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Aber damals, mit zwölf, so um zwölf herum und danach, es gab nur das Kino, sonst nichts. Doch. Einen Ort gab es, an den ich immer gerne hin bin. Den Alten Rhein. Auch diese Flucht war aus einem Film geboren. Tarzan, der Verteidiger des Dschungels. Der Kinobesitzer hat mich darauf gebracht. Nach der letzten Vorführung habe ich ihn gefragt, wann denn wieder mit Tarzan zu rechnen sein würde. Und da meinte er, frag ihn doch selbst, soviel ich weiß, lebt der nicht weit von hier. Wozu auf einen Film warten, wenn du die Wirklichkeit vor der Tür hast, am Alten Rhein draußen, sagte er.
Und die Frau, die Taxlerin, die den Film mit mir gesehen hatte und jetzt neben mir stand, meinte, ja Heinz, das könnte sein. Beide hatten sie recht. Tarzan, wenn er je dort gewesen sein sollte, hatte den Ort zwar verlassen, aber es war doch seine Welt, in der ich jetzt war. Ein Urwald, ein Dschungel, und eben keine Kulisse, kein Film, sondern das wirkliche Leben, zu dem das Drehbuch erst noch zu schreiben sein würde.
Eine Zeit lang war ich jeden Tag dort. Diese großen Bäume. Das Dickicht. Eine einzige herrliche Wildnis, wie geschaffen für mich. Lianen, die von den Bäumen herabhingen und die ich von den Filmen her kannte. Die Affen haben die immer gefressen. Ich habe sie geraucht.
Dort habe ich schwimmen gelernt in dem Wasser. Auch wenn es geschüttet hat, war ich dort, denn da war ich ganz sicher allein. Am liebsten habe ich gebadet, wenn es gedonnert und geblitzt hat. Damit es mich im Wasser erschlägt. Das wollte ich immer. Das habe ich von ihr.
Der Alte Rhein war das Glück. Und da Tarzan nicht auftauchte, habe ich versucht, seine Rolle nach und nach zu übernehmen, so gut ich es eben vermochte. Ich bin für ihn eingesprungen. Für Lex Barker eigentlich. Es war die erste Rolle, die ich für einen anderen übernommen habe. Wie es viele Jahre zuvor ja vielleicht schon einmal der Fall war, nur dass ich es damals nicht wissen konnte, als ich für den richtigen Heinz einzuspringen hatte, nach meiner Geburt, auf dem Wickeltisch in dem Heim, als man mich meiner Mutter als ihren Heinz übergeben hat. Oder dann noch einmal bei dem Bauern, von dem sie mich weggeholt hat. Aber diesmal und jetzt wusste ich von Anfang an, dass ich der Ersatz war.
Der Alte Rhein ist mein erster Dschungel gewesen. Dort bin ich zum ersten Mal Tarzan gewesen.
Du siehst aus wie eine Nonne, hat meine Mutter immer gesagt. Damit hatte sie nicht unrecht. Oft habe ich Nonnen gespielt, oder eine Elfe im Sommernachtstraum. Du hast ein Nonnengesicht, sagte sie. Und ich wollte aussehen wie Tarzan, wie Johnny Weissmüller oder Lex Barker, zumindest in meiner Dschungelzeit am Alten Rhein war das so. Wenn eine Frau zu spielen war, am Theater, dann war ich es. Ich brauchte keinen Rock, schon das eingerahmte Gesicht hat gereicht. Meine Mutter hat das als Erste erkannt. Die hat mich deshalb immer Pfarrer genannt. Wenn sie mittelmäßig aufgelegt war, dann war ich der Herr Pfarrer.
Und doch bin ich dann später auch auf der Bühne zu Tarzan geworden. Tarzan ist mein großer Bruder und Superman mein bester Freund hieß das Stück. Geschrieben hat es ein Mensch, der mich mochte. Der Darsteller, der es spielen sollte und die ideale Besetzung gewesen wäre, war ausgefallen. Der kam dann zu mir, Heinz, mach das doch, es ist ja nur ein Kinderstück. Mach ein paar Liegestütze, ab und zu, und du bist es.
Zu der Zeit habe ich Karate gemacht, weil ich todkrank war vom Saufen. Ich war dreiunddreißig, und der Arzt hat gesagt, schließ dich der Krankenkasse an, die machen Sport, sonst lebst du nicht mehr lang. Und so landete ich in dieser Karateschule in Saarbrücken. Dort habe ich Liegestütze gemacht, bis ich zu Tarzan geworden war. Es war beeindruckend, wie Heinz Fritz mit seinen Bauchmuskeln spielte. Eine meiner besten Kritiken. Der Intendant meinte, Herr Fritz, Sie sind es nicht, aber Sie geben sich Mühe.
Wie es jetzt am Alten Rhein aussieht, in Lustenau, es ist alles anders jetzt. Auch das Kino ist nicht mehr, wie es war. Ich habe noch darin gespielt, vor drei Jahren erst. Rheinlichtspiele hieß es damals. Cinemascope, riesige Leinwand, großes Kino. Aus diesem Kino sind jetzt drei, vier kleine Kinos geworden. Ich habe es nicht mehr erkannt, als ich wiedergekommen bin.
Tarzan, der Verteidiger des Dschungels. Der Alte Rhein war nicht zu verteidigen, nicht durch mich. Lianen gibt es dort keine mehr. Am Alten Rhein, das war die schönste Zeit. Das Glück wuchs von den Bäumen herunter, und ich habe es geraucht.
