Schweitzer Fachinformationen
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Den ganzen Abend schon hatte sie Schmerzen gehabt. Krämpfe in der Brust. Atemnot. Schweißausbrüche. Langsam ging sie durch ihre geräumige Wohnküche, stützte sich an der Kante des Küchenbüfetts ab, hielt sich für Sekunden an der Lehne des alten Sessels fest, der dicht bei dem linken Fenster neben der Tür zum Garten stand. Obwohl sie ihre Tabletten schon genommen hatte, öffnete sie das Röhrchen noch einmal, schüttelte eine Pille heraus und spülte sie mit einem Glas Wasser, das sie unter dem Hahn am Spülbecken gefüllt hatte, hinunter. Danach wurde es ihr ein wenig leichter. Sie schaute auf die Uhr. Mitternacht war längst vorbei. Dreimal war sie schon ins Bett gegangen und jedes Mal nach kurzer Zeit wieder aufgestanden. Aber sie brauchte ihren Schlaf. Das wusste sie. Sieben Stunden mindestens. Sie hielt sich deshalb an das immer gleiche Ritual: Punkt zehn Uhr am Abend putzte sie die Zähne, schlüpfte in ihr Nachthemd und kroch unter das dicke, rot-weiß karierte Plumeau. Sie las noch ein paar Zeilen in der Bibel und schlief darüber ein. Irgendwann in der Nacht kam sie zu sich und löschte das Licht.
Doch heute fand sie keine Ruhe. Sie hatte den alten Frotteebademantel übergezogen und war in ihre Filzpantoffeln geschlüpft. Sie wusste nicht, wie viele Runden sie schon in ihrer Küche gedreht hatte - schwer atmend und schwitzend. Und immer wieder sagte sie sich im Ton ihrer längst verstorbenen Mutter: »Geh aufrecht, Mädchen, heb die Füße!«
Gerlinde Bienzle stieß einen kleinen Seufzer aus. Sie lehnte jetzt an dem alten, braun-gelb gesprenkelten Schüttstein. Immer hatte sie sich dagegen gewehrt, eine neue Küche einbauen zu lassen. Warum eigentlich? Der Steintrog war nur mit Mühe sauber zu halten. Aber Gerlinde war eine Frau, die sich nur schwer von etwas trennen konnte. Dabei wäre so eine glänzende Fläche aus Nirostastahl viel leichter zu pflegen gewesen. Einen neuen Herd hatte sie sich zwar aufschwatzen lassen, aber sie hatte sich hartnäckig geweigert, den alten abzuschaffen. Im Winter kochte sie noch immer über der knisternden Flamme aus brennendem, nach Harz riechendem Holz und Tannenzapfen, die sie selbst gesammelt hatte. An den kalten Tagen wohnte sie dann auch in ihrer geräumigen Küche, schlief auf der alten Ottomane gegenüber der Eingangstür. Das erhöhte Kopfteil des Schlafsofas stieß an die fensterlose Wand, vor der eine kleine Truhe stand, die Gerlinde als Nachttisch diente. Eine einfache Leselampe auf der Ecke des Truhendeckels gab ein warmes Licht, daneben lag die Bibel, der man ansah, dass sie seit Jahrzehnten nahezu täglich im Gebrauch war. Über der Truhe hing ein Bild, das ein weites Getreidefeld zeigte, durch das Jesus mit seinen Jüngern schritt.
