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Mit der Vision der Optimierung des Menschen und dem wissenschaftlichen Fortschritt entwickelten sich im 19. Jahrhundert Diskurse, wonach man durch medizinische Verfahren Krankheiten präventiv eindämmen wollte. Insbesondere durch die Machtübernahme der Nationalsozialisten radikalisierte sich dieses Gedankengut weiter und führte letztendlich zu Massenverbrechen wie Zwangssterilisationen und Ermordungen im Rahmen der »Euthanasie«. Dies hatte eine Entindividualisierung und Stigmatisierung der Betroffenen zur Folge, die bis in die Nachkriegszeit hinein wirkte.
Die nationalsozialistische Zwangssterilisation und »Euthanasie« beruhte vor allem auf der Tradition des rassenhygienischen und eugenischen Denkens, das sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ausbreitete und in Deutschland Anfang des 20. Jahrhunderts, insbesondere nach dem Verlust des ersten Weltkriegs, zunehmend radikalisierte. Während die zwangsweise Sterilisation international anerkannt war und auch in demokratischen Staaten praktiziert wurde (wenn auch nur im geringeren Ausmaß), war die systematische Erfassung, Deportation und Ermordung von Menschen mit Behinderungen bzw. Psychiatrieerfahrungen ein einmaliges Geschehen, das sich nur in Deutschland aufgrund der sich etablierenden nationalsozialistischen Diktatur und in der Folge eines Angriffskrieges durchsetzen konnte (vgl. Schmuhl 1987). In anderen Staaten wurde dies zwar diskutiert, aber nie in die Praxis umgesetzt. Die Nationalsozialisten knüpften bei der Legitimation ihres Handelns an einen historischen Diskurs an, der die Volksgesundheit, die gesteigert werden sollte, als Maxime für das medizinische Handeln ansah.
Hippokrates stellte die Heilung von Patient*innen in den Mittelpunkt, wobei durch die Behandlung Schmerzen gelindert, Krankheiten geheilt und bei Sterbenden Leid vermindert werden sollte. Seine Ideale waren die Grundlage für den Hippokratischen Eid1, der als ethischer Grundsatz allen ärztlichen Handelns weiterhin gültig ist. Seit dem 18. Jahrhundert wurden soziale Faktoren zunehmend in die medizinische Diagnostik aufgenommen. Im Rahmen der »hygienischen Revolution des medizinischen Denkens« wurde festgestellt, dass Armut und fehlende hygienische Versorgung sich negativ auf die Gesundheit der Bevölkerung auswirken. Damit ging die enge Verzahnung zwischen medizinischen und sozialstaatlichen Reformen einher, die zur Förderung des öffentlichen Gesundheitswesens führte. Mediziner*innen wie Johann Peter Frank (Begründer der Sozialmedizin) und Rudolph Virchow verknüpften Forderungen nach sozialen Reformen mit dem medizinischen Handeln. Führende Staatstheoretiker etablierten eine Wohlfahrtspolitik, die die Medizin als eine Aufgabe der staatlichen Verwaltung definierte. Politische (soziale) Reformen sollten der Steigerung der Gesundheit des gesamten Volkes dienen (vgl. Labisch 2001: 71ff). Diese Entwicklung ging mit zahlreichen medizinischen Erfolgen einher wie beispielsweise den Errungenschaften von Robert Koch auf dem Gebiet der Bakteriologie (Entwicklung eines Heilverfahrens gegen Tuberkulose) und Emil Behring im Bereich der Behandlung von Diphterie. Durch diese medizinischen Fortschritte erhöhte sich die Lebenserwartung der Menschen. Die sozialen Faktoren rückten dann aber verstärkt in den Fokus der Medizin, da sich die Industrialisierung zunehmend negativ auf die Gesundheit der Arbeiter*innen auswirkte. Neben einer rein medizinischen Behandlung wurde im Sinne einer sich auf das gesamte Individuum berufenden Betrachtung auch der soziale Faktor stärker berücksichtigt. Die Überlebenschancen in den niedrigeren sozialen Schichten stiegen, das wurde von einigen Ärzt*innen kritisch beobachtet, weil sie die Gefahr der Abnahme von Leistungsfähigkeit innerhalb der Gesellschaft sahen. Parallel wurde die Vision einer Medizin forciert, die jede Erkrankung heilen könne. Dafür wurden zunehmend die Maßnahmen der Rassenhygiene benutzt, die Erbkrankheiten eindämmen und präventiv verhindern sollten (vgl. Baader 2001: 278f). Mit der stärkeren Ausrichtung der Medizin auf die Gesundheit der gesamten Bevölkerung wurde auch die Soziologie als Bezugswissenschaft eingeführt. Es wurde sich zunehmend an dem »Volkskörper« orientiert, der von Krankheiten reingehalten werden sollte. Im Konzept des therapeutischen Idealismus wurde mittels medizinischer Verfahren versucht, Krankheiten systematisch zu bekämpfen, um die Gesellschaft von ihnen zu befreien. Auf der einen Seite wurde die Verbesserung der medizinischen Versorgung gefordert, auf der anderen Seite wurde der Ausschluss der angeblich erblich Kranken forciert. Dieser Dualismus aus »Heilen und Vernichten« prägte die Diskussionen in der Medizin vor, während und bedingt auch nach dem zweiten Weltkrieg (vgl. Dörner 2001: 336).
