Schweitzer Fachinformationen
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Es war im Jahr 1965, dass ein Kind - ich - zum ersten Mal von einer namenlosen Angst vor der Nacht gepackt wurde.
Ich denke zurück an jene regnerische Nacht, da ich im Bett lag, ein winziger Junge, nicht größer als eine Puppe. Die von der Dachtraufe herabfallenden Tropfen ließen mich die ringsumher herrschende Stille umso eindringlicher empfinden, doch auch sie verstummten allmählich, während ich friedlich einschlief. Es muss in jenem Moment zwischen Wachen und Schlafen gewesen sein, dass sich vor mir ein versteckter Pfad auftat, der erst durch ein Gehölz und dann über eine Wiese führte. Aus der Ferne vernahm ich plötzlich die Stimme einer Frau, es hörte sich an, als schluchze sie verzweifelt. Die Erinnerung an diese heiseren Schreie, die durch die gerade noch so unvergleichlich stille Nacht hallten, lässt mich selbst heute noch erbeben, wenn ich an meine Kindheit zurückdenke.
Ich sehe mich vor mir, ein Kind mit schreckgeweiteten Augen, die Konturen des Gesichts in der Dunkelheit verschwimmend. Als die Schreie der Frau kein Ende nehmen wollten, wartete ich angespannt und voller Furcht auf eine andere Stimme, die der Frau antworten und sie beruhigen würde. Heute ist mir klar, warum ich damals so in Panik geriet: Es war das Ausbleiben dieser Antwort. Nichts macht mehr Angst als solche einsamen, abgerissenen Schreie in einer endlos langen dunklen Regennacht.
Diese Szene wird in meiner Erinnerung sogleich abgelöst von einer anderen: Am hellen Tag tollen weiße Ziegenlämmer durch das grüne Gras am Ufer eines Flusses. Diese Szene tröstet hinweg über die von der vorangehenden ausgelösten Ängste. Nur wo genau ich sie erlebt habe, kann ich nicht sagen.
Es mag ein paar Tage später gewesen sein, dass ich doch noch eine Stimme hörte, die auf die Schreie der Frau reagierte. Gegen Abend - ein Gewitter war gerade vorübergezogen, aber dunkle Wolken ballten sich noch immer am Himmel wie dichter Rauch - hockte ich an dem Teich hinter dem Haus. Da sah ich einen Fremden durch die feuchte Dämmerung auf mich zukommen, einen Mann, dessen schwarze Kleidung sich hinter ihm wie eine Fahne bauschte. Als er sich näherte, glaubte ich plötzlich wieder die durchdringenden Schreie jener Frau zu hören. Schon aus der Ferne hatte der fremde Mann mich mit seinen durchbohrenden Augen angestarrt, und auch beim Näherkommen wandte er seinen Blick nicht von mir ab. Doch in dem Moment, da mich die Panik zu überwältigen drohte, bog er plötzlich auf einen Feldweg ab und entfernte sich allmählich immer weiter von mir, wobei seine schwarzen Kleider im Wind knatterten. Wenn ich jetzt, als Erwachsener, an die Vergangenheit zurückdenke, stocke ich stets an dieser Stelle und wundere mich, wieso ich damals das Rauschen des Mantels jenes Mannes als Antwort auf die Schreie der Frau in der besagten Regennacht interpretierte.
Und dann erinnere ich mich an den Vormittag, an dem ich mit einigen anderen Dorfkindern über weiche Erde und durch windgezaustes Gras tollte. Der Sonnenschein kam mir damals eher wie warme Farbe auf unseren Körpern vor und nicht wie blendendes Licht. Wir sprangen umher wie die Lämmer am Flussufer, bis wir nach einer geraumen Weile - jedenfalls kam es mir so vor - zu einem verfallenen Tempel gelangten, wo mir als Erstes mehrere riesige Spinnennetze auffielen.
Ein Junge aus dem Dorf kam uns entgegengelaufen. Noch heute erinnere ich mich, wie bleich er war und wie seine Lippen zitterten, als er uns mit den Worten empfing: »Da ist ein Toter!«
Der Leichnam lag unter den Spinnennetzen. Ich sah mit einem Blick, dass es der schwarzgekleidete Mann war, der am Abend auf mich zu gekommen war. Sosehr ich mich auch bemühe, mir meine Gefühle in jenem Augenblick ins Gedächtnis zu rufen - es gelingt mir nicht. Meine damalige Gemütsverfassung ist vollständig aus meiner Erinnerung getilgt, nur noch die bloßen Fakten sind mir gewärtig, alle heute damit verbundenen Assoziationen sind spätere Beigaben.
Der plötzliche Tod eines fremden Mannes konnte bei dem Sechsjährigen, der ich damals war, nicht mehr als leises Erstaunen auslösen, jedenfalls keine lang anhaltende Betroffenheit: Das Gesicht nach oben gewendet, lag der Mann mit geschlossenen Augen auf der feuchten Erde, ganz entspannt und friedlich. Mir fiel auf, dass seine Kleidung mit grauem Schlamm beschmutzt war, der auf dem schwarzen Stoff ein Fleckenmuster bildete, ähnlich wie das triste Grün auf einem staubigen Feldweg. Es war das erste Mal, dass ich einen Toten sah. Er wirkte auf mich, als ob er schliefe. Genau: Sterben, so schloss ich aus diesem Anblick, das ist so wie Einschlafen.