Links vom Eingang führte eine Tür zu den oberen Räumen des Hauses. Für sie sei das alles viel zu groß, pflegte Gerlinde Bienzle zu sagen, dabei maß keines der drei Zimmer im ersten Stock mehr als acht Quadratmeter. Ihr Neffe Ernst, der als Leitender Hauptkommissar bei der Kripo in Stuttgart arbeitete, hatte Gerlindes Zuhause schon immer ein »Hexenhäusle« genannt. Sie musste unwillkürlich lächeln, als sie daran dachte. Er war lange nicht mehr dagewesen - der Neffe aus der Landeshauptstadt. Aber vielleicht würde er künftig wieder öfter kommen, wenn er nun in Pension ging. Das hatte er ihr geschrieben. Es klang eigentlich ganz zufrieden, und dennoch konnte sie zwischen den Zeilen eine gewisse Traurigkeit herauslesen. Zum Beispiel aus dem Satz: »Es kann ja auch ganz schön sein, endlich nicht mehr ständig gebraucht zu werden.« Sie kannte ihren Neffen. Für den war das ganz bestimmt nicht schön!
Vielleicht hätte sie ihn zu Rate ziehen sollen, ehe sie damit begonnen hatte, die alten Geschichten wieder aufzuwühlen. Vielleicht hätte sie es aber auch besser ganz gelassen. Nach so langer Zeit. Natürlich kamen diese Unruhe und die Schmerzen in der Brust daher, dass sie - warum eigentlich? - in ihre Erinnerungen hinabgestiegen war. In ihrem Alter sollte man die Dinge doch eigentlich ruhen lassen. Sie hatte die achtzig längst überschritten und wusste um ihre Krankheit, die ihr nicht mehr viel Zeit zum Leben ließ. Trotzdem hatte sie es getan. Oder gerade deswegen.
Gerlinde Bienzle löschte das Licht in der Küche und ging durch die schmale Tür ins Treppenhaus. Zwölf Stufen führten steil in den ersten Stock hinauf. Nach ihrer Gewohnheit schaltete sie kein Licht an. Sie kannte ja jeden Tritt. Oben würde sie gleich links neben der Treppe ihre Schlafzimmertür öffnen und neben dem Türbalken den Schalter drücken.
Das grelle Klingeln ihres Telefons zerriss die dunkle Stille. Gerlinde erreichte den Treppenabsatz und ging nach rechts durch die Tür in ihr kleines Wohnzimmer. Das Telefon stand auf einem Schränkchen direkt neben der Tür. Gerlinde machte Licht, hob ab und schaute gleichzeitig auf die Wanduhr, deren Pendel gleichmäßig hin- und herschwang.
»Ja?«, sagte Gerlinde ins Telefon.
»Ich muss noch mal mit dir reden.« Sie erkannte die Stimme des Mannes sofort.
»Aber doch nicht jetzt!«
»Warum nicht jetzt?«
»Es ist gleich halb drei!«
»Na und? Wir können doch beide nicht schlafen.«
»Na gut, dann rede!«
»Nicht am Telefon!«
»Heißt das, du willst jetzt noch vorbeikommen?«
»Ich bin schon ganz in deiner Nähe. Ich rufe vom Handy aus an.« Er legte auf.
Gerlinde Bienzle starrte noch ein paar Augenblicke lang auf den Telefonhörer. Dann straffte sich ihr kleiner Körper, sie ging ins Schlafzimmer hinüber und kleidete sich sorgfältig an.
Ernst Bienzle kam am Morgen nicht langsam zu sich, tauchte nicht zögernd aus den Tiefen seines Schlafs auf in die Wirklichkeit wie andere Menschen. Er wurde schlagartig wach, und zwar immer zu der Zeit, die er sich am vorausgegangenen Abend vorgenommen hatte. Nur wenn er ausnahmsweise einmal einen Mittagsschlaf einlegte, an einem verregneten Sonntag zum Beispiel, fand er schwer wieder in einen halbwegs wachen Zustand zurück. Dann hatte er Mühe, sich zu orientieren, war grätig, wie der Schwabe sagt, also missgelaunt. Hannelore meinte, das liege an dem schlechten Gewissen, das er habe, weil er, statt irgendetwas zu schaffen, sich habe gehenlassen. Das machte ihn dann noch grätiger, weil er so etwas nicht gelten lassen wollte.