Neben der hygienischen Revolution wurden auch durch die Evolutionsbiologie maßgebende Impulse in den wissenschaftlichen Diskurs eingebracht. Nach der Theorie Darwins findet eine Auslese in der Natur statt, bei der die überlebensfähigen Arten sich durchsetzen. Seine Thesen, die er zunächst nur auf Pflanzen anwendete, übertrug er später auch auf den Menschen, indem er feststellte, dass der Mensch vom Affen abstamme und somit auch Teil der biologischen Evolution sei. Seine Theorie wurde für die Begründung einer Selektionspolitik herangezogen (vgl. Nowak 1978: 11ff). Insbesondere in seinem Spätwerk verweist Darwin auf die Evolution innerhalb der Menschen, die zu einer Steigerung der Qualität der Erbanlage führe (vgl. Weber 2023: 26ff). Bereits in der Antike kamen Forderungen nach einer vorzeitigen Beendigung des Lebens auf, diese waren jedoch nicht mehrheitsfähig. Erst durch die Rassenhygieniker*innen, die in der mit dem medizinischen und sozialen Fortschritt einhergehenden Verlängerung der Lebenserwartung eine Gefahr für die natürliche Evolution sahen, wurden diese Überlegungen insbesondere im 19. Jahrhundert wieder aufgenommen. Es wurde argumentiert, dass durch die sozialmedizinischen Errungenschaften die natürliche Auslese verhindert würde und es zu einer Gegenauslese käme. Gepaart mit einer befürchteten überproportionalen Vermehrung der erblich »Minderwertigen« wurde eine Verschlechterung des Genpools befürchtet. Die Eugenik, die Techniken zur Steigerung der Erbanlagen beinhaltet, entstand ausgehend von der Überlegung Francis Galtons, ein Neffe von Darwin, als Element der Rassenhygiene. Sie war Teil des Sozialdarwinismus, der den darwinischen Überlebenskampf auf die Menschen übertrug (vgl. Friedlander 1997: 34). In seiner Eugenik propagierte Galton, dass Kranke, Schwache und Gewohnheitskriminelle eine genetische Disposition haben, die ursächlich für die unerwünschten Eigenschaften sei. Durch Vererbung dieser Gene werde das gesamte menschliche Erbgut geschädigt. Aus diesen Überlegungen heraus folgerte er die Notwendigkeit, Träger*innen dieser Merkmale abzusondern und deren Fortpflanzung und somit die Weitergabe ihrer »kranken« Erbanlagen zu verhindern. Der britische Naturforscher Galton wurde auch in Deutschland rezipiert. 1891 veröffentlichte Wilhelm Schallmayer die erste rassenhygienische Studie in Deutschland. In ihr wurde die Vervollkommnung des Menschen in Aussicht gestellt. Auch er beschrieb die Gefahr des medizinischen Fortschritts, der insbesondere die Leben der Schwachen und »minderwertigen« Existenzen verlängern würde. Um diesem Prozess entgegenzuwirken, forderte er die Aufklärung der Bevölkerung über Vererbung sowie den Ausschluss »erblich Belasteter« bei der Eheschließung (vgl. Tümmers 2011: 21). Der Arzt und Mitbegründer der Rassenhygiene Alfred Plötz teilte dieses Argument ebenfalls. Um der »Degeneration« etwas entgegenzusetzen, wollte er die Rassenhygiene als eine zentrale Wissenschaft etablieren und institutionalisieren, hierfür wollte er Lehrstühle für Rassenhygiene schaffen und sie in die medizinische Ausbildung integrieren. Er vertrat die These, dass der Schutz der Minderwertigen auf dem Rücken der Förderung der Wertvollen stattfände und als »Humanitätsduselei« abzulehnen sei (vgl. ebd.: 22ff). Um die Ideen der Rassenhygiene zu forcieren, gründete er zunächst die deutsche Gesellschaft für Rassenhygiene und später die Internationale Gesellschaft für Rassenhygiene. Insbesondere in der deutschen Gesellschaft für Rassenhygiene wurde sowohl die Überlegenheit der erblich Gesunden als auch die der nordischen »Rasse« propagiert.
Neben der nationalistisch-völkisch geprägten Bewegung wurde die Rassenhygiene auch in anderen sozialen Milieus diskutiert. In den Kirchen, in der Sozialdemokratie (vor allem von dem Arzt Alfred Grotjahns) und der Reformpsychiatrie wurden negative eugenische Maßnahmen ebenfalls forciert (siehe Kapitel 2.5; 3.6. 4.4.vgl. Hörnig 2023: 24ff). Insbesondere in der nationalsozialistischen eugenischen Bewegung wurde an die Arbeiten des französischen Schriftstellers und Diplomaten Joseph Arthur de Gobineau angeknüpft: In seiner Arbeit »Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen« beschreibt Gobineau die Überlegenheit der »nordischen Rasse« (vgl. Gobineau 1939). Er verbindet den biologischen Gedanken mit sozialen Eigenschaften und stellt die These auf, dass die Geschichte der Menschheit von der Ungleichheit der »Rassen« abhängig ist und mit dieser erklärt werden kann. Durch die Vermischung der überlegenen »arischen Rasse« mit anderen werde diese geschwächt und die menschliche Entwicklung verhindert (vgl. Nowak 1978: 29). Innerhalb der rassenhygienischen Bewegung entwickelte sich ein Konflikt zwischen einem völkischen Flügel (Münchner Strömung) und einem völkisch ablehnenden Flügel (Berliner Strömung). Während die...
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