Schweitzer Fachinformationen
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Oxford. Freitag, den Ersten Mai 1936, kurz vor sechs Uhr morgens.
Simon Wodehouse ging den gepflasterten Gartenweg entlang, der das klassizistische Gebäude, in dem er wohnte, mit dem mittelalterlichen Kreuzgang, dem Herzen des College, verband. Aus Rücksicht auf diejenigen, die rings um das grüne Rasengeviert noch schliefen - an diesem Morgen vermutlich nicht allzu viele -, trat er auf dem gepflasterten Weg möglichst leise auf. Plötzlich flog die Tür mit dem Schild »Chorschule« auf, und ein Mann kam herausgestürzt. Während er in fliegender Hast ein Chorhemd überwarf, fiel ihm ein ganzer Schwung Papiere aus der Hand.
»Darf ich, Francis?« Simon bückte sich nach den Notenblättern, die auf der Erde verstreut lagen.
»Danke, Simon. Jaja, Eile mit Weile, ein wahrer Spruch. Ich bin doch fürwahr nicht zum ersten Mal bei diesem Spektakel dabei, da sollte man wirklich meinen, dass ich besser vorbereitet wäre. Auch wenn man an meiner Zurechnungsfähigkeit zweifeln könnte, dass ich mich immer wieder breitschlagen lasse, im Morgengrauen auf einen Turm zu klettern, um einen Chor zu dirigieren, der die aufgehende Sonne begrüßt.«
»Ach, hier haben wir doch alle einen kleinen Spleen, Francis.«
»Da hast du auch wieder recht.«
Nachdem die Noten eingesammelt waren und sich der Chorleiter die Kleidung gerichtet hatte, gingen die Männer zusammen weiter. Nach wenigen Schritten wurden sie von einem Studenten überholt, der im Vorbeilaufen versuchte, seine Krawatte zu binden. Er grinste. »Dann bin ich ja doch nicht der Letzte!«, rief er und eilte weiter in Richtung Turm.
»Nur nichts überstürzen, Mr Warner. Ich bin auch gleich da.« Francis winkte ihn weiter und drehte sich noch einmal zu Simon um. »Gehst du nach draußen?«
»Das hatte ich vor. Ich wollte es mir von der Brücke aus anhören. Aber jetzt spute dich lieber, rauf auf den Turm mit dir. Den Lauf der Sonne hält niemand auf.«
»Stimmt. Sehen wir uns beim Frühstück?«
»Vielleicht hinterher. Ich glaube, ich gehe noch eine Runde spazieren.«
»Pass auf dich auf. Heute kann es in der Stadt ganz schön wild zugehen.«
»Mach ich, Francis. Toi, toi, toi.«
Sie verabschiedeten sich mit Handschlag, dann trennten sich ihre Wege. Francis Fawsley schloss sich dem weiß gewandeten Univölkchen an, das sich vor dem Eingang des Great Tower drängte, Simon strebte zum Pförtnerhaus.
Auf der belebten High Street erwartete ihn ein Bild, das völlig anders war als das beschauliche Idyll hinter den College-Mauern. Studenten in Abendgarderobe, die die Nacht durchgefeiert hatten und zum Teil reichlich ramponiert aussahen, mischten sich mit Frühaufstehern aus der Stadt. Alles wartete darauf, dass der Chor auf dem Turm den »Hymnus Eucharisticus« anstimmte, ein Brauch, der seit Jahrhunderten am Morgen des Ersten Mai gepflegt wurde.
Noch war es windstill und kühl, obwohl der Wetterbericht einen warmen Tag verhieß. Dicht an dicht standen die Menschen auf den Straßen, und je höher die Sonne stieg, desto größer wurde die freudige Erwartung, die jedes Gähnen im Keim erstickte und den Übernächtigten den Schlaf aus den Augen trieb. Die musikalische Begrüßung des Frühlings war ein ganz besonderes Ereignis, eine schlichte Tradition, teils heidnischer, teils christlicher Natur, für deren Ursprung und Bedeutung sich wohl nur die wenigsten der Schaulustigen interessierten. Sie sahen darin allenfalls eine große Gaudi.
Nachdem Simon das Universitätsgelände verlassen hatte, musste er sich erst durch eine Menschentraube schlängeln, die den Bürgersteig blockierte. Da setzte auch schon das Glockengeläut ein. Die Turmuhren schlugen die Stunde und ließen den Lärm der Wartenden verstummen. In einiger Entfernung von den Zweier- und Dreiergrüppchen und den größeren Menschenansammlungen sprang Simon eine attraktive Frau ins Auge, ungefähr in seinem Alter und anscheinend ohne Begleitung. Zu einem maßgeschneiderten Kostüm trug sie ein locker gebundenes Kopftuch, das ihre ebenmäßigen Züge perfekt einrahmte. In ihrem ruhigen, stillen Gesicht lag etwas, das Simon nicht mehr losließ. Er betrachtete sie unauffällig, während sie ein paar Schritte ging, um sich einen günstigeren Aussichtsplatz zu suchen. Ihre Bewegungen waren anmutig, die blauen Augen ernst, die Miene unergründlich. Von den Menschenmassen um sie herum schien sie nicht das Geringste mitzubekommen. Als der letzte Glockenschlag verhallt war und der Chor das Kirchenlied aus dem siebzehnten Jahrhundert anstimmte, legten Simon und die Fremde in derselben Sekunde den Kopf in den Nacken und sahen zur Turmspitze hinauf, wo man die Sänger hinter der reich verzierten Brüstung eben noch ausmachen konnte. Während Simon gebannt lauschte, wie sich die Melodie zu voller Schönheit entfaltete, entging ihm nicht, mit welcher Faszination auch die Frau die Darbietung verfolgte. Mit der gleichen Intensität, mit der er sich auf seinen Freund Francis, den Dirigenten, konzentrierte, hing ihr Blick an den Sängern. Als das Lied verklungen war und sich die Menschen allmählich verliefen, war die Fremde plötzlich verschwunden.