An diesem Morgen wachte er schon eine Stunde früher auf, als er es sich vorgenommen hatte, doch er war auch jetzt mit einem Schlag hellwach. Hannelore neben ihm schlief tief und fest. Sie atmete gleichmäßig, ihre Züge wirkten ruhig und entspannt. Bienzle setzte sich auf, sah zu ihr hinüber, betrachtete ihr schönes Gesicht eine Weile und hatte plötzlich ein ganz warmes Gefühl im Bauch. Vorsichtig schob er sich aus dem Bett und schlich auf Zehenspitzen hinaus.
In der Küche setzte er die Kaffeemaschine in Gang, öffnete die Kühlschranktür, entdeckte ein Stück Leberkäse und schob es, ohne viel nachzudenken, in den Mund. Er hatte vergessen oder verdrängt, dass er seit drei Wochen wieder einmal Diät hielt beziehungsweise es sich vorgenommen hatte. Und als es ihm wieder einfiel, rechnete er den Wert des Leberkäses - waren ja höchstens dreiunddreißig Gramm gewesen - auf vierundsiebzig Kalorien herunter.
Auf dem Küchentisch lag sein Handy. Er klappte es auf und las auf dem Display »Ein Anruf in Abwesenheit«. Er wählte die Mailboxnummer, hörte zuerst seine eigene knarzende Stimme und dann die seiner Tante Gerlinde. »Ernst, ich brauch dich. Ich hab Angst. Vielleicht hab ich was Dumm's g'macht! Bitte, ruf mich so schnell wie möglich an.«
Bienzle schaute auf die Uhr über der Küchentür, ein berühmtes Modell des Designers Max Bill, es war 6 Uhr 50. Dann prüfte er noch einmal das Display. Seine Tante hatte um 2 Uhr 24 angerufen. Mitten in der Nacht! Bienzle schenkte sich einen Kaffee ein, schlürfte den ersten Schluck und wählte die Nummer seiner Tante Gerlinde. Er wusste, dass sie eine Frühaufsteherin war. Von ihr kannte er den Spruch: »Wer länger schläft als sieben Stund, verschläft sein Leben wie ein Hund.« Gerlinde Bienzle antwortete nicht.
Wenig später wusste er, warum: Gerlindes Nachbarin, Emma Hirrlinger, hatte ihn angerufen. Seine Tante war in der Nacht gestorben. Sie war fünfundachtzig Jahre alt geworden. Bienzle fiel ein, dass der Schwabe in so einem Fall sagt: »Da ischt d' Hebamm auch nimmer dran schuld!« Aber ihm war nicht nach Scherzen zumute. Er hatte seine Patentante gemocht, sehr gemocht sogar. Hochdeutsch also: geliebt. Und er wurde sofort von seinem schlechten Gewissen gepackt, weil er sich in letzter Zeit so wenig um sie gekümmert hatte.
Er war ihr nächster Verwandter. Deshalb würde er so schnell wie möglich hinfahren müssen. Das wiederum nötigte ihm ein Lächeln ab. Er hatte mit einem Mal einen guten Grund, Urlaub einzureichen. Seine Kollegen und seine Vorgesetzten schienen zurzeit nichts Wichtigeres zu tun zu haben, als seinen Abschied vorzubereiten, und nervten ihn mit immer neuen Fragen. Dass man so etwas feierte, fand er unnatürlich, ja geradezu obszön. Hätte nur noch gefehlt, dass er auch noch für die Kosten des Festes hätte aufkommen müssen.
Als er drei Stunden später über die Waldhöhe kam und in der Senke vor sich Felsenbronn liegen sah, hielt er seinen Wagen an und stieg aus. Er fröstelte ein wenig. Es war Mitte April, aber der Winter hatte sich in diesem Jahr lange und zäh gehalten. Und auch jetzt war es für die Jahreszeit zu kalt, obwohl die Sonne schien und der Himmel sich klar, blau und wolkenlos über die Landschaft spannte. Der alte Stadtkern bildete das Zentrum Felsenbronns....
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