Nur wenige Jahre davor sind Flüchtende dort über die Grenze gegangen. Es sind immer wieder neue gekommen, die hier über die Grenze zu kommen versuchten und als Deserteure erschossen wurden. Hier konnte man leicht über die Grenze, leicht durchs Wasser konnte man gehen, das war oft nur knöcheltief. Aber dann sind die Grenzer gekommen und haben sie umgebracht oder gestoppt.
Vom Ufer aus sieht man hinüber in die Schweiz. Eine Zeit hat die SS Juden hinübergeführt und damit Geld verdient. Etwa sechshundert Menschen hätten sie hinübergeführt, haben einige der SSler gesagt, nach dem Krieg. Also, eigentlich hätten sie ja Menschen gerettet.
In der Mitte vom Fluss war man schon in der Schweiz. Auf unserer Seite vom Fluss ging es in die Lager, nach Theresienstadt. Und fünfzig Meter von dort hätte die Freiheit begonnen oder beginnen können, denn viele von ihnen sind wieder zurückgeschickt worden. In der Schweiz hat es den Grüninger gegeben, der viele Menschen gerettet hat, verbotenerweise damals. Diepoldsau heißt die Gemeinde. Diepoldsau. In Hohenems war die Grenzschutzpolizei stationiert. Fünfzig Mann.
Von einem Fall von Fluchthilfe habe ich gehört. Ein Deutscher hatte Streitigkeiten mit seinem Hausherrn und ist dann hier über die Grenze. In Hohenems hat ihn ein Mann vierzehn Tage lang versteckt, bis er hinüberkonnte. Der Mann hat sich mit einem Grenzpolizisten zusammengetan, hat ihm eine Sense in die Hand gegeben, dem Deutschen, ist mit ihm an den Alten Rhein und hat mit ihm Feldarbeit verrichtet. Dann hat er gesagt, und jetzt lauf, schnell. Spring. Und während der Deutsche über das Wasser ist, hat er den Grenzpolizisten gerufen, der Dienst hatte an dem Tag und in der Nähe war, sodass auch der noch so tun konnte, als würde er ihm beim Mähen helfen. Und währenddessen war der andere auf und davon. Das gab es auch, Menschen, die geholfen haben und von denen man nie etwas erfahren hat. Und dass jemand auch wirklich sein Leben aufs Spiel gesetzt hat für Juden. Einige solcher Leute hat es gegeben. So wie andere, vor allem die SS, die Geld wollte und bis zu einem gewissen Zeitpunkt froh war, wenn Juden über die Grenze gegangen sind, weil sie daran verdient haben. Später dann haben sie sie nur noch vernichtet.
Lianen gibt es dort nicht mehr. Mich haben die immer beruhigt. Manchmal habe ich mir eine Schachtel Donau gekauft. Meine Mutter hat Donau geraucht. Aber ich hatte nie Geld, und die Lianen, dachte ich - wunderbar.
Ich weiß noch, wer mich darauf gebracht hat. Da gab es einen Kapuziner, am Alten Rhein draußen, Maroni hat er verkauft. Sommer wie Winter war der immer dort. Oft hat er mir eine Tüte Maroni geschenkt. Er stand da in seiner Kutte am Weg, ganz allein. Auf seine Art war er ausgestiegen. Und er sagte, irgendwie sagte er mir, ich bin dort nicht mehr klargekommen, und jetzt lebe ich mein Leben hier am Alten Rhein. Ein kleines Zelt hat er gehabt, darin hat er gelebt. Und dann, etwas später gab es auch eine kleine Überdachung, unter die man sich setzen konnte, um die Maroni zu essen.
Dieser Kapuziner hat mich auf die Lianen gebracht. Er hat die geraucht. Sag ich, was ist das? Ja, das sind Lianen. Niala. Er hat keinen Dialekt gehabt, erinnere ich mich. Irgendwie war das Hochdeutsch für mich, was er sagte. Er war, denke ich, nicht aus diesem Land.
Die Kutte, die ist mir geblieben, die schützt mich wie ein Zelt, hat er immer gesagt. Aber hin und wieder muss man eben heraus aus dem Zelt, es gibt Zeiten, da muss man auch wieder heraus.
Diesen Kapuziner habe ich erlebt, solange ich dorthin bin. Auf meinem Weg in den Dschungel bin ich an ihm vorbeigekommen. Dann hat er mir ein paar Maroni geschenkt, und ich hörte ihm zu. Und er mir. Manchmal habe ich auch bezahlt. Dann hat er gesagt, das brauchst du nicht. Wie weit er noch mit der Kirche zu tun hatte, so weit haben wir uns nicht unterhalten. Aber dass er sein Mönchsleben - dass er so weiterleben wollte, auf diese Art, das war klar. Sein Zelt stand gleich nebenan, hinter den ersten Bäumen, zum Wasser hin.
Geschichten wurden erzählt, wie die Juden durch das Wasser gegangen sind, über die Grenze, und erschossen und erschlagen worden sind. Hinter vorgehaltener Hand wurde das erzählt, und wenn man nachfragte und Genaueres wissen wollte, war doch nichts zu erfahren. Einiges habe ich gehört, aber immer nur ansatzweise und in Rätseln. Von einem habe ich gehört, der muss besonders brutal gewesen sein, ein Lustenauer, der hat einen dieser Menschen am Rohr, wohin der geflüchtet war, erschossen. Die Gegend dort heißt so, am Rohr. Ein Kanalrohr, auf dem und durch das viele Juden in die Schweiz geflüchtet sind. Ich habe nachgeforscht, wer war...
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