Simon ließ den Blick über die breite Fassade des College-Gebäudes wandern und begrüßte die Wasserspeier, die so regelmäßig über den honigfarbenen Stein verteilt waren wie die Kommata in einem Schachtelsatz, indem er wie üblich den Hut vor ihnen zog. Die verwitterten und rußgeschwärzten, trotz allem aber ehrwürdigen alten Steingesichter betrachteten das Treiben in der High Street, manche mit grotesk verzerrter Miene, andere mit Humor, wieder andere mit einer weisen Ausstrahlung und fast unheimlich klugen Augen. Unter einem besonders edlen Haupt mit einem Laubkranz blieb er stehen und zwinkerte ihm kaum merklich zu. Das Lied »Who shall win my lady fair?« vor sich hin summend, schritt er zügig aus, in den immer sonniger werdenden Morgen hinein, College, Chor und Menschen hinter sich lassend.
Als am späteren Vormittag Würde und Strebsamkeit in den Straßen der Stadt wieder eingekehrt waren, steuerte Simon die Buchhandlung Blackwell's an. Er war nicht überrascht, dort auf eine Warteschlange zu stoßen, die auf den Bürgersteig herausquoll und sich noch ein gutes Stück entlang der Broad Street erstreckte. Eine Buchhändlerin fungierte als Ordnerin. Simon stellte sich hinten an. Es fiel auf, dass sich nicht nur Professoren mit größter Selbstverständlichkeit hinter Studenten einreihten, sondern dass sich auch große und kleine Leser bunt mischten - so beliebt war die Autorin, um derentwillen sie gekommen waren. Eloise Massie beherrschte die Kunst, Alt und Jung gleichermaßen anzusprechen.
Fast am Anfang der Schlange angekommen, beobachtete Simon zwei Kinder, die sich ihre Bücher signieren ließen. Sie waren in ein ernsthaftes Gespräch mit der Autorin vertieft, die ihnen ihre Fragen bereitwillig und ausführlich beantwortete. Das Gesicht offen und freundlich, schenkte sie dem Jungen und dem Mädchen warm lächelnd ihre ungeteilte Aufmerksamkeit.
Die Mutter der beiden stand mit ungeduldig wippender Hutfeder daneben. »Jetzt kommt, ihr zwei. Ich habe Miss Timms versprochen, dass ihr nicht zu viel vom Unterricht versäumt. Ihr müsst schließlich das Einmaleins lernen.«
Stöhnend setzten die Kinder sich in Richtung Ausgang in Bewegung, doch kaum hatte Simon sein Buch aufgeklappt und auf den Signiertisch gelegt, kam das Mädchen noch einmal zurückgeflitzt.
»Gibt es Pip tatsächlich? Kennen Sie wirklich so einen wie ihn?«
»Aber ja. Ich kenne einen, der wie Pip ist - oder früher wie Pip war«, sagte Miss Massie und warf Simon ein entschuldigendes Lächeln zu. »Doch, doch, es gibt einen Jungen wie ihn, auch wenn er jetzt schon ziemlich erwachsen ist.«
»Und hat er auch einen Hund, so wie Pip? Der hat ja seinen Captain.«
»Ja, er hat einen sehr lieben Hund, so ähnlich wie Captain.«
»Ich hätte auch gern einen Hund. Dann könnte ich auch Abenteuer erleben.«
»Spinnst du, Clara?«, fragte da ihr Bruder, der neidisch war, weil seine Schwester sich noch einmal zu der Schriftstellerin hingetraut hatte. »Abenteuer sind doch bloß was für Jungen.«
»Tatsächlich?«, sagte Miss Massie. »Das wusste ich noch gar nicht. Ich würde nämlich auch gern mal ein Abenteuer erleben.«
Der Junge verzog verächtlich das Gesicht, als Eloise seiner Schwester die Hand auf die Schulter legte. »Gibst du mir dein Buch noch mal? Ich möchte etwas ergänzen.«
Unter die Widmung »Für Clara« schrieb Eloise: »Mögen Deine Abenteuer mindestens genauso spannend sein wie die von Pip!«
»Bitte sehr.« Sie klappte das Buch zu. »Du musst nur fest daran glauben.« Sie blickte zu Simon hoch. »Entschuldigen Sie, dass ich Sie habe warten lassen.«
Er streckte ihr lächelnd die Hand entgegen. »Sie brauchen sich doch nicht zu entschuldigen, Miss Massie. Darf ich mich vorstellen? Simon Wodehouse. In Ihrem Brief meinten Sie, ich solle Sie ruhig ansprechen. Sie sehen, ich nehme Sie beim Wort. Hoffentlich störe ich nicht .«
»Ach was, ich freue mich, dass Sie gekommen sind.« Sie schlug ein. »So kann ich mich persönlich dafür bedanken, dass Sie mir unter die Arme greifen wollen. Wie Sie bestimmt wissen, ist Basil ein Pedant. Er legt Wert auf größtmögliche Genauigkeit, bis ins kleinste Detail, damit wir uns mit seiner neuen Buchreihe keine Blöße geben. Wie ich die Geschichten erzähle, bleibt natürlich mir überlassen, und auch die anderen Autorinnen und Autoren der Serie haben völlig freie Hand, aber ihm liegt viel daran, dass Experten an den Texten mitwirken und sie auch mitgestalten. Das wird er...
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