Von da an fürchtete ich mich vor nichts so sehr wie vor der Nacht. Ich sah mich am Dorfeingang stehen und stellte mir vor, wie die Dunkelheit gleich einer Flutwelle auf mich zu rollte und meine Augen, nein: alles verschlang. Lange, lange lag ich dann in der Dunkelheit und wagte nicht einzuschlafen, zumal die Stille um mich herum meine Angst nur noch mehr steigerte. Immer wieder kämpfte ich verzweifelt gegen den Schlaf an, der mich mit aller Macht zu überwältigen versuchte. Ich befürchtete, ich würde wie jener fremde Mann nie wieder aufwachen, sobald ich einmal eingeschlafen wäre. Am Ende aber war ich jedes Mal so todmüde, dass ich dennoch vom Schlaf übermannt wurde. Wachte ich dann am Morgen auf und sah das Sonnenlicht durch den Türspalt einfallen, war ich überglücklich, noch einmal mit dem Leben davongekommen zu sein.
In meiner Erinnerung an die Zeit als Sechsjähriger gibt es noch eine Szene, in der ich mich auch wieder rennen sehe. Ich erlebe aufs Neue die große Stunde der städtischen Bootswerft, deren erstes Betonboot auf dem Wasserweg bei uns in Nanmen ankam und von allen Dorfbewohnern, darunter meinem großen Bruder und mir, begrüßt werden sollte. Deshalb waren wir zum Flussufer gerannt.
Wie hell doch damals die Sonne schien! Und wie lustig das blau karierte Kopftuch meiner jungen Mutter im Herbstwind flatterte! Wie erstaunt mein kleiner Bruder auf dem Schoß der Mutter mit seinen weit aufgerissenen Äuglein um sich schaute! Und wie unbeschwert laut das Lachen meines Vaters, der barfuß auf dem Feldrain stand! Aber was hatte dieser hochgewachsene Mann in Armeeuniform hier zu schaffen? Inmitten meiner Familienangehörigen fiel er auf wie das Blatt eines Laubbaums, das vom Wind in einen Nadelwald geweht worden ist.
Das ganze Flussufer war voller Menschen, und alle redeten aufgeregt durcheinander. Mein großer Bruder zeigte mir, wie man sich zwischen den Hosenbeinen der Erwachsenen hindurchschlängelt. Endlich waren wir direkt am Wasser angelangt, reckten wie zwei Schildkröten unsere Hälse zwischen den Beinen zweier Männer hervor und schauten uns um.
Ohrenbetäubender Lärm von Gongs und Trommeln kündigte den lang erwarteten Höhepunkt an: Unter den Hochrufen der freudig erregten Menschen beiderseits des Flusses näherte sich das Betonboot. Bunte Papierfähnchen, die an langen Seilen befestigt waren, vermittelten den Eindruck, als schwebten lauter Blumen auf dem Boot über den jungen Männern - vielleicht ein Dutzend -, die aus Leibeskräften ihre Gongs und Trommeln bearbeiteten.
Ich rief meinem Bruder zu: »Woraus ist das Boot gemacht?«
Er wandte sich um und brüllte in gleicher Lautstärke: »Aus Stein!«
»Wieso sinkt es nicht?«
»Idiot!«, rief er. »Siehst du nicht die Seile?«
Wang Liqiang, der stattliche Mann in Armeeuniform, der so plötzlich aufgetaucht war, ist dafür verantwortlich, dass in meinen Erinnerungen an Nanmen eine Lücke von fünf Jahren entstand, denn er nahm mich an die Hand und bestieg mit mir einen schrill tutenden Dampfer, der uns nach einer langen Flussreise in eine Stadt namens Sundang brachte. Ich ahnte nicht, dass meine Eltern mich verschenkt hatten, dachte, es handele sich um einen interessanten Ausflug.
An jenem Tag begegneten Wang Liqiang und ich auf dem schmalen Weg meinem von allerlei Gebrechen geplagten Großvater. Er sah mich kummervoll an, doch ich fertigte ihn großspurig ab: »Ich habe jetzt keine Zeit, mit dir zu reden!«
Der Zufall wollte es, dass ich fünf Jahre später, als ich allein nach Nanmen zurückkehrte, an derselben Stelle abermals meinen Großvater traf.
Nicht lange nach meiner Heimkehr siedelte eine Familie Su aus der Stadt nach Nanmen um. Die beiden Jungen, die zur Familie gehörten, brachten an einem Sommermorgen ein rundes Tischchen nach draußen, stellten es in den Schatten eines Baumes und begannen zu frühstücken.
Im Folgenden gebe ich die Szene so wieder, wie ich sie als Zwölfjähriger damals erlebte.
Die Jungs aus der Stadt hatten Hemd und Hose aus dem Kleiderladen an, während ich kurze Hosen trug, die meine Mutter mir aus selbstgewebtem Stoff geschneidert hatte. Neben dem Teich hockend, beobachtete ich, wie sich mein vierzehn Jahre alter großer Bruder mit unserem kleinen Bruder - beide wie ich mit nacktem Oberkörper und dunkelhäutig wie die Schlammpeitzger - den neuen Nachbarskindern näherte.
Ich wusste, was sie vorhatten, denn ich hatte gehört, was der Große drüben auf dem Getreidetrockenplatz gerufen hatte: »Kommt, wir gucken mal, was die Städter zum Frühstück essen!«
Von all den vielen Kindern auf der Trockentenne war aber nur einer bereit, diesem Aufruf zu folgen: unser neunjähriger Bruder. Er trottete hinter dem Großen her, der kühn wie ein Löwe mit ausgreifenden Schritten und hocherhobenen Hauptes auf die frühstückenden Stadtjungen zuging. Die Körbe für Grünfutter, die den Brüdern am Arm hingen,...
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