
Darüber konnte man streiten. Aber Kilper wusste genau, wie wenig Sinn das hatte, deshalb fragte er nur: »Angenommen, ich finde solches radioaktiv verseuchte Zeug: Was mache ich damit?«
»Sie beschaffen sich am besten die notwendige Ausrüstung, um Proben von dem Müll zu verpacken, wenn Sie einen Verdacht haben. Dann bringen Sie den Mist zu einem einschlägig bewanderten Strahlenfachmann und lassen die Gefährlichkeit bestimmen.«
Kilper hatte widerwillig genickt und überlegt, dass er bei einer solchen Recherchenfahrt eine ganze Menge Spesen machen würde. Zudem war ja gegen einen schlauen Job, der eine Reise durch die ganze Bundesrepublik eintrug und bei dem aller Wahrscheinlichkeit nach noch nicht einmal eine Zeile zu schreiben sein würde, nichts einzuwenden . Als ob sein Chef diese Gedanken erraten hätte, sagte er: »Ein Report über die deutschen Kernkraftwerke, ihre Probleme mit den Menschen im Umland und so weiter - das müsste alle Mal rausspringen dabei.«
Wieder murmelt Kilper leise »Scheiße!« und wirft der Betonhaube am Dorfrand einen bösen Blick zu. Er muss an diesen Dr. Steinbach denken, praktischer Arzt und Geburtshelfer in Weihersbronn und Vorsitzender der Bürgerinitiative >Pro Umwelt - contra KKW<. Bei ihm hatte er sich die Information darüber beschafft, wo das Kraftwerk gemeinhin seinen Müll hintransportiert. Ein ruhiger, souveräner Mann, der ihm absolute Diskretion zugesichert hat.
»Sobald heraus ist, was Sie hier suchen, wird der Teufel los sein«, hatte der Arzt gemeint. »Sie glauben ja gar nicht, wie emotionsgeladen diese Auseinandersetzung um das Kernkraftwerk ist. Am besten reden Sie mit niemandem darüber.«
Nun hat er doch geredet, und wenn er etwas unternehmen will, noch ehe die Nachricht von seinen Absichten das Kraftwerk erreicht, muss es noch in dieser Nacht sein - das ist ihm klar.
Kilper steigt in seinen Wagen und fährt los. Den Weg hat ihm Doktor Steinbach beschrieben. Ein schmales Sträßchen führt vom Kraftwerk bergauf durch Obstbaumwiesen und endet drei Kilometer weiter direkt vor dem hohen Zaun, hinter dem der Müllplatz der Gemeinde Weihersbronn liegt.
Der Müllplatz dampft. Schwaden üblen Verwesungsgeruchs ziehen durch den schmalen Fensterspalt, den Kilper geöffnet hat. Er muss sich überwinden, auszusteigen und den handlichen Geigerzähler aus dem Kofferraum zu holen.
Der Platz ist vorschriftsmäßig eingezäunt und durch ein hohes Lattentor verschlossen. Ob das Hausfriedensbruch oder so etwas ist?, denkt Kilper, als er an dem Maschendrahtzaun hochklettert. Die Taschenlampe, die er dabei zwischen die Zähne klemmt, gibt ihm nur wenig Licht, aber die Nacht ist hell, so dass die Kletterei ziemlich einfach ist. Er steigt über den Kamm des Zauns, lässt sich auf die andere Seite fallen und stößt gleich einen Fluch aus, weil er bis zu den Knöcheln in Schlamm versackt.
Der Strahl der Taschenlampe irrt über die Kippe. Offensichtlich hat eine Planierraupe den oberen Teil plattgewalzt. Nach etwa zwanzig Metern fällt der Müllberg steil ab. Kilper wird übel. Der Gestank ist kaum auszuhalten. Steinbach hat ihm erzählt, dass vom Kraftwerk vor allem der Schlamm heraufgebracht wird, den die Rechen zum Fluss hin festhalten, damit Kühlwasserzufluss und Abwasserabfluss einigermaßen sauber gehalten werden . Tote Fische, vergorener Flussschlamm und so was, denkt Kilper; man sollte ein Paket davon in die Redaktion nach Hamburg schicken!
Dann bleibt er ruckartig stehen.
Der Geigerzähler in seiner Hand scheint verrückt zu spielen. Nach dem langsamen Tack-tack-tack-tack, das er noch am Zaun vernahm, fängt das kleine Gerät plötzlich zu rattern an wie ein Maschinengewehr . Kilper steht da wie versteinert. Das kann nicht sein!, denkt er; das Gerät muss eine Macke haben! Er richtet den Lichtkegel der Taschenlampe auf die Skala.
Sie reicht von Null bis 500000 Millirem;...
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